Der 14-jährige Shinji ist der einzige männliche zentrale Charakter und zugleich der Hauptcharakter in NGE. Er ist ein ziemlich schüchterner, in sich gekehrter Junge, der sich mit Hilfe seines Walkmans von der Außenwelt und seinen Mitmenschen abschließt und sich doch nach deren Anerkennung sehnt. Nach dem Tode seiner Mutter, die bei einem Experiment mit einem der EVAs starb, wurde er von seinem Vater Gendo als Kleinkind in eine Pflegefamilie abgeschoben, worunter er und die Entwicklung seiner Persönlichkeit stark litten.

Entsprechend ist ein großes Thema der Serie die zerbrochene, zwiespältige Beziehung Shinjis zu seinem Vater, der Shinji nur als Mittel zum Zweck zu gebrauchen scheint, nie für ihn da war, auch weiter unerreichbar bleibt und an einer emotionalen Beziehung nicht interessiert wirkt. Shinji dagegen schwankt zwischen der Sehnsucht nach Anerkennung durch seinen Vater und dem Hass auf denselben Vater, dem er seine schwierige Kindheit, sein nicht-existentes Selbstbewusstsein und den Tod der Mutter anlastet.

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So kommt es immer wieder zu Szenen, in denen Shinji halbherzig die Konfrontation mit seinem Vater sucht, nur um im letzten Moment vor der Auseinandersetzung mit ihm zurückzuschrecken. Anlässlich eines gemeinsamen Besuchs am Grab der Mutter scheint für einen Augenblick eine Annäherung von Vater und Sohn möglich, doch keiner der beiden ist in der Lage, seine Gefühle zu verbalisieren und es bleibt beim Austausch von Floskeln. Umgekehrt schreckt Shinji aber auch lange vor dem endgültigen Bruch mit seinem Vater zurück.

Umgekehrt wird Shinji aus der Sicht seines Vaters als eine einzige große Enttäuschung präsentiert, als ein Feigling, der vor der Pflicht, der Verantwortung, der Realität davonläuft. Das von Misstrauen und enttäuschten Erwartungen geprägte Verhältnis der beiden wird noch zusätzlich belastet durch das zwar mysteriöse, aber dem Anschein nach enge Verhältnis zwischen Gendo und Rei Ayanami, der dritten Pilotin, die in vieler Hinsicht das exakte Gegenteil Shinjis ist und nicht zuletzt deshalb von ihm bewundert aber auch beneidet wird. Denn sie erscheint wie ein Ersatz für Shinji, als das Kind, das Shinji nie sein konnte oder durfte.

Doch nicht nur sein Vater nimmt Shinji als Enttäuschung wahr, insbesondere von seiner Hassliebe Asuka (die Beziehung der beiden steht im Zentrum des Kinofilms The End of Evangelion, mehr dazu ein andermal) wird er permanent als Idiot, Versager und Weichei beschimpft. Aber auch er selbst sieht sich und seine Existenz als nutzlos und wertlos und begreift deshalb seine Funktion als Pilot eines EVA – nach anfänglicher Ablehnung – als seine große Chance, sich zu beweisen und endlich die Anerkennung von den Menschen zu erhalten, nach der er sich so sehnt. Dass Shinji dann am Ende der Serie gegen einen ihm nahestehenden Freund kämpfen und ihn töten muss, lässt plötzlich auch diese scheinbar sinnstiftende Fähigkeit, seine einzige herausragende Fähigkeit, in einem düsteren, zerstörerischen Licht erscheinen und stürzt ihn in eine tiefe Krise.

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Ein weiterer Komplex in Shinjis umfangreicher Sammlung ist sein gestörtes Verhältnis zu Frauen. Obwohl sich sein Leben hauptsächlich zwischen den drei weiblichen Hauptcharakteren Asuka, Rei und Misato abspielt und er alle drei – aus unterschiedlichen Gründen – respektiert, fast bewundert, ist er doch nicht in der Lage, sich und seine Gefühlswelt zu öffnen, sich anzuvertrauen und normale Beziehungen aufzubauen. Und das, obwohl gerade Misato wiederholt versucht, auf seine Gefühle einzugehen, ihn zu trösten, zu unterstützen und in jeder Beziehung die natürliche Ersatzmutter abgäbe.

Das Verhältnis zu den beiden gleichaltrigen Pilotinnen Rei und Asuka ist sehr viel komplexer, spielen hier doch auch sexuelle Aspekte eine gewichtige Rolle. Es gibt mehrere peinlich-anzügliche Szenen mit Rei, in denen Shinji am liebsten vor Scham im Boden versinken würde, während Rei völlig stoisch bleibt – ganz im Gegensatz zu Asuka, die in vergleichbaren Situationen schallende Ohrfeigen verteilt. So geben die beiden heranwachsenden Frauen ihm immer wieder Rätsel auf, die noch verstärkt werden durch seine eigene Unsicherheit und seine Unfähigkeit, sich über seine Gefühle klar zu werden und diese zu artikulieren.

So ist die von Ängsten getriebene, von Zweifeln zerrissene Figur des Shinji Ikari letztlich die Summe aller männlichen Makel und Ängste, gewissermaßen die verkörperte Impotenz. Dass ein solcher Charakter die Hauptperson darstellt, steht meiner Meinung nach symptomatisch für das – nicht nur in Japan – in seinen Grundfesten erschütterte Rollenschema des „modernen“ Mannes.

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