19 Jun
Ende der 1950er Jahre strotzte die japanische Filmindustrie geradezu vor Kraft, die Menschen drängten in die Kinos und kauften 1958 unglaubliche 1,127 Milliarden Eintrittskarten in fast 7500 Kinos. Japanische Filme hatten eine Reihe internationaler Preise gewonnen, inklusive des ersten Oscars – alles schien bestens.
Aber 1963, nur fünf Jahre später, hatte sich die Zahl der Kinogänge bereits mehr als halbiert, bis 1965 sank sie auf nur noch 373 Millionen, oder um insgesamt 75 Prozent. 1961 ging mit Shintoho das erste der sechs großen Studios in den Bankrott, 1971 folgte Daiei und Nikkatsu stellte im selben Jahr die Produktion neuer Spielfilme vorübergehend ein. Übrig blieben nur noch Toho, Shochiku und Toei.
Auslöser dieser Entwicklung war die zunehmende Verbreitung von Fernsehgeräten in den japanischen Haushalten, die besonders im Vorfeld der Olympischen Spiele von Tokyo 1964 stark voranschritt: Jeder wollte die Übertragungen der Wettkämpfe mitverfolgen. So stand Mitte der 1960er in 60 Prozent der Haushalte ein TV-Gerät, wer selbst keines hatte, guckte bei Verwandten, Freunden oder Nachbarn. 1970 gab es bereits 4 private und 2 öffentliche Fernsehsender und Japan war zum größten Produzenten von TV-Programmen weltweit aufgestiegen.
Die Filmstudios versuchten vergeblich, einen Anteil an dieser Entwicklung zu sichern: Sie versuchten, sich bei Sendern einzukaufen und bemühten sich, ihre Produktpalette umzustellen. Doch keinem gelang es, einen Fuß in den Fernsehmarkt zu bekommen. So überlebten die genannten drei großen Studios in erster Linie dank ihrer filmfernen Geschäftsfelder wie Freizeitparks, Immobilien oder Hotels.
Doch der Wandel der Studio-Landschaft machte sich natürlich auch bei den produzierten Filmen bemerkbar. In ihrer Verzweiflung suchten die Produzenten nach neuen Erfolgsformeln, neuen Genres und neuen Talenten. Mit Entsetzen musste beispielsweise Toei mitansehen, wie Jidai-geki-Serien im Fernsehen den zuvor so erfolgreichen chambara-Schwertkampffilmen des Studios Konkurrenz machten und an Popularität bald überholten. So suchte man nach einem neuen Setting für die alte Erfolgsformel und fand diese in der Unterwelt der Yakuza: Die Popularität dieser neuen Gangster-Filme machte den Jidai-geki endgültig den Garaus, rettete aber gleichzeitig das Studio vor dem Bankrott.
Shochiku wiederum überlebte die Siebziger fast ausschließlich dank des phänomenalen Erfolgs der Tora-san Reihe, die gerade ihr 40. Jubiläum feiert und mit 48 Teilen die am längsten laufende Filmserie der Welt ist. Toho dagegen setzte ganz auf in Serie produzierte Monsterfilme: Godzilla musste wieder und wieder antreten und erhielt im Lauf der Zeit illustre Verstärkung von Mothra oder Gamera. Nikkatsu nahm nach einiger Zeit die Filmproduktion zwar wieder auf, beschränkte sich dabei aber fast ausschließlich auf das selbst erfundene Genre des Roman poruno (pornographische Romanzen), ein Subgenre des Pink eiga. Diese Filme, die nur knapp über eine Stunde liefen und meist eine niedrige Qualität aufwiesen, machten in den 70ern etwa die Hälfte der gesamten japanischen Filmproduktion aus.
Von diesem Rückzug der großen Studios und dem Kollaps des dahinterstehenden Studiosystems mit rigiden Verträgen und genau durchplanten Karriereschritten für Filmschaffende profitierten andererseits aber unabhängige Filmschaffende. Diese konnten nun mit einfachen Mitteln experimentelle, kreative und sozialkritische Filme drehen und tatsächlich auch einem Publikum präsentieren. Viele davon, wie Nagisa Oshima, Koji Wakamatsu oder Shohei Imamura zählen heute zu den wichtigsten japanischen Regisseuren und trugen entscheidend zur Weiterentwicklung des japanischen Kinos bei.
Sie konnten jedoch den Bedeutungsverlust des Spielfilms nicht ausgleichen, und da den japanischen Produktionen auch der Weg auf den Weltmarkt verwehrt blieb, sah Joseph Anderson eine düstere Zukunft vorher:
At the bottom line in 1982, the Japanese film industry, in contrast to so many other Japanese manufacturers, had no significant foreign markets and the worst prospects at home. It had become Japan’s answer to Chrysler.
Offenbar hatte er nicht damit gerechnet, dass die Rettung und der Weg zu neuem Glanz ausgerechnet von einem Genre kommen könnte, das im Fernsehen zu großer Popularität gelangt war. Mehr davon demnächst.
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