18 Apr
Original: Tony Takitani (2004) von Jun Ichikawa
Die Mutter früh verstorben, der Vater ein ständig durch die Lande reisenden Jazzmusiker, ein merkwürdig-fremd klingender Name: Tony Takitani (Issei Ogata) war es von Kindheit an gewohnt, einsam zu sein. Etwas anderes hat er nie kennengelernt, und er vermisst auch nichts, sondern geht ganz in seiner Arbeit als technischer Illustrator und Designer auf, mit der er sehr erfolgreich ist. Das ändert sich schlagartig, als Eiko (Rie Miyazawa) in sein Leben tritt und die beiden wenig später heiraten.
Tony liebt Eiko über alles und er kann sich nicht vorstellen, wieder allein und ohne sie zu sein. Doch ganz ungetrübt ist das Glück der beiden nicht, denn Eikos Begeisterung für schöne Kleider wird immer mehr zu einer Obsession, und zwar einer sehr teuren. Als Tony sie eines Abends darauf anspricht, setzt er eine tragische Kette von Ereignissen in Gang: Eiko kommt bei einem Verkehrsunfall ums Leben und Tony lernt zum ersten Mal den Schmerz der Einsamkeit kennen, zu dessen Verarbeitung er einen verblüffenden Plan entwickelt.
Tony Takitani basiert auf der gleichnamigen Kurzgeschichte von Haruki Murakami und ist nicht nur eine sehr treue Adaption der Story und der Charaktere, sondern setzt auch konzeptionell neue Maßstäbe was zum Thema „Literaturverfilmung“ möglich ist. Große Teile der Geschichte erfahren wir von einem Erzähler, der teilweise wortwörtlich aus Murakamis Kurzgeschichte vorliest, wobei manchmal vom Erzähler begonnene Sätze von den Schauspielern beendet werden. Das ist meist dann der Fall, wenn diese Sätze starke Emotionen und Gedanken der Charaktere in Worte fassen und eine besondere Bedeutung haben. Ein solches „vor die Kamera bringen“ einer literarischen Vorlage ist mir bisher noch in keinem anderen Film begegnet!
Aber auch ästhetisch hat Jun Ichikawa ein außergewöhnliches, geniales Mittel herangezogen, um den Bezug zur Literatur filmisch auszudrücken: Der ganze Film ist geprägt von langsamen Kamerafahrten, bei denen die Kamera von links nach rechts an der gezeigten Szene „vorbeigleitet“, bis die Charaktere links aus dem Bildausschnitt verschwinden und so die nächste Szene eingeleitet wird. Diese Bewegung gibt dem Film nicht nur einen gleichmäßigen, bedächtigen Rhythmus, sie erinnert auch stark an das Blättern von Seiten in einem Buch.
Die Einsamkeit Tonys wird in immer neuen schmerzhaft-schönen Bildern regelrecht zelebriert. Wieder und wieder sehen wir Tony dabei allein, ganz in sich und seine Arbeit versunken, meist gegen den Himmel. Zusammen mit dem langsamen Dahinfließen und der betörend-melancholischen Klaviermusik von Oscar-Preisträger Ryuichi Sakamoto wird der Film so zu einer regelrechten Manifestation der Einsamkeit.
Wobei Einsamkeit hier aber durchaus differenziert betrachtet und keineswegs pauschal als etwas Schlechtes gesehen wird. Zu Beginn wird beispielsweise gezeigt, wie Tonys Drang nach Selbständigkeit und Unabhängigkeit, also durchaus positiv belegte und begrüßenswerte Eigenschaften, zu seiner Einsamkeit beitrugen. Auch die Bilder des bis tief in die Nacht hinein ganz in seine Arbeit versunken über den Tisch gebeugt sitzenden Tony zeugen nicht nur von Einsamkeit, sondern auch von Energie und einer großen Liebe zum Zeichnen. Erst nach Eikos Tod sehen wir Tony offensichtlich bar jeder Eingebung, Begeisterung und Energie wie ein Häuflein Elend in seinen Schreibtischstuhl gesunken.
Wie meisterlich Regisseur Ichikawa es schafft, ohne große Worte oder Gesten und nur mit einfachsten filmischen Mitteln die Gefühlswelt und das Empfinden seiner Charaktere zum Ausdruck zu bringen, zeigt eine kleine, unscheinbare Szene in einem Supermarkt. Tony hat Eiko gerade seinen Antrag gemacht und wartet nun auf ihre Antwort, für die sie sich etwas Bedenkzeit erbeten hat. Äußerlich ist er völlig ruhig, ihm ist nichts anzumerken, wie er seinen Einkaufswagen vor sich herschiebt. Da fällt im Hintergrund plötzlich ohne menschliches Zutun eine Pyramide aus feinsäuberlich und ordentlich aufgestapelten Orangen auseinander – Sinnbild für Tonys geordnete und stabile Welt, die durch Eiko auf magische Weise durcheinander und aus dem Gleichgewicht gekommen ist.
Solche Symbole und Bilder finden sich immer wieder eingestreut, ich denke etwa an den Kaktus oder das zerbrechende Glas in der Bar sowie die Einschübe von Bildern sich im Wind wiegender Bäume und Sträucher, oder von rauchenden Schloten – ähnlich Ozu. Sehr schön in Szene gesetzt ist auch der außer Kontrolle geratende Shoppingwahn Eikos in einer Sequenz von aneinandergeschnittenen Einstellungen, in denen wir nur ihre Beine sehen, wie sie in immer neuen Schuhen rastlos von Geschäft zu Geschäft eilt.
Der generelle minimalistische Look des Films wird ergänzt durch die Dominanz grau-beiger Töne und ein körnig, oft verwaschen wirkendes Bild (wobei ich mir nicht ganz sicher bin, ob das nicht auch an der wenig überzeugenden DVD gelegen haben könnte) und erzeugt zusammen mit der Klaviermusik eine einzigartige Atmosphäre, der man sich einfach nicht entziehen kann. Allein um dieser Atmosphäre und seiner Bilder wegen – ganz abgesehen von den Themen und Charakteren – ist Tony Takitani schon absolut sehenswert!
Unter visuellen Aspekten passt hier wirklich alles perfekt zueinander. Jede Einstellung, jede Szene ist bis ins kleinste durchkomponiert, geprägt von einem selbst für japanische Filme außergewöhnlichen Minimalismus, und stellt für sich genommen schon fast ein eigenständiges Kunstwerk dar.
Anders als so manche Übung in filmischer Ästhetik der letzten Jahre erschöpft sich Tony Takitani aber nicht in visuellen Motiven, Symbolen oder Effekten allein sondern hat vielmehr spannende und hochaktuelle Themen zu bieten, die natürlich aus der Kurzgeschichte Murakamis stammen. Vereinsamung und Selbstgenügsamkeit in der postindustriellen, hochspezialisierten und -technisierten Welt sowie der zunehmende Verlust der Fähigkeit, menschliche Bindungen aufzubauen und wertzuschätzen, dafür steht Tony.
Auf der anderen Seite problematisiert Eikos Charakter den verzweifelten Versuch, ein schwer fassbares Minderwertigkeitsgefühl, eine empfundene innere Leere und die Suche nach dem Sinn des Lebens durch Konsum auszugleichen. Selbstdefinition und Selbstverwirklichung durch Konsum, das ist ihre Welt, die in eine schwere Krise gerät als Tony, nicht ahnend was er anrichtet, diese Haltung kritisch hinterfragt. Die Klärung der Frage „brauchst du das alles überhaupt?“ ist angesichts der Suche nach einem nachhaltigen Lebensstil von zentraler Bedeutung für die Zukunft unserer Gesellschaft und unseres Planeten. Zugleich müssen wir Wege finden, uns von den Dingen zu lösen, mit denen wir uns umgeben und über die wir uns oft auch definieren.
Für Tony war die konsequente Trennung von allen materiellen Erinnerungen an die beiden einzigen Menschen in seinem Leben, die ihm etwas bedeutet haben, die logische Konsequenz: Eikos Kleider verkauft er ebenso an einen Second-Hand-Laden wie nach dem Tod seines Vaters dessen Schallplatten. Gleichzeitig gelingt es ihm aber nicht, die entstandene Leere mit etwas anderem, einem menschlichen, immateriellen Element zu füllen, obwohl sich ihm die Chance bot aus diesem selbstgeschaffenen Gefängnis der Einsamkeit auszubrechen.
Für den einen oder anderen mag Tony Takitani auf Grund seines langsamen Rhythmus und der vielen Off-Erzählungen eher langweilig wirken, für mich ist er schlicht einer der besten Filme des vergangenen Jahrzehnts. Die literarische Vorlage Haruki Murakamis wurde von Regisseur Ichikawa genial aufgegriffen und filmisch umgesetzt. Entstanden ist dabei mit einfachsten Mitteln geradezu ein stilistisches Monument, das man als Cineast einfach gesehen haben muss. Mehr gibts dazu nicht mehr zu sagen.
2 Kommentare for "Tony Takitani"
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2octagonal
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