Viel habe ich über diese Anime-Serie nachgedacht, zweimal habe ich sie mir angesehen, und doch ist es unglaublich schwer, sie zusammenzufassen, auf ihre wesentlichen Bestandteile und die Kernaussagen herunterzubrechen. Genau das war ja auch der Grund, warum ich mich gleich in einer fünfteiligen Artikelreihe dem Phänomen Neon Genesis Evangelion gewidmet habe. Und das ist noch keineswegs der Schlusspunkt, denn es gibt da ja noch einen Film, und weitere sind im Anmarsch.

Fünf Artikel, in denen ich mich mit den wichtigsten Charakteren beschäftigt habe. Ganz außen vor blieben dabei (offensichtlich für jeden, der die Serie kennt) nicht nur eine Reihe von Nebenfiguren, die in einzelnen Episoden durchaus von zentraler Bedeutung sind, wie etwa Misatos Liebhaber Kaji oder Shinjis Schulkameraden.

Vor allem aber habe ich die eigentliche Handlung komplett links liegen lassen: Kein Wort zu den Engeln, die der Prophezeiung eines sagenumwobenen antiken Dokuments zufolge die Vernichtung der Menschheit herbeiführen und dem verzweifelten Kampf, den Shinji und die anderen gegen diese Bedrohung führen. Auch die aus der Prophezeiung erwachsenden mythologischen Aspekte sowie die Science-Fiction-Elemente blieben unerwähnt. Ebenso die Verschwörungen und Rivalitäten zwischen den verschiedenen Organisationen, welche den Kampf gegen die Engel vorantreiben und organisieren (neben den fiktiven SEELE und NERV wären da vor allem die Vereinten Nationen zu erwähnen).

Mir ging es hier ausschließlich um die Charaktere, ihre Probleme und Ängste, ihre Vergangenheit und ihre Beziehungen zueinander. Denn um diese geht es eigentlich in Neon Genesis Evangelion. Die Kampfszenen, die immer wieder an die biblische Symbolik angelehnte Bildsprache und Mythologie (sowie die daran anknüpfenden wilden Interpretationsversuche) und all das ganze Ballyhoo außenrum, ist zwar wunderbar anzusehen, immer wieder spannend, manchmal (sehr) verwirrend, aber letztlich nur der Honig, der die Fans auf den Leim führen soll. Im eigentlichen Zentrum der Serie stehen so Langweiler-Themen wie die Familie, das Erwachsenwerden und wie sich beide gegenseitig beeinflussen.

Vier Zusammenhänge weisen auf die zentrale Bedeutung der Familie hin:

  1. Alle Hauptcharaktere stammen aus schwierigen familiären Verhältnissen und haben – unter teilweise hochgradig traumatischen Umständen – Eltern verloren.
  2. Shinji als die Hauptperson, deren Schicksal die Serie folgt, wird zu einem großen Teil über die zerstörte Beziehung zu seinem Vater definiert.
  3. Die Entstehung einer Art Ersatzfamilie mit Shinji und Misato als Kern und Asuka als Kontrastpunkt, die es allen dreien zumindest phasenweise ermöglicht, besser mit ihren Problemen umzugehen, die aber letztlich an der Unfähigkeit aller scheitert, echte menschliche Bindungen einzugehen.
  4. Die direkte Verbindung, die immer wieder zwischen den psychischen Problemen der Akteure und ihren schwierigen Familienverhältnissen hergestellt wird.

Besonders der letzte Punkt rückt nun die Verbindung zum Erwachsenwerden in den Vordergrund. Denn die traumatischen familiären Erlebnisse (sei es der Selbstmord der Mutter bei Asuka, das Verlassenwerden durch den Vater bei Shinji) liegen in der frühen Kindheit, die Piloten selbst stehen mit 14 Jahren nun am Übergang zum Erwachsenwerden. An den in der Serie präsenten Erwachsenen wird aber deutlich gezeigt, wie sehr diese unter ihren eigenen, ähnlich gelagerten Kindheits- und Jugenderlebnissen leiden und durch diese geprägt werden.

Die zentrale Frage, die über den Kindern schwebt, ist also: Können sie ihre familiären Altlasten im Zuge des eigenen Erwachsenwerdens so verarbeiten, dass es ihnen gelingt, die daraus resultierenden Komplexe, Ängste und die Unfähigkeit zu zwischenmenschlichen Beziehungen zu überwinden? Oder bleibt es bei einer reinen Verdrängung (besonders von Asuka praktiziert), die letztlich aber dazu führen muss, dass ihre Persönlichkeitsentwicklung leidet, ihr Charakter sich verbiegt, und am Ende doch alles wieder hervor bricht (wie bei Misato)? Besonders die bereits im Erwachsenen-Post besprochenen Parallelen von Asuka und Misato lassen diesen Zusammenhang klar hervortreten.

Wie diese Frage zu beantworten ist, bleibt – wie eigentlich alles in NGE – ein Stück weit offen. Die Original-Serie endet zwar mit einem Shinji, der scheinbar den Schlüssel zur Überwindung seiner Probleme und den Weg zum Glücklichsein gefunden hat: Die Erkenntnis, dass zwischen Realität und Wahrheit die Selbstperzeption steht, die letztlich darüber entscheidet, welches Bild von sich selbst als wahr empfunden wird. Ob aber allein diese Erkenntnis schon die Lösung aller Probleme sein kann?

Symbole der Beschwernis des Wegs zum Erwachsensein und zur Entwicklung einer gesunden Persönlichkeit sind in NGE, und hier kommen wir zum wahrscheinlich gewagtesten Teil meiner Interpretation, die EVAs selbst. Für mich stehen diese oft unverständlichen, von Geheimnissen umgebenen, zugleich aber mit großer Macht ausgestatteten Monstren für den sich in der Pubertät verändernden, voller Geheimnisse steckenden Körper, der sich manchmal nur schwer beherrschen lässt (siehe die wiederholten Andeutungen in der Serie auf so rätselhafte Vorgänge wie Menstruation und Erektion), zugleich aber fantastische neue Möglichkeiten bietet.

Im Mittelpunkt des Umgangs der Kinder mit diesen fremdartigen Körpern, in die sie im wahrsten Sinne des Wortes hineingesteckt werden, steht denn auch die „Synchronisierung“. In einem mehr oder weniger langwierigen Lernprozess müssen sie ihre Gedanken und Gefühle mit den EVAs synchronisieren, sie auf die neue Umgebung abstimmen. Damit schließt sich dann der Kreis zur oben erwähnten Überwindung von Ängsten und Unsicherheit mittels einer veränderten Selbstwahrnehmung: Denn sind Denken und Gefühlswelt erst einmal mit den neuartigen körperlichen Gegebenheiten „synchronisiert“, ergibt sich die neue Perspektive auf die eigene Person ganz von selbst. Und die alten Probleme werden auf einmal unbedeutend und obsolet.

Damit komme ich zum Ende meiner persönlichen Verarbeitung dieser außergewöhnlichen Serie, die gerade deshalb so außergewöhnlich ist, weil sie so viel unserer Fantasie überlässt und dadurch Auslegungen und Interpretationen Tür und Tor öffnet. Weshalb ich mich natürlich auch gern mit anderslautenden Ansichten in den Kommentaren auseinandersetze. In diesem Sinne:

Thankyou to my father
Goodbye to my mother
And to all the readers…
Congratulations!

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