4 Feb
Wie keinem anderen gelingt es Mikio Naruse (1905-1969) in seinen Filmen das Leben mit all seinen Sorgen, Nöten und enttäuschten Hoffnungen, aber auch mit all den kleinen und großen Freuden des Alltags ehrlich, ungeschminkt und mit ganz viel Liebe zum Detail einzufangen.
Das war mein Eindruck, nachdem ich alle sechs in Hamburg gezeigten Naruses gesehen habe. Mir ist klar, dass es vermessen wäre, einen Regisseur, der 90 Filme gedreht hat, anhand von sechs Filmen zu beurteilen. Noch dazu, wenn alle diese Filme aus derselben Schaffensphase, nämlich der nach 1951, stammen. Zu gerne hätte ich auch Vorkriegsfilme gesehen, insbesondere Wife! Be like a rose, einer der ersten japanischen Filme, die im Westen aufgeführt wurden, oder vielleicht auch den einen oder anderen aus seiner angeblichen – von Alexander Jacoby bestrittenen – Schaffenskrise von 1936-51.
Dennoch glaube ich, dass die gesehenen Filme und was ich bisher zu Naruse gelesen und gehört haben, einige typische Merkmale seiner Filme deutlich machen. Dazu gehört, dass sich die Geschichte um eine Frau, in vielen Fällen um eine Witwe, dreht. Es gibt keine eigentliche Handlung, keinen Plot im klassischen Sinne, die Geschichte entwickelt sich ganz aus den handelnden Charakteren, ihren Beziehungen zueinander und den (alltäglichen) Problemen, mit denen sie konfrontiert sind. Ein entscheidender Unterschied zu den Filmen Kenji Mizoguchis, zu denen ansonsten viele thematische Parallelen bestehen.
Naruses Frauen (in den späteren Filmen häufig gespielt von Setsuko Hara und seiner Lieblingsdarstellerin Hideko Takamine) sehen sich immer mehreren Konflikten gleichzeitig ausgesetzt. Neben dem Kampf ums Überleben – die Geschichten spielen fast immer in einem ärmlichen Milieu und Geldsorgen sind allgegenwärtig – sind das Verpflichtungen gegenüber der Familie, Erwartungen auf Grund sozialer Normen und immer wieder Beziehungssorgen und unerfüllte Liebe.
Außer im Falle von „Yearning“ fand ich die Filme trotz all der Probleme und unerfüllten Hoffnungen aber nicht pessimistisch oder hoffnungslos, wie oft zu lesen ist. Das lag daran, dass Naruse es in herausragender Weise versteht, verschiedene Handlungsebenen miteinander zu verweben und eine ganze Reihe von Personen (oft verschiedene Familienmitglieder) in die Geschichte einzubeziehen und deren Geschichten mitzuerzählen. Diese zeigen dann oft neue Perspektiven oder Auswege auf, so dass die Hauptfigur vielleicht in einer Sackgasse endet, aber am Beispiel der einen oder anderen Nebenfigur gezeigt wird, dass das Leben mehr bieten kann (etwa in „Summer Clouds“ oder „When a Woman ascends the stairs“).
Dabei gelingt es Naruse immer, direkt ins Leben hineinzugreifen. Das waren für mich oft die schönsten Momente, wenn er mit winzigkleinen Details liebevoll die Persönlichkeit eines Charakters gestaltet und ausformt.
Im Gegensatz zu seinen bekannteren Kollegen Ozu oder Mizoguchi hat Naruse keinen bestimmten visuellen Stil. Aber es gibt bei seinen Filmen eine ganze Reihe von Motiven, die immer wieder an entscheidenden Stellen auftauchen. Die Eröffnungssequenzen beispielsweise zeigen fast immer Straßen, und zwar die verwinkelten engen Gassen des alten Japans sowie die daran angrenzenden kleinen, oft schäbigen Holzhäuser. Die Schlussszenen bestehen häufig aus einer oder zwei Personen, die eine Straße entlanggehen. Überhaupt finden wichtige, richtungsweisende und Beziehungen prägende Gespräche oft unter freiem Himmel statt, auf Brücken oder in Parks, wenn die Charaktere gewissermaßen ihren alltäglichen Sorgen für einen Moment enthoben sind und sich über die wichtigen Dinge im Leben klar werden können.
Von den sechs Filmen die ich gesehen habe, sind „Mother“ und „When a woman ascends the stairs“ meine Favoriten, beides sind großartige Filme die jeder Cineast gesehen haben sollte. Auch die anderen vier waren wirklich gut! Ich bin kein einziges Mal enttäuscht aus dem Kino gekommen und kann jedem, der die Gelegenheit hat, einen Naruse zu sehen, wärmstens empfehlen, diese wahrzunehmen! Ich werde in der nächsten Zeit die sechs gesehenen Filme noch einzeln besprechen.
3 Kommentare for "Mikio Naruse und das wahre Leben"
Hallo Klaus,
vorerst ein großes Kompliment an deine hier verrichtete Arbeit – ein wirklich netter Blog, den du da erstellt hast.
Ich bin ebenfalls großer Fan des japanischen Kinos – speziell des früheren. Mein Lieblingsregisseur ist, mit Abstand, Yasujiro Ozu. Von 21 bisher gesehenen Filmen hat mich bis dato kein einziger enttäuscht – eher das Gegenteil ist der Fall. Zudem hat Ozu meine „Art Filme zu sehen“ vor ca. einem Jahr völlig auf den Kopf gestellt.
April/Mai diesen Jahres findet im Deutschen Filmmuseum, hier in Frankfurt/M., eine Mikio Naruse-Retrospektive statt (vermtl. 22 Filme). Ich kann es kaum abwarten und werde versuchen, so viele Vorstellungen wie nur möglich „mitzunehmen“ – zumal die Chance dazu gegeben ist, da das ganze über zwei Monate hinweg verteilt ist.
Bisher konnte ich nur drei seiner Filme sehen: „Repast“, „Sound of the Mountain“ und „Flowing“ (allesamt in einer Ende letzten Jahres erschienenen, ausgezeichneten DVD-Box enthalten). „Repast“ konnte mich bisher am meisten beeindrucken, wobei die anderen beiden beinahe gleichermaßen großartige Filme sind. Ende diesen Monats erscheint in den USA auch „When a Woman Ascends the Stairs“ auf DVD – ein weiterer Pflichtkauf.
Der von dir angesprochene Pessimismus, der, will man den Worten einiger Kritiker Glauben schenken, in seinen Werken zu finden sei, v.a. zum Ende hin, ist meiner Ansicht nach ebenfalls fraglich. Das Ende von „Repast“ bspw. stellt ein Happy End dar, welches für den ein oder anderen aus heutiger Sicht vielleicht nur relativ schwer glaubwürdig erscheint, das meiner Meinung nach aber keine derartigen – pessimistischen – Anzeichen aufweist. (Ãœbrigens, der Schriftsteller Yasunari Kawabata schrieb eben dieses Ende, sodass Naruse seinen Film machen konnte – Fumiko Hayashi kam nämlich nicht mehr dazu, ihr Schriftstück eigenhändig fertigzustellen, da sie kurz zuvor den Folgen einer Krankheit erlag.)
Gruß,
Claus
Hi Claus,
und danke für die Blumen! 🙂
Von den 22 (Neid!) Filmen solltest du dir möglichst keinen entgehen lassen, ich wünschte ich hätte die Möglichkeit, die auch anzuschauen. Naja, vielleicht klappt es ja, ich werde voraussichtlich Ende April auf dem NipponConnection Festival sein… vielleicht hab ich Glück und es lässt sich auch ein Naruse noch dazwischen schieben.
Das Ende von Repast sehe ich ähnlich wie du, aber ich muss schon zugeben, dass die späten Filme wie „When a Woman Ascends the Stairs“ oder „Yearning“ eine sehr viel bitterere Athmosphäre ausstrahlen als beispielsweise „Repast“ oder „Mother“. Von Hoffnungslosigkeit zu sprechen, wie die wohl auch von dir gemeinten Kritiker, halte ich aber trotzdem für maßlos übertrieben.
[…] hätte Flavor of Green Tea over Rice über weite Strecken auch gut von einem Mikio Naruse sein können (wenn dieser wohl auch eher Taeko statt Mokichi in die “Opferrolle” […]
Hier kommt deine Meinung rein: