7 Jun
Original: Subete wa umi ni naru (2009) von Akane Yamada
Selbst in unserer emanzipierten Gesellschaft gibt es noch ein paar Jobs, die bis heute Männerdomänen geblieben sind. Dazu gehört auch der des Regisseurs, so dass es meist eine besondere Erwähnung wert ist, wenn sich mal eine Frau auf den Regiestuhl setzt. Schade eigentlich. Woran das wohl liegen mag, dass sich Frauen bis heute so schwer damit tun? Liegt es vielleicht am hohen Druck in der Filmindustrie? Aber ich schweife ab. All to the sea ist jedenfalls einer dieser wenigen Filme, die von einer Frau gedreht wurden und wenn ich mich nicht irre ist es sogar der erste, den ich hier vorstelle.
Die Geschichte dreht sich um Natsuki (Eriko Sato), die in einer Buchhandlung für die Literaturecke zuständig ist und dort mit besonderer Freude Bücher rund um die Liebe präsentiert. Das macht sie so gut, dass ein Verlagsagent auf sie aufmerksam wird und sie Rezensionen zur Vermarktung neuer Bücher schreiben lässt. Nebenbei gehen die beiden auch noch miteinander ins Bett.
Doch dann macht Natsuki einen folgenschweren Fehler: Sie unterstellt einer Kundin ungerechtfertigterweise Ladendiebstahl, worauf sie und ihr Chef die Kundin zuhause besuchen, um sich zu entschuldigen. Dort treffen die beiden auf eine völlig kaputte Familie, deren Vater auf Schmerzensgeld drängt. Kurz darauf taucht der Sohn Koji (Yuya Yagira) jedoch bei Natsuki im Laden auf, entschuldigt sich für seinen Vater und beichtet, dass seine Mutter zwanghaft stehle. Natsuki ist vom Mut und der Aufrichtigkeit des Jungen beeindruckt und die beiden kommen sich schnell näher.
Regisseurin Yamada, die hier ihren eigenen Roman verfilmte, erzählt eigentlich gleich mehrere Geschichten in einer. Dazu gehört, dass die beiden Hauptcharaktere mit großem Einfühlungsvermögen und vielen kleinen Details ausgestaltet und von den beiden Darstellern wunderbar zum Leben erweckt werden. So erzählen beide ihre eigene Geschichte, die bei Koji viel mit den Schwierigkeiten eines Außenseiters in der Schule und bei Natsuki mit dem Verwechseln von Liebe mit Sex zu tun hat.
Was die beiden verbindet ist ihre Einsamkeit, deren Überwindung das zentrale Thema das Films darstellt. Zunächst führt dieses Thema die beiden zusammen, sie sehen sich selbst im jeweils anderen, machen sich gegenseitig Mut und bauen so ihre Freundschaft auf. Dann müssen sie jedoch erkennen, dass sie unterschiedliche Wege beim Umgang mit der Einsamkeit gehen, was ihre Freundschaft auf eine harte Probe stellt.
Eine weitere zentrale Rolle spielt im Film der Literaturbetrieb, verkörpert in der Figur des Agenten. Dieser wird als oberflächlich, egozentrisch und allein am materiellen Erfolg orientiert dargestellt und schreckt nicht davor zurück, aus Marketinggründen einen verzweifelten Autor dazu zu bringen, das Ende seines Buches zu ändern. Die Parallelen zum Filmbusiness sind nicht zu übersehen, so dass sich Yamadas Kritik fast eins zu eins übertragen lässt. Sie selbst bleibt jedoch standhaft und verpasst All to the sea ein unerwartetes, unkonventionelles und offenes Ende.
Für mich war dieser Film ein absolutes Highlight beim JFFH2010! Er widmet sich zwar sehr ernsten Themen, wird dabei aber nie verkopft, ganz im Gegenteil sind immer wieder lustig-skurrile Momente eingestreut. Anspruchsvolle Unterhaltung vom Feinsten!
5 Kommentare for "All to the sea"
Sehr schöne Review, macht Lust. Hätte „All to the Sea“ gerne gesehen, leider war das einer der Programm-Punkte, wo mir eine Entscheidung besonders weh tat; hatte mich letztendlich doch für den gleichzeitig laufenden „Tsuji Kirihito“ entschieden, welcher es aber auch wert war. Ich halte mal die Daumen gedrückt für ein untertiteltes DVD-Release …
Mal wieder eine fundierte Kritik von dir, war ja auch nicht anders zu erwarten.
Wie ich schon schrieb gehört „All to the sea“ auch für mich zu den absoluten Höhepunkten des JFFH 2010. Mit einer Woche abstand relativiert sich für mich aber dennoch ein wenig die zunächst unreflektierte Begeisterung. Auf der Habenseite hat der Film natürlich seine guten Darsteller, die routinierte Eleganz der Kameraarbeit, seine witzige Figurenkonstellation und zahlreiche schräg inszenierte Drehbucheinfälle. Vor allem der spezielle Humor steigert den Unterhaltungswert des Filmes enorm. Neben viel Licht gibt es aber auch Schatten. Das Drehbuch fußt ja auf einem Roman der Regisseurin. Bei der Adaptierung viel es der Autorin offenbar schwer die Vielschichtigkeit der eigenen literarischen Vorlage auf einen roten Faden für die Verfilmung einzudampfen. Zu viele Storyelemente werden angerissen und nicht weiter verfolgt oder gar angemessen vertieft, enden im Nichts (z.B. das schwierige Eltern-Sohn Verhältnis, die Kleptomanie der Mutter, der despotische Familienvater, die Schülerprostitution). Eine Reduzierung auf weniger besser ausgearbeitete Details, z.B. den unstillbaren Liebeshunger der Heldin, das aussichtslose Jagen einer idealisierten Vorstellung von Liebe, den erbarmungslos kapitalistischen Literaturbetrieb, das Schülermobbing, hätte „All to the sea“ als Film sicher gut getan. Das Drehbuch verzettelt sich letztlich in zu vielen erzählerischen Motiven und Themen, als dass „All to the sea“ mich als eigenständige Verfilmung voll und ganz überzeugen könnte. Hier wird die Herkunft der Regisseurin aus der Literatur überdeutlich.
Nun gut, das hört sich vielleicht insgesamt zu negativ an und ich mäkele hier kleinlich an rein subjektiv empfundenen Details herum. Insbesondere deshalb, da mir “All to the sea“ unter dem Strich wirklich gefallen hat.
Eine andere Sache die mir in diesem Zusammenhang auffällt, ist das (wie auch hier) im japanischen Film immer wiederkehrende Motiv des Ozeans. Vor allem als Endpunkt einer Reise, als Zielpunkt der Protagonisten, erscheint das Meer in sturer Regelmäßigkeit auf der Leinwand. Mal dient es als Metapher für Unendlichkeit, dann als Ort der Reinigung/Katharsis oder verkörpert die achselzuckende Gleichgültigkeit der Natur gegenüber den komplexbeladenen Menschen. Mir fallen auf Anhieb Ozus „Tokyo Story“, Shindos „Die Insel“, Kitanos „Hana-Bi“, Aoyamas „Eureka“ (habe ich erst am Wochenende auf DVD genossen) ein. Wenn man bösartig wäre, könnte man dieses filmische Motiv also als ein klein wenig „ausgelutscht“ bezeichnen.
Natürlich krankt nicht nur der japanische Film daran, sondern auch das übrige Weltkino nutzt den Ozean als symbolüberfrachtete Metapher immer und immer wieder. Als Ikone des Films ist das Meer aber auch ein einfach zu verlockendes und wuchtiges visuelles Gleichnis, das tief in das Unterbewusstsein von uns Menschen eingebrannt scheint.
„All to the sea“ weiß um diese filmgeschichtliche Vorbelastung ganz genau und instrumentalisiert das Klischee geschickt für seine eigenen Ziele. Zweimal taucht der Ozean auf, das erste Mal als verkitschtes „Postermotiv“ in einer Liebeschnulze, das zweite Mal als nüchterner sinnentleerter Hintergrund, der sich der Publikumserwartung auf das erwartete Happy End entzieht.
Viele Grüße
Marald
Alexander, dem Film wäre wirklich zu wünschen, dass auch auf internationalen Märkten DVDs herauskommen. Ich bin da allerdings sehr skeptisch. Naja, erstmal abwarten und Tee trinken!
Marald, ich sehe deinen Punkt, der Film reisst wirklich eine große Bandbreite von Themen an. Allerdings hatte ich nicht das Gefühl, dass er sich dabei verzettelt. Der rote Faden (Umgang mit bzw. Ãœberwidnung von Einsamkeit) blieb für mich eigentlich immer erkennbar. Die Sache mit der Schulmädchenprostitution wurde in meinen Augen auch stark durch die Fragerunde mit der Regisseurin aufgebläht, denn im Film taucht das Thema ja nur einmal ganz kurz in der Romanfigur auf (deren Name ich vergessen habe, dieses Mädchen, das am Ende an Aids stirbt, Kotori?). Und gerade das Motiv rund um den Literaturbetrieb fand ich eigentlich sehr gut und rund ausgearbeitet, mit dem Gespräch zwischen Natsuki und dem Schriftsteller als Höhepunkt, der ihr sowohl im Bezug auf die Industrie als auch über die beteiligten Personen als Augenöffner dient – nur dass sie sich dann willentlich entschließt, die Augen wieder zuzudrücken.
Was die Rolle des Meers angeht: Interessante Beobachtung! Ich habe gerade am Wochenende mal wieder Hana-bi gesehen, daher passt das sehr gut und es gibt tatsächlich zahlreiche Filme, in denen das Meer eine wichtige, z.T. symbolische Rolle spielt und in denen ganz bewusst mit diesem Symbol gearbeitet wird. Kitano ist dafür das Paradebeispiel. Generell würde ich das aber nicht überbewerten, denn du musst eines bedenken: Japan ist ein aus einer Vielzahl von Inseln bestehendes Land. Fast die gesamte Bevölkerung lebt in einem nur ein paar Kilometer breiten Streifen entlang der Küste (Kyoto und Nagoya sind so ziemlich die einzigen Großstädte, auf die das nicht zutrifft). Das Meer ist somit im Leben vieler Menschen nichts besonderes sondern normaler Bestandteil des Alltags. Hierzulande kann man sich sowas gar nicht vorstellen, selbst hier in Hamburg ist die Küste ja noch eine Autostunde entfernt! Daher ist es in meinen Augen nur normal, dass das Meer regelmäßig in Filmen auftaucht, und sei es nur als schön anzusehender Hintergrund.
Ich sehe durchaus den vorhandenen „roten Faden“, wie z.B. der von dir genannte Konflikt zwischen dem Autoren und dem kapitalistisch orientierten Verleger oder der Liebeshunger der Heldin, der nymphomanische Züge annimmt. Neben diesen Hauptthemen gibt es aber zuviel Beiwerk, das vom eigentlichen Kern der Handlung ablenkt, ohne wirkliche nachhaltige Impulse zu setzen. Das gestörte Vater-Sohn-Verhältnis Kojis z.B. hätte deutlich mehr Aufmerksamkeit benötigt, um sich entfalten zu können. Der Film will hier zuviel auf einmal. Weniger noch stärker ausgearbeitete Themen/Motive wären da einfach mehr gewesen.
Wie das besser geht zeigen mir regelmäßig die großen Klassiker. Heute habe ich nach längerer Zeit wieder mal Naruses „When a Woman Ascends the Stairs“ gesehen. Von dieser schnörkellosen Eleganz könnte sich das moderne japanische Kino eine Menge abschauen.
Viele Grüße
Marald
1terrifying
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