Auf den Einlass zu Hou Hsiao-hsiens wunderbarem A summer at grandpa’s wartend griff ich zur im Kino ausliegenden aktuellen Ausgabe von Schnitt und blätterte ein wenig. Allein der Umstand, dass es tatsächlich noch Kinos gibt, in denen alte Filme von Hou Hsiao-hsien gezeigt werden und die Schnitt ausliegt, verlieh mir in diesem Moment ein gewisses Glücksgefühl. Beim Blättern stieß ich dann zu meiner Freude auch noch auf den Artikel „Animierte Träume“, in dem Paprika und The place promised in our early days (völlig zu Recht) hoch gelobt werden. Die Autoren gehen dann auch noch kurz auf Goro Miyazakis in wenigen Tagen in Deutschland startenden Gedo Senki ein, den sie als ziemlich gewöhnlich abkanzeln, um natürlich im selben Atemzug auf das nächste Werk von Miyazaki Senior zu verweisen.
Da passierte es, im letzten Satz des Artikels: Ein kleiner, fehlender Buchstabe im Titel dieses neuen Werks ließ meine angesichts der wohlwollenden Aussagen zu einigen großartigen Animes entstandene Hochstimmung in sich zusammenfallen wie ein Soufflé! Pony on a cliff stünde nächstes Jahr zur Veröffentlichung an. Seitdem versuche ich mir einzureden, dass es sich dabei nur um einen Vertipper handelt und nicht um miese Recherche, die aus der Goldfischprinzessin Ponyo ein ordinäres Pony gemacht hat.
5 Nov
Originaltitel: Suna no onna (1964), von Hiroshi Teshigahara
Eine konzeptionell und ästhetisch faszinierende Parabel über unser subjektives Freiheitsempfinden und gesellschaftliche Zwänge. Vom früheren Dokumentarfilmer Hiroshi Teshigahara in beeindruckenden Bildern inszeniert und mit einer Oscar-Nominierung als bester Regisseur belohnt.
Ein Mann (Eiji Okada) begibt sich auf der Suche nach seltenen Insekten in eine einsame Küstengegend. Als er eine Unterkunft für die Nacht sucht, wird er von einigen Dorfbewohnern zum Haus einer allein lebenden Frau (Kyoko Kishida, die vor einem knappen Jahr verstarb) gebracht, das unter einer Klippe liegt, die er mit Hilfe einer Strickleiter hinunterklettern muss. Die Frau bewirtet ihn, und beginnt, während er sich schlafen legt, den durch jede Ritze dringenden Sand wegzuschaffen. Am nächsten Morgen muss er feststellen, dass das Haus nicht nur von der Klippe sondern auch von unüberwindbaren Dünen rundum umgeben ist und dass die Leiter entfernt wurde. Er ist gefangen.
Von der Frau erfährt er, dass er zu ihrer Unterstützung festgehalten wird, da sie alleine nicht gegen die vordringenden Dünen ankämpfen könnte, von denen auch das Dorf bedroht ist. Empört unternimmt er mehrere vergebliche Ausbruchversuche, fesselt die Frau und verweigert die Kooperation, muss jedoch einsehen, dass sie zur Versorgung auf die Dörfler angewiesen sind. So fügt er sich in sein Schicksal und nimmt resigniert den von ihm erwarteten Kampf gegen den Sand auf.
Zwischen ihm und der Frau mit den so ganz anderen Ansichten über das Leben entwickelt sich eine ausgeprägte erotische Spannung und so beginnen die beiden eine Affäre, die durch die Sehnsucht des Mannes nach Freiheit immer wieder getrübt wird. Eines Tages entdeckt er jedoch, dass sich im Boden zwischen den Dünen Wasser sammelt, das sich gewinnen lässt. Er beginnt, das Phänomen zu untersuchen und begeistert sich für die Möglichkeit, durch seine Erkenntnis das einfache Leben der Dörfler verändern zu können. Als sich ihm endlich die Möglichkeit zur Flucht bietet, erkennt er, dass sein altes Leben ihm nichts mehr zu bieten hat. Er bleibt bei der Frau in den Dünen.
Regisseur Teshigahara arbeitete als Dokumentarfilmer, bevor er Spielfilme drehte, und das merkt man Der Frau in den Dünen an: Mit fantastischen Großaufnahmen und Bildern des fast wie Wasser dahinfließenden Sandes schafft er eine gleichermaßen bezaubernde wie verstörende Atmosphäre. Dazu trägt auch die ungewöhnliche, avantgardistische Musik von Toru Takemitsu bei, die im Zusammenspiel mit den menschenleeren Landschaftsaufnahmen eine äußerst bedrückende Stimmung schaffen – vier Jahre später wurde in Planet der Affen auf ganz ähnliche Stilelemente und Effekte zurück gegriffen.
Neben den Landschaftsaufnahmen prägen den Film auch die zahlreichen extremen Nahaufnahmen der beiden Hauptdarsteller. Gerade in den Phasen der größten Verzweiflung des Mannes und der wachsenden Spannung mit der Frau verleihen diese dem Zuschauer regelrecht das Gefühl, die Charaktere wie unter einem Mikroskop zu betrachten. In ihrer außergewöhnlichen Intensität sind diese Close-ups durchaus mit denen in Sergio Leones nur wenig später entstandenen Filmen vergleichbar.
Die Frau in den Dünen ist eine faszinierende Parabel, in der sich Teshigahara gezielt der Verfremdung und Anonymisierung (die Frau ist ohne Namen, den des Mannes erfährt man erst ganz zum Schluss) bedient. Er thematisiert zum einen die Auseinandersetzung des Einzelnen mit der Gesellschaft, deren Normen und Anforderungen wie der Sand permanent und erbarmungslos durch die Ritzen des menschlichen Geistes eindringen und sein Bewusstsein und Selbstverständnis formen. Dagegen anzukämpfen erweist sich als zwecklos.
Zum anderen zeigt die Parabel einen Menschen, der scheinbar ein Leben in völliger Freiheit führt, das aber sinnentleert ist. Während des Freiheitsentzugs werden dann jedoch die Beziehung mit der Frau und insbesondere die Entdeckung der Wassergewinnung zu sinnstiftenden Elementen, die ihm letztlich wichtiger sind als die plötzlich mögliche Wiedergewinnung der Freiheit und die Rückkehr in das alte Leben. So verkehrt sich auch sein anfängliches Unverständnis, ja seine Verachtung für die einfach-monotone, scheinbar idiotische Lebensweise der Frau in die Erkenntnis, dass ihm genau dieses Leben etwas zu geben in der Lage ist, das ihm in der Stadt fehlte.
[Hinweis: Dies ist eine überarbeitete und erweiterte Fassung eines ursprünglich am 30. September 2006 veröffentlichten Beitrags.]
1 Nov
Wer? Minoru Chiaki, der heute vor 8 Jahren, am 1. November 1999, im Alter von 82 Jahren starb, war eines jener bekannten Gesichter, die immer wieder in Filmen auftauchen, deren Name aber kaum jemandem im Gedächtnis bleibt. Ein weiteres, ungleich prominenteres Beispiel wäre Ernest Borgnine. Zurück zu Chiaki, einem auf Hokkaido geborenen Studenten der Wirtschaftswissenschaften, der seine Liebe zum Theater entdeckte und auf der Bühne auch erfolgreich war. Dort wurde er von Akira Kurosawa entdeckt, der ihn überredete, Filmrollen anzunehmen.
So stand Chiaki in Kurosawas Ein streunender Hund für eine kleine Nebenrolle das erste Mal vor der Kamera und gehörte fortan zum Stammpersonal des Meisterregisseurs. Er spielte den Priester in Rashomon, einen Beamten in Ikiru, den stets gutgelaunten Samurai Heihachi in Die Sieben Samurai. Am besten in Erinnerung ist vielleicht seine Rolle als ständig Streit suchender, aber doch liebenswerter Bauer Tahei in Die verborgene Festung, eine Figur, die angeblich die Vorlage für die Droiden C3PO und R2D2 im Krieg der Sterne gewesen ist.
Nach den ersten Rollen in den Filmen Kurosawas war Chiaki dann auch vermehrt für andere Regisseure tätig und arbeitete mit so großen Namen wie Mikio Naruse, Daisuke Ito, Masaki Kobayashi, Nagisa Oshima oder Hiroshi Teshigahara. Dabei gab er oft den einfachen Mann, der für etwas Humor sorgen sollte, und die Zuschauer mit seiner sympathischen Art zwar freundlich aber bestimt an ihre eigenen Schwächen erinnerte. Jedesmal, wenn ich ihn in einem Film entdecke, huscht ein Lächeln über mein Gesicht, als wäre mir ein alter Bekannter über den Weg gelaufen.
Ein kleiner Auszug seiner über 60 Filme:
1949: Ein streunender Hund
1950: Rashomon
1951: Der Idiot
1954: Die Sieben Samurai
1956: Bushido
1958: Die verborgene Festung
1959: The Human Condition
1962: The Rebel
1966: The Face of Another
29 Okt
Eigentlich unfassbar, aber tatsächlich wahr: In bisher sechs Ausgaben der Blogschau hab ich noch mit keinem Wort ryuganji erwähnt! Aber immerhin ist dieser exzellente Insider-Blog schon seit eh und je Bestandteil der Blogroll; trotzdem höchste Zeit, ihn etwas ausführlicher vorzustellen. Neben seinen oft sehr pointierten Meinungsäußerungen zu Filmen oder Entwicklungen der japanischen Filmindustrie trumpft ryuganji vor allem immer wieder mit Übersetzungen interessanter, gut recherchierter News aus dem Japanischen auf. Seine Schwerpunkte sind definitiv das zeitgemäße japanische Kino, auch wenn er den großen Meistern sichtbar nachtrauert, sowie der Zustand der japanischen Filmindustrie. Einziges Manko: Er müsste eigentlich viel öfter schreiben!
Ganz frisch bin ich dagegen auf Nippon Cinema gestoßen, der wohl auch nur unregelmäßig postet und sich dann hauptsächlich mit Trailern beschäftigt. Aber neben einer recht umfangreichen Liste von Reviews – ausschließlich zu Filmen der letzten 10 Jahre – hat er auch noch eine hilfreichen Liste mit Links zu bieten. Da kann man auch mal ein Auge drauf haben.
28 Okt
Original: Tenku no shiro Rapyuta (1986), von Hayao Miyazaki
Dies war der erste „offizielle“ Film des 1985 gegründeten, inzwischen weltberühmten Studio Ghibli. Nausicaä aus dem Tal der Winde wurde 1984 noch unter dem Dach von Tokuma Shoten produziert, allerdings vom selben Team das dann auch das Studio Ghibli gründete, weshalb er heute auch zu den Ghibli-Filmen gezählt wird.
Das Mädchen Sheeta wird wegen eines Kristalls, den es als Medaillon trägt, sowohl von einer Bande Piraten als auch dem Geheimagenten Mushka gejagt. Auf der Flucht stürzt Sheeta aus einem Flugzeug. Der Kristall sorgt jedoch für eine weiche Landung in einem Bergarbeiterdorf, wo sie auf Pazu trifft, der verständlicherweise von dem schwebenden Mädchen sehr beeindruckt ist. Pazu, der davon träumt, die Existenz der fliegenden Stadt Laputa zu beweisen, hilft Sheeta, ihren Verfolgern zu entkommen, wobei sich die beiden bald näher kommen. Schließlich offenbart sie ihm, dass sie von Bewohnern Laputas abstammt.
Sie können die Verfolger jedoch nicht lange abschütteln und geraten in die Gefangenschaft Mushkas, der es ebenfalls auf Laputa und die überlegene Technologie der Stadt abgesehen hat. Um Sheeta zur Kooperation zu bewegen, lässt er Pazu frei, der sich der Piratenbande von Mama Dola anschließt, um gemeinsam mit ihnen Sheeta zu befreien, den Kristall zu bergen und Laputa zu finden. In einer halsbrecherischen Befreiungsaktion gelingt ihnen dies auch, doch Mushka behält den Kristall, so dass es zu einem Wettrennen nach Laputa kommt.
Das Schloss im Himmel weicht in einer Hinsicht stark von anderen Filmen Miyazakis ab: Es gibt keinen einzelnen Helden, sondern deren zwei. Die beiden Jugendlichen Sheeta und Pazu stehen absolut gleichberechtigt im Zentrum des Films, auch wenn Sheetas Charakter eine stärkere Wandlung durchläuft als Pazu. Ist ihr Auftreten anfangs noch stark durch Reaktion geprägt und ihr Handeln wenig eigenständig, gewinnt sie im Laufe der Ereignisse und besonders am Ende in der Auseinandersetzung mit Mushka an Statur und Reife, was Miyazaki wie auch bei anderen seiner Heldinnen am Ende dadurch zum Ausdruck bringt, dass sich ihre Frisur verändert (sie verliert ihre langen Zöpfe).
Im Laufe des Films wechselt die Perspektive immer wieder zwischen den beiden Hauptcharakteren, wodurch sich auch der Blick auf die anderen Akteure, besonders die Piraten von Ma Dola, stark verschiebt. Diese erweisen sich nämlich in der zweiten Hälfte des Films, nachdem sie aus Pazus Blickwinkel beleuchtet wurden, als zwar rauhe aber im Kern doch liebenswerte Bande großer Kinder. Insbesondere Ma Dola übernimmt für die beiden Jugendlichen eine Art Mutterrolle.
Auch die Wahrnehmung von Laputa und der damit verbundenen scheinbar allmächtigen Technologie ändert sich mehrmals. Zunächst ein exotisches, in Form des Kristalls Schutz versprechendes Geheimnis, wird durch das Auftauchen eines alles vernichtenden Kampfroboters die mit der Ungewissheit verbundene Bedrohung betont. Nach der Ankunft auf Laputa werden vorübergehend die friedlichen Aspekte der Stadt hervorgehoben, bevor der Missbrauch der Technologie durch den machtbesessenen, größenwahnsinnigen Mushka dann das ganze Gefahrenpotenzial vor Augen führt.
Somit reiht sich Das Schloss im Himmel in dieser Hinsicht nahtlos in die Reihe von Filmen ein, in denen sich Miyazaki kritisch mit Technologie auseinandersetzt. Noch stärker aber als in Prinzessin Mononoke, Nausicaä oder Das wandelnde Schloss weist er hier darauf hin, dass es letztlich der Mensch ist, der durch die Art der Verwendung der Technologie dieser erst einen Wert zuweist, und der kann sowohl positiv wie auch negativ sein. Insbesondere die im Vorspann angedeutete und im Hintergrund stets präsente Geschichte der technologisch so fortgeschrittenen Erbauer Laputas mahnt im Zusammenspiel mit der Problematisierung des Umgangs mit Technik vor der Hybris der Menschheit.
Natürlich ist auch das Motiv des Fliegens wieder einmal allgegenwärtig und Miyazaki ließ seiner Fantasie beim Entwerfen der absonderlichsten Fluggeräte freien Lauf. Allgegenwärtig sind in Das Schloss im Himmel natürlich auch die Wolken, die in vielen Szenen regelrecht ein Eigenleben entwickeln, mal verheißungsvoll, mal bedrohlich wirken und dann wieder Schutz versprechen.
Die Welt der Bergwerksarbeiter, die in der ersten Hälfte eine so wichtige Rolle spielt, beruht auf mehreren Besuchen Miyazakis in Wales, wo ihn der Widerstand der Kumpel gegen die unter der Thatcher-Regierung erfolgenden Minenschließungen sehr beeindruckte: „I admired the way they battled to save their way of life, just as the coal miners in Japan did. Many people of my generation see the miners as a symbol; a dying breed of fighting men.“
Das Schloss im Himmel ist wie kaum ein anderer Film Miyazakis mit Action vollgepackt und spricht damit, den Mecha-Elementen und den beiden Helden ein breites Publikum an. Zudem ist er – im Gegensatz beispielsweise zu Chihiros Reise ins Zauberland – auch recht leicht zugänglich, verzichtet auf Bezüge zum japanischen Kontext und die Botschaft ist gut verständlich. Also eher nicht das große Meisterwerk, aber ein intelligenter Film, mit dem man eigentlich nichts falsch machen kann. Wie könnte es bei Miyazaki auch anders sein!
Kinder, fangt schon mal an zu sparen, in den nächsten Monaten kommen eine Reihe von DVDs auf den Markt, die allesamt ein Muss sind:
Wie gerade gelesen bringt Criterion eine 5-DVD-Box mit frühen Filmen Akira Kurosawas raus. Enthalten sind: Der Idiot, Ein wunderschöner Sonntag, Skandal, Bilanz eines Lebens und der ganz großartige Kein Bedauern für meine Jugend. Der Preis liegt im Criterion-Shop bei 55,96 US-$, was beim gegenwärtigen Umrechnungskurs noch nicht mal 40 Euro sind! Allerdings sollte man zu diesem Spottpreis nicht den sonst üblichen Criterion-Standard erwarten. Update: Geplanter Erscheinungstermin für die Box ist der 15. Januar 2008, als Weihnachtsgeschenk ist sie also nicht mehr tauglich.
Dann hat mich Marcel freundlicherweise darauf hingewiesen, dass demnächst (genauer: am 26. November 2007) eine neue Naruse-Box von BFI erscheint, die mit Floating Clouds, When a woman ascends the stairs und Late Chrysanthemums drei seiner bekanntesten Filme enthält. Dazu gehört dann auch allerlei Bonus-Material wie Audiokommentare und ein illustriertes Booklet. Bei MovieMail liegt der Preis bei 33,99 Pfund, umgerechnet etwa 48 Euro. Im Amazon-Katalog ist die Box auch schon enthalten, dort allerdings für stolze 70 Euro.
Und zu guter Letzt hat Eureka eine ganze Reihe von Veröffentlichungen aus Kenji Mizoguchis Kanon angekündigt, bei der immer zwei Filme in einem Bundle zusammengehören. Den Anfang macht im November der Doppelpack aus Sansho the Bailiff und Gion festival music, dessen Ausstattung (neue, hochwertige Kopie, Kommentare, ein 80-seitiges Buch) vom allerfeinsten ist. Preise sind mir bisher nicht bekannt. Der weitere Fahrplan sieht dann im Februar Eine Erzählung nach Chikamatsu und The crucified woman vor, für März sind Ugetsu und Miss Oyu geplant und für April Empress Yang Kwei Fei und Street of Shame.
So, ich muss jetzt erstmal den ganzen Sabber von der Tastatur wischen… 😉
22 Okt
Mark Le Fanus 2005 erschienenes Buch Mizoguchi and Japan über Kenji Mizoguchi und dessen filmisches Schaffen ist das einzige ausschließlich Mizoguchi gewidmete, englischsprachige Buch, das derzeit auf dem Markt ist. Klar, dass ich daran nicht vorbeikam.
Umso enttäuschter war ich, als mir nach dem Lesen der ersten Seiten klar wurde, was das Buch nicht ist: Eine gut strukturierte, analysierende und nach Erkenntnisgewinn strebende Auseinandersetzung mit Mizoguchis Filmen. Mit gerade einmal knapp 200 Seiten ist es dafür auch fast schon zu dünn geraten. Jetzt könnte man meinen, dass es dann wohl eher eine Einführung ist, die einen knappen Überblick vermittelt, aber dafür nicht in die Tiefe geht. Aber auch das trifft es nicht. Ich hatte beim Lesen eher den Eindruck, dass Mizoguchi and Japan statt dessen einer Sammlung von Essays und Gedanken gleicht, die sich größtenteils mit Mizoguchis Filmen und daneben noch etwas mit der japanischen Kulturgeschichte befassen.
Le Fanu setzt bei seinen Auseinandersetzungen mit den Filmen vieles voraus, sowohl was den kulturellen Hintergrund betrifft als auch die Filme selbst. Wenn man diese selbst schon gesehen hat, liefert er reichlich Denkanstöße und Interpretationen, an denen man sich mit den eigenen Gedanken wunderbar reiben kann. So ging es mir beispielsweise bei seinen Besprechungen von Die Dame von Musashino oder Ugetsu. Ist dies nicht der der Fall, lässt das Buch den Leser ziemlich allein im Regen stehen.
Was das Lesen zudem erschwert, ist die mangelhafte Strukturierung. Zunächst werden wir kurz – all zu kurz, die japanische Filmindustrie etwa wird auf einer Seite abgehandelt – in den japanischen Kontext eingeführt, dann in die Arbeitsweise Mizoguchis. Hier wird es langsam interessant, es kommt unter anderem die lange Zusammenarbeit mit Drehbuchautor Yoshikata Yoda zur Sprache, Mizoguchis Detailbesessenheit und sein kühles Verhältnis zu seinen Schauspielern. Doch auch diesen Teil wünscht man sich deutlich ausführlicher.
So weit so sinnvoll, doch nun beginnt Le Fanu die Auseinandersetzung mit den Filmen Mizoguchis direkt mit den „Großen Drei“, Das Leben der Frau Oharu, Ugetsu und Sansho Dayu. Anstatt also dem Leser aufzuzeigen, welche Entwicklung Mizoguchi und seine Filme nahmen, die letztlich zu diesem Dreigestirn seiner bekanntesten Werke führte, ihn darauf vorzubereiten, werden wir direkt mit der Nase darauf gestoßen. In vier weiteren daran anschließenden Kapiteln werden jeweils einige thematisch verwandte Filme zusammen besprochen:
Diese sprunghafte, keinem klar erkennbaren Ordnungsschema oder einer übergeordneten Fragestellung folgende Beschäftigung mit den Filmen macht das Buch nicht nur schwer lesbar, sondern lässt auch kaum ein Bild vom großen Ganzen im Kopf des Lesers entstehen. In meinen Augen ist Mizoguchi and Japan eine vertane Chance.
Denn der Autor hat offenbar interessante Gedanken mitzuteilen und das über einen der ganz großen Filmemacher, über den bisher kaum publiziert wurde (jedenfalls außerhalb Japans). Hier hätte Le Fanu mit etwas mehr Struktur und Ausführlichkeit eine Marktlücke füllen und ein echtes Standardwerk schaffen können. Darauf muss der geschätzte Mizoguchi-Verehrer nun weiter warten und sich unterdessen damit trösten, dass trotz allem doch viel Gutes (auch wenn sich das in dieser Kritik anders anhören mag) in diesem Buch steckt.
19 Okt
Originaltitel: Ikiru (1952), von Akira Kurosawa
Von all den großartigen, mitreißenden, beeindruckenden und gedankenanstoßenden Filmen Kurosawas ist Einmal wirklich leben mir der Liebste. Kein anderes Werk konzentriert sich so auf einen Charakter, verzichtet so konsequent auf handlungsinduzierte Spannung und bringt doch so sehr auf den Punkt, worum es Kurosawa in der ersten Hälfte seiner Regiekarriere ging.
Kanji Watanabe (Takashi Shimura), Abteilungsleiter einer städtischen Beschwerdestelle, steht kurz vor der Pensionierung als er erfährt, dass er an Magenkrebs leidet und nur noch wenige Monate zu leben hat. Nach dem ersten – großartig inszenierten – Entsetzen klammert er sich an die Dinge seines Lebens, die ihm Halt geben sollen.
Doch seine Enttäuschung ist schmerzhaft und allumfassend: Seine Auszeichnungen von der Behörde erscheinen ihm beedeutunglos, ja wie Hohn. Ihm wird schmerzhaft bewusst, dass er all die Jahre als machtloses Rädchen in der Bürokratie verschwendet hat. Sein über alles geliebter Sohn kümmert sich nicht um ihn und ist nur um sein Erbe sorgt. Arbeit und Familie, die Eckpfeiler des Lebens, erweisen sich als bloße Fassade, die nun, da Watanabe auf sie angewiesen wäre, in Trümmern gehen.
Nun wendet er sich den weltlichen Freuden zu, stürzt sich ins Nachtleben, trinkt, spielt und tanzt und kann dadurch seine Einsamkeit doch nicht abschütteln. Er beginnt auch eine kurze Freundschaft mit einer früheren Mitarbeiterin, doch sie weiss nicht so recht, was sie mit dem alten Mann anfangen soll und ihm wird klar, dass er das was er sucht, nämlich eine Bestätigung für den Sinn seines Lebens, nicht durch sie finden kann.
Bei einer Begegnung der beiden in einem Cafe, in dem gerade eine Geburtstagsfeier stattfindet, erinnert sich Watanabe an einige Frauen aus einem armen Stadtviertel, die für ihre Kinder einen Spielplatz bei seiner Behörde beantragt hatten. Er beschließt, diesen Spielplatz wahr werden zu lassen und kämpft ohne Unterlass, ohne Rücksicht auf seine eigene Person und seinen Ruf gegen die Widerstände der Bürokratie, um seinem Leben doch noch einen Sinn zu geben.
An dieser Stelle bricht Kurosawa den Film in zwei Teile, die Handlung springt in die Zukunft, Watanabe ist tot. Bei seiner Beerdigung streiten die Politiker und Beamten sich darum, wem die Ehren für den Bau des Spielplatzes zustehen, die Bürokratie hat sich nicht verändert und ignoriert weiterhin die Bedürfnisse der Menschen. Aber für ein paar spielende Kinder hat Watanabe die Welt verändert. Und was das wichtigste ist, er hat durch das was er getan hat zu sich selbst und damit zum Glücklichsein gefunden. Richard Brown bezeichnete Ikiru als beispielhaften cineastischen Existenzialismus:
What it says in starkly lucid terms is that ‚life‘ is meaningless when everything is said and done; at the same time one man’s life can acquire meaning when he undertakes to perform some task which to him is meaningful. What everyone else thinks about that man’s life is utterly beside the point, even ludicrous. The meaning of life is what he commits the meaning of his life to be.
Dieser Schnitt Kurosawas war sehr gewagt und wirkt auf den Zuschauer zunächst frustrierend: Genau in dem Moment, als der Anti-Held endlich zum Helden wird, werden wir von ihm weggerissen und zu seiner Beerdigung versetzt. Doch Kurosawas waghalsiges Manöver geht auf. Nachdem wir im ersten Teil des Films die Wahrheit über Watanabe erfahren haben, ihn und seine Motivation kennengelernt haben, sehen wir ihn nun durch die Perspektive seiner Mitmenschen, seiner Kollegen und Verwandten. Sie versuchen, hinter den Grund seiner plötzlichen Verwandlung zu kommen, interpretieren und spekulieren und nähern sich nach und nach der uns bereits bekannten Wahrheit an, die dadurch nochmals bekräftigt wird.
Zugleich kommt Kurosawa damit wieder auf die bereits zu Beginn des Films vorgebrachte heftige Kritik an der Politik, den Behörden und großen Organisationen ganz generell zurück. Damit berührt er eine zweite, globale Thematik, nämlich die Kritik an der industriellen Gesellschaft, die den Menschen einer seelenlosen Bürokratie unterwirft und ihn zu bedeutungslosen Tätigkeiten verdammt.
Einmal wirklich leben ist voller unvergesslicher Szenen, brillanter Szenen. Zur Eröffnung zeigt uns Kurosawa eine Röntgenaufnahme von Watanabes Magen, zu der ein Erzähler aus dem Off unmissverständlich klar macht, dass Watanabe nur noch wenige Monate zu leben hat. Dann sehen wir Watanabe selbst, zusammengekauert hinter seinem Schreibtisch, mechanisch Papiere wälzend, und hören den Erzähler sagen, dass Watanabe eigentlich bereits seit 20 Jahren tot ist.
Absolut genial auch, wie Kurosawa die Beziehung Watanabes zu seinem Sohn und die ganze Geschichte dieser Beziehung in wenigen Minuten zusammenfasst und die Bedeutung der Liebe Watanabes zu seinem Sohn herausstreicht. Als sein Sohn nach ihm ruft, huscht ein Glanz über sein Gesicht, er springt freudig auf und wird dann doch nur ermahnt, die Tür abzuschließen. Mitanzusehen, wie Watanabe von seinem Sohn, für den er sich jahrzehntelang aufopferte, dann in einer einzigen Sekunde in die Bedeutungslosigkeit gestoßen wird, das ist ein Moment von so schlichter und doch überwältigender Emotionalität wie es ihn kaum in einem andern Film Kurosawas gibt.
Ganz wunderbar auch die Sterbeszene Watanabes, der im Schneegestöber auf einer Schaukel „seines“ Parks sitzend, leise traurige Lieder vor sich hin singt und dabei endlich glücklich ist. Der Friede der eingeschneiten Natur wird hier zum Seelenfrieden.
Ich könnte noch seitenweise eine brillante Szene nach der anderen aufzählen, aber diesen Film muss man einfach selbst gesehen haben. Vor allem muss man auch die fantastische Leistung Takashi Shimuras herausstreichen und bewundern, der mit seiner Interpretation der Rolle des Kanji Watanabe (die stark von den ursprünglichen Vorstellungen Kurosawas abwich) eine Ikone des Weltkinos schuf. Ein ganz großer Klassiker!
[Hinweis: Dies ist die stark erweiterte und ergänzte Version eines ursprünglich am 24. September 2006 veröffentlichten Beitrags.]