3 Jan
Original: Ikimono no kiroku (1955) von Akira Kurosawa
Der Zahnarzt Harada (Takashi Shimura) ist nebenbei im örtlichen Gericht als Berater in Familienstreitfällen tätig. Eines Tages wird er zu einer höchst ungewöhnlichen Anhörung gerufen: Die Familie des Unternehmers Nakajima (Toshiro Mifune) möchte diesen für unzurechnungsfähig erklären lassen, weil dieser, getrieben von Angst vor der atomaren Verstrahlung, allerlei aberwitzige Pläne verfolgt. So hat er bereits begonnen, einen unterirdischen Schutzbunker bauen zu lassen und will nun die gesamte Familie nach Brasilien emigrieren, wo er bereits eine Plantage gefunden hat.
Während Harada beeindruckt von der Sorge und dem Durchsetzungswillen des alten Patriarchen seine eigene Haltung zu einem möglichen Atomkrieg hinterfragt, bricht in der Familie Nakajima ein übles Hauen und Stechen aus. Denn der Alte bleibt nicht nur stocksteif bei seinem Plan vom Auswandern nach Brasilien. Er will neben seinen ehelichen Kindern und deren Familien gleich auch noch mehrere Geliebte und deren uneheliche Kinder mitnehmen, was die Streitigkeiten um die Zukunft und den Besitz der Familie mit allerlei Eifersüchteleien kräftig befeuert.
Bilanz eines Lebens gehört zu den größten finanziellen Flops in Kurosawas Karriere, obwohl er ein damals hochbrisantes Thema aufgriff: Bei amerikanischen Wasserstoffbombentests auf dem Bikini Atoll im Februar 1954 war der japanische Fischkutter Daigo Fukuryu Maru von radioaktivem Niederschlag kontaminiert worden, ein Seemann kam später ums Leben, zahlreiche andere erkrankten an Krebs. Dieser Vorfall löste nicht nur diplomatische Spannungen mit den USA aus, sondern auch ein gewaltiges Medienecho in Japan. Kurosawa war nicht der einzige Filmemacher, der sich des Themas annahm, sein Kollege und ehemaliger Regie-Assistent Ishiro Honda beispielsweise schuf auf Basis dieser Vorfälle Godzilla.
In der Tat weist der Film einige für Kurosawa ungewöhnliche Eigenheiten auf, so fehlt ihm beispielsweise eine starke, zentrale Heldenfigur, deren Entwicklung den Film trägt. Zwar ist Nakajima die Hauptfigur, wir Zuschauer folgen dem Geschehen aber aus Sicht des neutralen, um Nakajima und dessen Schicksal besorgten Harada. Denn Nakajima, der knallharte Familienpatriarch mit paranoiden Anwandlungen, ist als Identifikationsfigur denkbar ungeeignet.
Seine Rolle ist es vielmehr, Harada – und damit auch uns Zuschauer – zum Zweifeln zu bringen und vor die Frage zu stellen, was eigentlich verrückter ist: Angesichts einer möglichen atomaren Apokalypse vor Angst um die geliebten Angehörigen fast den Verstand zu verlieren und verzweifelt selbst nach den abstrusesten Fluchtmöglichkeiten zu suchen, oder sein Leben einfach unbehelligt weiterzuleben.
Leider fehlt es Bilanz eines Lebens auch an der sonst für Kurosawa so typischen Dynamik, die er immer virtuos in Szene zu setzen wusste. Statt Verfolgungsjagden zu Pferde oder in engen Tokyoter Gassen, statt windumtosten Duellen mit dem Schwert oder dramatischen Appellen vor Gericht bestehen die meisten Szenen aus auf Tatami herumsitzenden und sich gegenseitig Vorwürfe machenden Familienmitgliedern. Spannung will da nicht wirklich aufkommen, zumal beim westlichen Zuschauer, der diese ganzen gegenseitigen Abhängigkeiten, Loyalitätsbeziehungen und Erwartungen einer konservativen Familie im Japan der 1950er Jahre überhaupt nicht nachvollziehen kann.
Entsprechend des häuslichen, an die Familienheimstätte gebundenen Kontextes der meisten Szenen gibt es – ebenfalls untypisch für Kurosawa – auch wenig einprägsame Bilder, die im Gedächtnis bleiben. Die Kompositionen sind meist darauf ausgerichtet, ein unstetes, einengendes und bedrückendes Gefühl zu erzeugen, und arbeiten dabei mit sehr verschiedenen, teilweise sehr raffinierten Mitteln.
In den häuslichen Familienszenen laufen oft Personen im Vordergrund vorbei oder der Blick auf die Szenerie wird durch etwas anderes wie etwa Möbelstücke versperrt. Die ständig in Bewegung befindlichen Fächer unterstützen dieses Gefühl ebenfalls, und in einer Szene, in der Nakajima eine Geliebte und ihre Familie zum Auswandern zu überreden versucht, wedeln ständig die vom Luftzug bewegten Blätter eines Buches hin- und her.
Zudem taucht immer wieder das ästhetische Motiv des Gefangenseins auf, das manchmal dann auch deutlich weniger subtil unterstrichen wird, wie etwa als eine der Töchter Nakajimas an einem vergitterten Fenster rüttelt (siehe den Screenshot ganz oben), oder als Nakajima schlafend unter einem Moskitonetz gezeigt wird. Eine deutlich interessantere Variation dieses Themas ist dagegen die Verlesung des Antrags auf Unzurechnungsfähigkeit am Gericht, bei dem der Text über die Bilder gelegt wird, wobei durch die Schriftzeichen und Linien des Papiers ebenfalls eine Assoziation an Gitter, Zäune und Gefängnisse entsteht.
Typisch für Kurosawa ist hingegen der Einsatz von Wetterphänomenen und deren prägende Rolle für die Atmosphäre des Films. Ähnlich wie in Ein streunender Hund liegt die ganze Zeit eine dräuende, alles erstickende Sommerhitze über den Szenen und Charakteren, die ständig mit schweißnassen Hemden herumlaufen, sich permanent Luft zufächeln und den Schweiß aus dem Nacken wischen. Regen wie aus Kübeln und kräftige Gewitter dürfen natürlich nicht fehlen und besonders letztere tragen dazu bei, dass Nakajimas Paranoia immer verzehrender wird.
Ein Meilenstein in Kurosawas Werk ist Bilanz eines Lebens in der Hinsicht, dass es sein erster Film war, in dem konsequent mit mehreren Kameras parallel gedreht wurde. Diese aufwändige und für die Schauspieler gewöhnungsbedürftige Drehtechnik hatte der Regisseur im Jahr zuvor für die finale Regenschlacht in Die Sieben Samurai erstmals verwendet, nun kam sie permanent zum Einsatz.
Keine Anpassungsschwierigkeiten hatte dabei offenbar Toshiro Mifune, der eine grandiose Leistung als von Paranoia zerfressenen, aus Angst um seine Familie an deren Widerstand zerbrechenden Patriarchen abliefert. Wer ihn als jungen, aufgedrehten Haudrauf in Die Sieben Samurai gesehen hat, der ja nur ein Jahr zuvor gedreht wurde, wird ihn kaum wieder erkennen!
In Bilanz eines Lebens nahm sich Kurosawa eines hochbrisanten Themas an, und das auf eine für ihn ungewöhnliche Art und mit unüblichen, aber teilweise sehr raffinierten Mitteln. Allein aus diesen Gründen ist der Film interessant, doch leider kommt wegen der bedrückenden Thematik und Stimmung des Films sowie des Mangels an Dynamik sowohl der Handlung als auch der Charakterentwicklung der Unterhaltungsaspekt, der Kurosawa sonst immer so wichtig war, hier zu kurz. Ich würde zwar nicht so weit gehen wie manche Kritiker, die den Film als gescheitert betrachten, aber er gehört meiner Ansicht nach zu den schwächeren Werken des großen Regisseurs.
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