16 Sep
Original: Kagirinaki hodo (1934) von Mikio Naruse
Die mir vorliegende Fassung hat leider keine Tonspur, was zwar nicht so furchtbar ist, da es sich um einen Stummfilm handelt. Aber ich fand es doch sehr schade, weil ich überaus gespannt war, welche Musik zum Einsatz kommen würde. Außerdem schien es mir, als fehlte eine Szene gegen Ende des Films, der Übergang war an einer Stelle merkwürdig abrupt. Somit steht die folgende Rezension unter einem gewissen Vorbehalt. Die mir bereits zuvor aufgefallene stilistische Experimentierfreude des jungen Naruse wurde aber eindrucksvoll bestätigt, dazu gleich mehr.
Im Zentrum des Films steht Sugiko (Setsuko Shinobu), Kellnerin in einem kleinen Restaurant in der Ginza. Sie und ihr Geliebter wollen heiraten, obwohl seine Familie für ihn eine Hochzeit arrangiert hat. Auf dem Weg zu einem Treffen wird Sugiko von einem Auto angefahren und vom Besitzer des Wagens, Hiroshi (Hikaru Yamanuchi), ins Krankenhaus gebracht, wo dieser sich in Sugiko verliebt. Ihr Verlobter, der sie in dem Auto mit einem fremden Mann sah, kehrt enttäuscht zu seiner Familie zurück und bläst die Hochzeit ab.
Dafür wird sie nun von Hiroshi umworben, Sohn einer angesehenen, reichen Familie. Obwohl diese die aus einfachen Verhältnissen stammende Sugiko ablehnt, heiraten die beiden, im Vertrauen darauf, dass ihre Liebe alle Hindernisse überwinden werde. Doch die permanente Spannung zwischen Sugiko und ihrer Schwiegermutter sowie ihrer Schwägerin vergiftet die Ehe. Als Hiroshi zu trinken beginnt und der Konflikt eskaliert, reist Sugiko zu ihrem Bruder. Dort erreicht sie die Nachricht, dass Hiroshi bei einem Autounfall schwer verletzt wurde. Sie macht sich auf, um ihn zu besuchen und seine Familie zu konfrontieren.
Dieser „Showdown“ zwischen der liebenswerten, hochanständigen und aufrechten Sugiko und ihrer hochmütigen, kalten Schwiegermutter sowie der intriganten, hochnäsigen Schwester, denen beiden der Name der Familie über alles geht, besteht aus einer Abfolge absolut bemerkenswerter Schnitte. Während des Gesprächs der drei (das hauptsächlich Sugiko und die Schwiegermutter bestreiten) schneidet Naruse mit fast jeder neuen Einstellung über die Handlungsachse hinweg. Diese massive Verletzung des Continuity Editing führt dazu, dass Personen scheinbar im Raum springen, im Hintergrund plötzlich andere Personen auftauchen (eine Krankenschwester und ein Freund der Familie) und die Hauptakteure mal von vorne, dann wieder von hinten oder aus anderen, verschiedensten Blickwinkeln zu sehen sind.
Da die Schnitte zudem erstaunlich schnell erfolgen, wirkt die eigentlich statische Gesprächsszene dadurch sehr dynamisch, man muss sich regelrecht konzentrieren, um den Personen über die Schnitte hinweg folgen zu können. Damit erhöht Naruse die Spannung der Szene erheblich und überträgt die emotionale Aufgewühltheit der Charaktere exzellent auf den Zuschauer.
Nur wenig später folgt eine ebenfalls sehr ausdrucksstarke Passage: Sugiko wird zunächst frontal gezeigt, dann im Profil von links und rechts, wobei sie jeweils einen Schritt nach vorn, ins Bild hinein macht. Dabei wirkt sie sehr entschlossen und selbstsicher, als hätte sie eben eine wichtige Entscheidung getroffen, von der sie absolut überzeugt ist. Schließlich läuft sie schnell auf die Kamera zu.
Am Ende des Films ist Hiroshi gestorben und Sugiko in ihr altes Leben als Kellnerin zurückgekehrt. Wir sehen sie gedankenversunken in ihrer Uniform am Straßenrand stehen, der Dinge harrend, die das Schicksal noch für sie bereithält. Durch die zuvor gezeigte Einstellung, in der sie als selbstbewusste, willensstarke und durchsetzungsfähige Frau etabliert wurde, ist aber klar, dass sie ihr Leben so oder so meistern wird.
Neben den bereits beschriebenen Achsensprüngen überraschte mich Naruse noch mit anderen Stilmitteln, die mir aus seinen späteren Filmen nicht bekannt waren. Dazu gehören insbesondere zahlreiche sehr schnell geschnittene Szenen (Sugikos Unfall, Hiroshis Unfall, Szenen aus Ginza am Ende) sowie Reißschwenks. Die Innovationsfreude des jungen Naruse, die sich bereits in Wife! Be like a rose! angedeutet hatte, wird durch Street without End also eindrucksvoll bestätigt und wirft ein ganz neues Licht auf den Regisseur.
Davon abgesehen ist Street without End in vieler Hinsicht ein direkter Vorgänger späterer Filme wie Summer Clouds, When a Woman ascends the Stairs oder Yearning, in denen er die Suche von Frauen nach Erfüllung und Glück thematisiert, die schließlich an Konventionen, Traditionen, sozialen Gegensätzen, familiären Zwängen und schwachen Männern scheitern. Dass der Film von seiner Thematik her so eng mit den späten Filmen verwandt ist, aber stilistisch ganz andere Wege geht, macht ihn für mich zum vielleicht interessantesten Film Naruses, den ich bisher gesehen habe. Dafür fehlt ihm die Brillanz, mit der in den späteren Werken verschiedene Handlungsstränge miteinander verwoben und zu einem großen Ganzen zusammengefügt werden, sowie die Vielschichtigkeit und Balance der Charaktere.
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