15 Aug
Neben den drei jugendlichen Piloten gibt es noch drei spiegelbildlich aufgestellte erwachsene Charaktere, die eine wichtige Rolle in Neon Genesis Evangelion spielen: Shinjis Vater Gendo Ikari sowie Misato Katsuragi und Ritsuko Akagi, die genau wie Asuka und Rei so etwas wie gegensätzliche Pole darstellen. Von diesen drei nimmt Misato mit Abstand den größten Raum in der Serie ein, Ritsuko und Gendo spielen zwar wichtige Nebenrollen, aber eben doch nur Nebenrollen, so dass man vergleichsweise wenig über sie erfährt. Ich werde alle drei kurz (Misato ausführlicher) vorstellen und dann auf einige Gemeinsamkeiten untereinander eingehen und einen Vergleich mit den Piloten ziehen.
Misato Katsuragi:
Als taktische Offizierin kommandiert sie die Kampfeinsätze der EVAs und ist somit die direkte Vorgesetzte der drei Piloten. Da sie Shinji und Asuka nach deren Ankunft in ihrer Wohnung unterbringt, entwickelt sie sich speziell für Shinji zudem zu einer Art großer Schwester oder fast Ersatzmutter. Sie ist sehr attraktiv, verhält sich aber häufig wenig damenhaft, was Shinji öfters peinlich ist. Sie selbst ist davon gänzlich unberührt und wirkt überhaupt äußerst selbstbewusst, sowohl was ihre Arbeit bei NERV angeht als auch in ihrem Privatleben.
Dieses Selbstvertrauen wird jedoch in den späten Folgen der Serie mehrfach erschüttert, als sie zunächst eine alte Affäre mit dem undurchsichtigen Kaji wiederbelebt und dann versucht – teilweise auf Hinweis Kajis – hinter die Geheimnisse der EVAs zu kommen. Zudem erfahren wir Zuschauer, dass Misato ebenso wie die Piloten einen Elternteil (bei ihr den Vater) verloren hat und in der Folge eine schwere Kindheit verbrachte. Vor diesem Hintergrund macht sie sich selbst Vorwürfe, hinterfragt die Beziehung zu Kaji und das Bild von sich selbst, das sie anderen gegenüber geschaffen hat.
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Dass Misato ihre „dunkle“ Seite, und damit sind wohl vor allem die Aspekte ihrer Persönlichkeit gemeint, die ihr Sexualleben bestimmen, Shinji gegenüber unterdrücken will, untermauert die Mutterrolle, in der sie sich selbst ihm gegenüber sieht. Aus diesem Gegensatz erwachsen jedoch ein Rechtfertigungsdruck und große Selbstzweifel.
Damit bildet Misato gewissermaßen das erwachsene Gegenstück zu Asuka. Beide treten nach außen hin sehr selbstbewusst auf, lassen ihrer Emotionalität freien Lauf und sind nicht zuletzt attraktiv, sie unterdrücken jedoch Aspekte ihrer Persönlichkeit, die diesem Bild widersprechen könnten. Außerdem haben beide mit einem traumatischen Verlust in ihrer Kindheit zu kämpfen, dem jeweils große Strahlkraft auf die Charakterentwicklung zugeschrieben werden.
Ritsuko Akagi:
So wie Rei der Gegenpol zu Asuka ist, so verhält sich Dr. Ritsuko Akagi, die wissenschaftliche Leiterin des EVA-Projekts, zu Misato, wenn auch nicht in vergleichbar extremer Ausprägung. Generell erfährt der Zuschauer relativ wenig über Ritsuko, sie tritt zumeist nur als distanzierte, kühl berechnende und weitgehend emotionslose Wissenschaftlerin auf. Doch auch sie hatte eine schwierige Beziehung zu ihrer (verstorbenen) Mutter, in deren Fußstapfen sie gleich in mehrerer Hinsicht trat.
Zum einen setzt sie die Arbeit ihrer Mutter fort, die an den Grundlagen des EVA-Projekts arbeitete und dabei auch die gigantischen Computergehirne entwickelte und programmierte, die alles in Neo-Tokyo 3 kontrollieren. Zum anderen liebt sie den gleichen Mann wie ihre Mutter: Gendo Ikari, und das schon seit ihrer Jugend. Dass sie wie ihre Mutter ein Verhältnis mit ihm hat und diese zu deren Lebzeiten sogar um die Beziehung beneidete, macht Ritsuko zur reinsten Verkörperung des Elektrakomplexes unter all den komplexbehafteten Charakteren der Serie.
Gendo Ikari:
Shinjis hartherziger Vater ist so etwas wie die Spinne im Netz der NGE-Geheimnisse: Er ist der Leiter des gesamten EVA-Projekts und Verbindungsperson zur Geheimorganisation SEELE, zugleich verfolgt er aber im Verborgenen eigene Pläne, die nie näher umrissen werden. Es lässt sich nur vage erahnen, dass diese irgendwie mit Rei und einer geplanten evolutionären Weiterentwicklung der Menschheit zu tun haben. Zur Umsetzung seiner Pläne ist Gendo zu allem bereit und geht eiskalt vor, was ihm besonders von seinem vernachlässigten Sohn Shinji angekreidet wird.
Über Gendos Persönlichkeit erfährt der Zuschauer kaum etwas, und das wenige, das wir erfahren, stammt überwiegend aus den Erzählungen anderer Personen, insbesondere von Shinji und Rei. Als die einzige zentrale starke männliche Person in der Serie (Kaji spielt eher eine untergeordnete Nebenrolle) ist er somit für die Deutung der Serie sehr wichtig, die vielen Unbekannten machen dabei aber zugleich viele verschiedene Ansätze möglich.
Mir scheint jedoch klar, dass die Charakterisierung Gendos und seine zentrale (und mit Macht ausgestattete) Rolle in der Serie auf eine Symbolisierung der Figur des Vaters und Familienoberhaupts hinauslaufen. Er wird dieser Rolle und den damit verbundenen Anforderungen jedoch in keiner Weise gerecht, ist nur auf seine eigenen Ziele aus und ordnet diesen auch rücksichtslos die Bedürfnisse anderer Menschen, sogar die seines eigenen Sohnes, unter. Die von Gendo ausgehende Kälte und Ablehnung gegenüber Shinji ist zu einem großen Teil für dessen emotionale Probleme und psychische Instabilität verantwortlich.
Fazit:
Die Erwachsenen, zumindest die beiden Frauen, sind genauso komplexbehaftete Persönlichkeiten wie die drei Kinder, es wird sogar wiederholt deutlich, dass es familien- und erziehungsbezogene Vorkommnisse wie Verlust eines Elternteils oder Vernachlässigung waren, die für die Probleme der Erwachsenen (mit)verantwortlich sind. Dass sich diese Probleme bei Misato und Ritsuko in einer explizit sexuellen bzw. ihre Beziehungen beeinflussenden Weise äußern, ist ein bei den Kindern nur vage angedeuteter Aspekt der Probleme.
Besonders Misato und Ritsuko, die zu Beginn der Serie mit ihrem Selbstbewusstsein, ihrer Professionalität und ihrer Kompetenz wie potenzielle Vorbilder präsentiert werden, erfahren zum Ende ein komplette Dekonstruktion. Von diesen nach außen präsentierten Rollen bleibt kaum etwas erhalten, sie zerfallen komplett. Darin steckt eine heftige Kritik an der nur allzu menschlichen Taktik, sich im Laufe der Zeit bestimmte Images zurechtzulegen um entweder vor sich selbst oder anderen besser dazustehen und unangenehme Aspekte der eigenen Persönlichkeit auszublenden.
Dass diese Persönlichkeitsprobleme immer mit Erziehung und kaputten Familienverhältnissen zusammenhängen, und Gendo gewissermaßen eine idealtypische – wenn auch übersteigerte – Verkörperung des schlechten Vaters darstellt, impliziert nicht nur, dass die geschilderten Probleme der Kinder sich auf dem Weg zum Erwachsensein verfestigen. Es wird auch eine klare kausale Verbindung hergestellt und eine Wertung vorgenommen, die meiner Meinung nach der eigentliche Kern der ganzen Serie ist. Mehr dazu im letzten Teil der NGE-Reihe!
Weitere Artikel aus der NGE-Reihe:
11 Aug
Rei Ayanami ist die dritte Pilotin neben Shinji und Asuka und zugleich die undurchsichtigste Gestalt im ohnehin nebulösen NGE-Kosmos. Lange konnte ich mir überhaupt keinen Reim auf sie machen, bis ich kürzlich von einem guten Freund und Anime-Fan eine mögliche Deutung erzählt bekam, auf der aufbauend ich endlich zu einer sinnvollen (?) Interpretation gefunden habe. Danke Stefan!
Rei zeigt so gut wie nie Emotionen, ihre Gesichtszüge bleiben permanent unverändert – erst gegen Ende der Serie sieht man sie mal kurz lächeln – und ihre Stimme ist immer gleich monoton. Mit ihren Mitschülern und anderen Mitmenschen hat sie kaum Kontakt, sie ist introvertiert und wirkt auf Grund ihres neutral-distanzierten Umgangs mit anderen Menschen fast schüchtern. Sie lebt allein in einer an ein Krankenhauszimmer oder eine Gefängniszelle erinnernden kleinen Wohnung.
Über ihre Vergangenheit und ihre Herkunft werden nur vage Andeutungen gemacht, die darauf hinweisen, dass sie eine geklonte Version von Shinjis verstorbener Mutter Yui ist. In einer der letzten Folgen opfert sie sich, um Shinji zu retten, nur um wenig später in einer neuen „Kopie“ ihres Körpers, in den ihr Geist implantiert wurde, wieder aufzutauchen. Zu dieser rätselhaften Person passt, dass „rei“ im Japanischen auch „null“ bedeutet. Aber nicht nur der Zuschauer steht bezüglich Rei oft vor einem Rätsel, auch sie selbst hinterfragt wiederholt ihre Identität, den Zweck ihrer Existenz und sich selbst.
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Mit ihrer Introvertiertheit und Ausgeglichenheit ist Rei das genaue Gegenteil von Asuka, für die diese Gegensätze im Lauf der Serie immer mehr zum Anlass von Ablehnung, ja Aggressivität werden. Weil Rei kaum Gefühle zeigt und widerspruchslos Befehle akzeptiert und umsetzt, beschimpft Asuka sie häufig als seelenlose Puppe oder Roboter. Rei lässt dies völlig kalt, von ihrer Seite besteht keinerlei Interesse an Asuka, von ihrer „professionellen“ Zusammenarbeit als Piloten natürlich abgesehen.
Völlig anders entwickelt sich ihr Verhältnis zu Shinji. Der ist von der ersten Begegnung an von der geheimnisvollen Rei fasziniert, weiß aber nicht so recht, worauf diese Faszination basiert und was er damit anfangen soll. Sein Interesse an ihrer Person, seine Zuneigung und dass er sich für sie einsetzt, ihr im Kampf sogar das Leben rettet, können die Distanziertheit und Gefühlslosigkeit schließlich durchbrechen. Ihm gegenüber kann Rei erstmals Dankbarkeit, Zuneigung und so etwas wie Freundschaft entwickeln.
Diese freundschaftlich-sorgende Beziehung erhält vor dem Hintergrund, dass Rei fast so etwas wie eine Wiedergeburt von Shinjis Mutter ist, eine ganz besondere Note. Die fast übernatürliche Anziehungskraft, die sie auf ihn ausübt, wird so verständlich. Da auch sexuelle Aspekte zu dieser Anziehungskraft beitragen, wird die ohnehin komplexe Beziehung der beiden noch durch einen ödipalen Aspekt erweitert.
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Neben Reis zurückhaltendem, manchmal fast unterwürfigem Auftreten sind ihre scheinbar unzerstörbare Loyalität zu Gendo, Shinjis Vater, und die Bereitschaft, sich selbst zu Gunsten eines größeren Ziels bis zur Selbstaufgabe einzusetzen, kombiniert mit großer Willensstärke die herausragenden Eigenschaften, die ihre Person ausmachen. Damit entspricht sie in vieler Hinsicht dem klassischen japanischen Idealbild der Ehefrau.
Da sie jedoch gleichzeitig als weitgehend emotionsloser Klon präsentiert wird, immer wieder von Zweifeln bezüglich ihrer Identität und des Sinns ihres Daseins geplagt wird, erscheinen diese typischen Ideale in einem ganz anderen Licht. Verstärkt wird diese Kritik noch dadurch, dass Rei sich nach dem Tag sehnt, an dem sie wieder eins werden kann mit dem Nichts, also dem Ende ihrer Existenz. Diese tiefe Unzufriedenheit mit ihrem Leben und ihrer eigentlich von vielen klassischen Idealvorstellungen geprägten Persönlichkeit wird so zu einer beißenden Kritik an eben diesen Idealen.
Die weiteren Artikel der NGE-Reihe:
3 Aug
Der 14-jährige Shinji ist der einzige männliche zentrale Charakter und zugleich der Hauptcharakter in NGE. Er ist ein ziemlich schüchterner, in sich gekehrter Junge, der sich mit Hilfe seines Walkmans von der Außenwelt und seinen Mitmenschen abschließt und sich doch nach deren Anerkennung sehnt. Nach dem Tode seiner Mutter, die bei einem Experiment mit einem der EVAs starb, wurde er von seinem Vater Gendo als Kleinkind in eine Pflegefamilie abgeschoben, worunter er und die Entwicklung seiner Persönlichkeit stark litten.
Entsprechend ist ein großes Thema der Serie die zerbrochene, zwiespältige Beziehung Shinjis zu seinem Vater, der Shinji nur als Mittel zum Zweck zu gebrauchen scheint, nie für ihn da war, auch weiter unerreichbar bleibt und an einer emotionalen Beziehung nicht interessiert wirkt. Shinji dagegen schwankt zwischen der Sehnsucht nach Anerkennung durch seinen Vater und dem Hass auf denselben Vater, dem er seine schwierige Kindheit, sein nicht-existentes Selbstbewusstsein und den Tod der Mutter anlastet.
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So kommt es immer wieder zu Szenen, in denen Shinji halbherzig die Konfrontation mit seinem Vater sucht, nur um im letzten Moment vor der Auseinandersetzung mit ihm zurückzuschrecken. Anlässlich eines gemeinsamen Besuchs am Grab der Mutter scheint für einen Augenblick eine Annäherung von Vater und Sohn möglich, doch keiner der beiden ist in der Lage, seine Gefühle zu verbalisieren und es bleibt beim Austausch von Floskeln. Umgekehrt schreckt Shinji aber auch lange vor dem endgültigen Bruch mit seinem Vater zurück.
Umgekehrt wird Shinji aus der Sicht seines Vaters als eine einzige große Enttäuschung präsentiert, als ein Feigling, der vor der Pflicht, der Verantwortung, der Realität davonläuft. Das von Misstrauen und enttäuschten Erwartungen geprägte Verhältnis der beiden wird noch zusätzlich belastet durch das zwar mysteriöse, aber dem Anschein nach enge Verhältnis zwischen Gendo und Rei Ayanami, der dritten Pilotin, die in vieler Hinsicht das exakte Gegenteil Shinjis ist und nicht zuletzt deshalb von ihm bewundert aber auch beneidet wird. Denn sie erscheint wie ein Ersatz für Shinji, als das Kind, das Shinji nie sein konnte oder durfte.
Doch nicht nur sein Vater nimmt Shinji als Enttäuschung wahr, insbesondere von seiner Hassliebe Asuka (die Beziehung der beiden steht im Zentrum des Kinofilms The End of Evangelion, mehr dazu ein andermal) wird er permanent als Idiot, Versager und Weichei beschimpft. Aber auch er selbst sieht sich und seine Existenz als nutzlos und wertlos und begreift deshalb seine Funktion als Pilot eines EVA – nach anfänglicher Ablehnung – als seine große Chance, sich zu beweisen und endlich die Anerkennung von den Menschen zu erhalten, nach der er sich so sehnt. Dass Shinji dann am Ende der Serie gegen einen ihm nahestehenden Freund kämpfen und ihn töten muss, lässt plötzlich auch diese scheinbar sinnstiftende Fähigkeit, seine einzige herausragende Fähigkeit, in einem düsteren, zerstörerischen Licht erscheinen und stürzt ihn in eine tiefe Krise.
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Ein weiterer Komplex in Shinjis umfangreicher Sammlung ist sein gestörtes Verhältnis zu Frauen. Obwohl sich sein Leben hauptsächlich zwischen den drei weiblichen Hauptcharakteren Asuka, Rei und Misato abspielt und er alle drei – aus unterschiedlichen Gründen – respektiert, fast bewundert, ist er doch nicht in der Lage, sich und seine Gefühlswelt zu öffnen, sich anzuvertrauen und normale Beziehungen aufzubauen. Und das, obwohl gerade Misato wiederholt versucht, auf seine Gefühle einzugehen, ihn zu trösten, zu unterstützen und in jeder Beziehung die natürliche Ersatzmutter abgäbe.
Das Verhältnis zu den beiden gleichaltrigen Pilotinnen Rei und Asuka ist sehr viel komplexer, spielen hier doch auch sexuelle Aspekte eine gewichtige Rolle. Es gibt mehrere peinlich-anzügliche Szenen mit Rei, in denen Shinji am liebsten vor Scham im Boden versinken würde, während Rei völlig stoisch bleibt – ganz im Gegensatz zu Asuka, die in vergleichbaren Situationen schallende Ohrfeigen verteilt. So geben die beiden heranwachsenden Frauen ihm immer wieder Rätsel auf, die noch verstärkt werden durch seine eigene Unsicherheit und seine Unfähigkeit, sich über seine Gefühle klar zu werden und diese zu artikulieren.
So ist die von Ängsten getriebene, von Zweifeln zerrissene Figur des Shinji Ikari letztlich die Summe aller männlichen Makel und Ängste, gewissermaßen die verkörperte Impotenz. Dass ein solcher Charakter die Hauptperson darstellt, steht meiner Meinung nach symptomatisch für das – nicht nur in Japan – in seinen Grundfesten erschütterte Rollenschema des „modernen“ Mannes.
Die weiteren Artikel der NGE-Reihe:
31 Jul
Wie die anderen Piloten der EVAs – Shinji und Rei – ist auch Asuka 14 Jahre alt und hat als kleines Kind ihre Mutter verloren; ihr Vater ist Deutscher und so wuchs sie in Deutschland auf. Asuka ist hochintelligent und hat trotz ihrer Jugend bereits einen College-Abschluss – die Serien-Macher waren wohl nicht besonders mit dem deutschen Bildungssystem vertraut. Diese Intelligenz und ihre Ausnahmestellung als EVA-Pilotin befeuern noch die ohnehin hohe Meinung, die sie von sich hat.
Besonders in ihren ersten Szenen in der Serie tritt Asuka überaus selbstbewusst, arrogant, ja hochnäsig und herablassend anderen gegenüber auf sowie als hochemotionales Energiebündel, passend zu ihrem feuerroten Haarschopf. Ihre anfänglichen Erfolge im Kampf mit den Engeln, ihre dabei bewiesene Aggressivität und ihre Kampfkraft scheinen fast selbstverständlich auf eine Position als natürliche Anführerin der Piloten hinauszulaufen. Doch die Fassade der Überlegenheit und Stärke bekommt Risse, als sie eine erste Niederlage im Kampf einstecken muss und Shinji, mit dem sie eine Hassliebe vom Allerfeinsten pflegt, bessere Testresultate erzielt.
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Im Ausschnitt werden (abgesehen von der bemerkenswerten Experimentierfreude der Serienmacher – wer zeigt schon 50 Sekunden Schweigen in einem Aufzug?!) neben Arroganz und Hochnäsigkeit weitere Schattenseiten Asukas offensichtlich: Immer wieder tendiert sie zu Aggressivität anderen gegenüber um von eigenen Schwächen oder Fehlern abzulenken oder diese zu entschuldigen. Zudem ist sie unfähig, sich in den Dienst einer Sache zu stellen und sieht den Zweck ihrer Funktion als Pilotin allein darin, der Welt zu zeigen, wie großartig sie selbst ist.
Die Aufrechterhaltung des sorgsam konstruierten und den Mitmenschen präsentierten Selbstbildes gerät in den späteren Folgen zunehmend außer Kontrolle und nimmt zerstörerische Ausmaße an, bis diese angenommene Identität schließlich in einer dramatischen Niederlage zerbricht.
Nun wird deutlich, dass hinter der Fassade ein sich nach Anerkennung sehnendes, vor dem Alleinsein fürchtendes Mädchen steckt, das dringend Zuwendung – sei es von der Familie oder Freunden – bräuchte, das aber durch sein Verhalten und seine Attitüden selbst unüberwindbare Mauern um sich herum errichtet hat. Niemand kann zu ihr vordringen, weil sie selbst es nicht zulässt. Hintergrund ist ein tiefsitzendes Trauma: Asukas Mutter verlor nach einem Experiment mit einem der EVAs den Verstand, hielt eine Puppe für die eigene Tochter und beging schließlich Selbstmord.
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Die Konfrontation mit diesem Kindheitstrauma und ihren kaputten familiären Verhältnissen (eine Stiefmutter, die Asuka nie wirklich als Tochter akzeptierte, Pflegeeltern) sowie die Nackenschläge, die Asuka im Kampf mit den Engeln einzustecken hat, führen nun dazu, dass sich ihre ursprüngliche Agilität, Energie und Aggressivität in Apathie, Verzweiflung und totale Selbstaufgabe verkehren.
Damit ist sie der Charakter der Serie, der mit Abstand die größte Wandlung vollzieht, ja, der geradezu sein Innerstes nach Außen kehrt und dennoch – oder gerade deshalb? – nicht in der Lage ist, echte zwischenmenschliche Beziehungen aufzubauen. Und damit passt sie wieder in das Grundschema der drei Piloten, deren Gemeinsamkeit eben die Unfähigkeit zu sozialen Kontakten ist, aus je unterschiedlichen Gründen: Bei Asuka ist es die mittels aufgesetzter Arroganz und Überlegenheit übertünchte Angst vor der eigenen Bedeutungslosigkeit, die ein normales Miteinander unmöglich macht.
Da ihr die Fähigkeit, sich selbst zu hinterfragen völlig abgeht, scheint für sie am Ende auch kein Ausweg aus ihrer selbstgeschaffenen Isolation möglich oder erkennbar. Somit ist Asuka von den drei Piloten-Kindern trotz oder gerade wegen der anfänglich zur Schau getragenen Stärke und dem Selbstbewusstsein eigentlich der hoffnungsloseste Fall.
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8 Jul
Original: Kurenai no buta (1992), von Hayao Miyazaki
Porco Rosso ist – erschienen und gewissermaßen eingeklemmt zwischen Kikis kleiner Lieferservice und dem Riesenhit Prinzessin Mononoke – einer der weniger bekannten Miyazaki-Streifen. Die Geschichte um ein fliegendes Schwein klingt zunächst auch nicht so sehr verlockend und ist in mancher Hinsicht wirklich eher untypisch für Miyazaki, wird aber zu Unrecht unterschätzt.
Auf dem im Ersten Weltkrieg durch seine großartigen Flugkünste berühmt gewordenen Porco Rosso lastet ein Fluch, der ihn in ein Schwein verwandelte. Jetzt, Ende der 1920er Jahre, schlägt er sich mit Gelegenheitsaufträgen wie etwa der Bekämpfung von Luftpiraten über der Adria durch. Eines Tages fordert ihn der amerikanische Draufgänger Curtis zum Luftkampf, in dem Rossos altersschwache Maschine schwer beschädigt wird und anschließend repariert werden muss. Dies übernimmt die 17-Jährige Fio, die sich bald wie Rossos Jugendfreundin Gina in den Piloten verliebt und dessen Leben kräftig durcheinander wirbelt.
Auf den ersten Blick eine leichte Actionkomödie, offenbart Porco Rosso bei genauerem Hinsehen doch einen erstaunlichen Tiefgang und einen ausgeprägten Anti-Kriegs-Subtext, schon fast ein Standard von Miyazaki. Anders als in der fast plakativen Darstellung in Howl’s Moving Castle ist dieser hier aber sehr subtil mit Rossos Fluch verbunden. Wie wir Zuschauer nämlich gegen Ende des Films erfahren, überlebte Rosso im Ersten Weltkrieg als einziger seines Geschwaders einen Luftkampf, bei dem auch sein bester Freund getötet wurde.
Dieses Erlebnis machte ihn zu einem verschlossenen, zurückgezogen auf einer Insel lebenden, sich selbst hassenden Misanthropen – äußerlich durch die Verwandlung in ein Schwein symbolisiert. Die Liebe der schönen aber melancholischen, an denselben Kriegswunden wie Rosso leidenden Gina ignoriert er. Erst der jungen Fio mit ihrer unbändigen Energie, ihrer Begeisterung für Flugzeuge, ihrer unbekümmerten Freude am Leben und ihrer Zuneigung zu dem grantigen Piloten gelingt es, den Fluch zu lösen.
Untypisch für Miyazaki ist neben der Einbindung der Handlung in einen realistischen, historisch und geographisch genau verorteten Rahmen insbesondere die Verwendung eines erwachsenen, männlichen Helden, der sich mit den Lasten seiner eigenen Vergangenheit herumschlägt. Sehr typisch dagegen sind die unterschwellige Verurteilung von Krieg und das Motiv des Fliegens, das wohl in keinem anderen Film Miyazakis so im Zentrum steht.
Die Freude an den vielen Flugszenen ist denn auch kaum zu übersehen, mit den rasanten Luftkämpfen von Porco Rosso dürfte die handgemachte Animation ihren Höhepunkt erreicht haben. Die Kamerafahrten und umeinanderwirbelnden Flugzeuge sind extrem beeindruckend: In einer Szene wird Rosso von Curtis unter Beschuss genommen, woraufhin sein Motor explodiert und hunderte von Bruchstücken durch die Gegend fliegen, alles ohne CGI! Zugleich wird in anderen Szenen aber auch deutlich, wo die Grenzen handgemalter Animation liegen, etwa wenn Rosso durch einen Kanal fliegt und der vorbeihuschende Hintergrund plötzlich nur noch aus verwaschenen Flächen besteht.
Die bewunderswerte Animation, die sympathischen und liebevoll gestalteten Charaktere (es gibt auch ein Wiedersehen mit den aus Das Schloss im Himmel bekannten Luftpiraten, die Miyazaki fast exakt mit all ihren witzigen Macken aus dem früheren Film übernahm) und der durchaus zu Diskussionen Anlass gebende Hintergrund rund um den Fluch machen Porco Rosso zu einem wirklich sehenswerten Film.
Interessant zu sehen ist zudem, dass er wohl auch als Inspiration insbesondere für Miyazakis jüngere Werke diente: Sowohl zu Howl’s Moving Castle als auch zu Chihiros Reise ins Zauberland lassen sich zahlreiche inhaltliche und gestalterische Parallelen finden.
Original: Kumo no mukō, yakusoku no basho (2004), von Makoto Shinkai
Makoto Shinkai wurde durch den 25-minütigen Anime Voices from a distant star schlagartig berühmt, was vor allem daran lag, dass er den gesamten Film im Alleingang zuhause animiert hatte! Und auch wenn er bei The Place Promised mit einem großen Team an Animateuren, Designern, Technikern und Schauspielern arbeiten konnte, übernahm er doch wieder eine außergewöhnliche Vielzahl an Aufgaben: Vom Charakterdesign über die Hintergrundbilder, den Schnitt und das Drehbuch bis hin zur Musik, alles ist von Shinkai selbst konzipiert. Vielleicht ist es allein damit zu erklären, dass der Film so atmosphärisch dicht, stimmig und atemberaubend schön geworden ist.
Zwei Jungs, Takuya und Hiroki, bauen in den Schulferien an ihrem Traum, einem Flugzeug, das sie zu dem geheimnisvollen Turm bringen soll, der sich weithin sichtbar auf Hokkaido erhebt. Eines Tages zeigen sie ihrer bewunderten Mitschülerin Sayuri das Flugzeug und versprechen ihr, sie auf dem Flug zum Turm mitzunehmen. Einen Sommer lang sind die drei beste Freunde, doch dann kommt der Bruch.
Diesen Sommer erleben wir in Hirokis Erinnerung, die dann der Gegenwart Platz macht. In dieser ist Sayuri einem rätselhaften Dauerschlaf verfallen, Takuya forscht in einem Labor über Paralleluniversen, die irgendwie mit dem Turm zusammenhängen zu scheinen und Hiroki hängt diesem einzigartigen Sommer nach. Ein Krieg steht kurz vor dem Ausbruch, und das Flugzeug wartet immer noch auf seine Fertigstellung. So wie Sayuri darauf wartet, dass das ihr gegebene Versprechen eingelöst wird.
The Place Promised ist definitiv der großartigste Liebesfilm, den ich je gesehen habe, auch wenn das aus diesem kurzen Anriss der Geschichte nicht unbedingt so ohne weiteres ersichtlich ist. Die Gefühle der drei werden auch immer nur ganz dezent angedeutet und stehen die meiste Zeit im Schatten anderer, größerer Dinge. Zunächst ist es die grenzenlose Begeisterung der Jungs für ihr Flugzeug, das sie blind für Mädchen macht, dann überdeckt die sich entwickelnde Freundschaft mit Sayuri die tiefer liegenden Gefühle.
Auch wenn es im Film (jedenfalls in den Untertiteln und der englischen Sprachfassung) nirgends explizit gemacht wird, so muss der Bruch nach dem traumhaft schönen Sommer meiner Meinung nach auf eine Auseinandersetzung zwischen Hiroki und Takuya über Sayuri zurückzuführen sein, die sich beide in das Mädchen verlieben, das ihren Alltag und ihre Zweierfreundschaft komplett auf den Kopf stellt.
Besonders deutlich wird dies an den beiden obigen Screenshots, zwei exakt parallel konstruierten Szenen: Einmal die verschworenen Freunde Takuya und Hiroki, die über ihre Fortschritte beim Flugzeugbau sinnierend durch den Winterwald gehen. Und dann die spätere Szene im Sommer, in der nun, nur ein paar Monate später, Sayuri zwischen ihnen steht und ihre enge Freundschaft auf die Probe stellt.
Jahre später erst, vor dem Hintergrund des wegen des Turms ausbrechenden Krieges, findet Hiroki die Kraft, Takuya zu konfrontieren, zu seiner Liebe für Sayuri zu stehen und das ihr gegebene Versprechen einzulösen. Der alles entscheidende Moment auf diesem Weg, die Erkenntis dessen, was er zu tun hat, ist die Begegnung mit Sayuris Traum, die Überwindung der Grenze von Traum und Realität, die in The Place Promised als Paralleluniversen desselben Kontinuums betrachtet werden.
Vieles wird nur angedeutet, etwa der gesamte Komplex um die Forschung über Paralleluniversen und ihre Verbindung sowohl zum Turm als auch zu Sayuri, oder auch die politischen Ereignisse, die letztlich zum Krieg führen. Und dies ist auch nur konsequent, denn im Mittelpunkt stehen nunmal drei heranwachsende junge Menschen, die sich mit ihrem sich verändernden Selbst und ihren Gefühlen füreinander auseinander setzen müssen. Ausladende technische oder politische Details würden da nur stören. Dennoch trägt The Place Promised klare Züge der Science-Fiction, nicht zuletzt durch die Positionierung in einer alternativen, unserer eigenen aber sehr ähnlichen Welt.
Wie spielerisch es Makoto Shinkai mit diesem Film gelingt, die Genre-Grenzen von Science-Fiction und Romanze aufzulösen, beides miteinander zu verbinden und in eine intelligente Coming-of-Age-Geschichte einzubinden, ist hochgradig beeindruckend. Noch beeindruckender, ja, umwerfend, sind die von Licht durchfluteten Bilder des Films, der scheinbar aus einem endlosen Sonnenuntergang zu bestehen scheint. Neben grandiosen Naturpanoramen finden sich bezaubernde Details wie die Decke eines Zugabteils, in deren Chromleisten Reflexionen hin- und herhuschen oder durch ein leckes Dach hereinrieselnde Schneeflocken. Viele der Szenen sind Sinfonien pursten Lichts von fast übersinnlicher Schönheit.
Ständig am Horizont präsent ist dabei der Turm, das Sayuri versprochene Ziel ihres Fluges. Über dessen symbolische Bedeutung ließe sich lange spekulieren und diskutieren. Steht er für das Erwachsensein? Für Selbsterkenntnis? Gar für die Liebe an sich? Klar ist nur, dass er da ist, unübersehbar, dass eine besondere Faszination von ihm ausgeht, der sich auch der Zuschauer nicht entziehen kann und dass er den Schlüssel zum Glück darstellt. Aus diesen Gründen tendiere ich auch zu letzterer Sichtweise: Er ist ein Symbol der Liebe. Kann man aber auch anders sehen.
Ich kann es nicht wirklich in Worte fassen was diesen Film so außergewöhnlich macht, aber nachdem ich The Place Promised das erste Mal gesehen habe, wollte ich ihn sofort noch einmal schauen. Shinkai schafft auf virtuose Weise eine so reale Welt, dass die besonders im ersten Teil des Films allgegenwärtige Nostalgie und Sehnsucht Hirokis nach diesem Sommer, in dem alles möglich schien, geradezu greifbar wird und sich unweigerlich auf den Zuschauer überträgt. Man beginnt, sich nach einem Ort zu sehnen, an dem man nie war, nach Freunden, die man nie hatte und einer Liebe, die man nie fühlte. Man muss diesen Film gesehen haben, um das Nachempfinden zu können!
Während ich gestern Shrek der Dritte sah und popcornkauend in meinem Kinosessel saß, musste ich an das Zitat von Manohla Dargis zum Unterschied zwischen amerikanischen und japanischen Animationsfilmen denken:
One of this week’s indisputable standouts is “Paprika,“ the latest eye-popping anime from Satoshi Kon (“Millennium Actress,“ “Tokyo Godfathers“), which, despite the dizzying spirals of its overly compressed narrative, offers continued evidence that Japanese animators are reaching for the moon (and other far-out destinations), while most of their American counterparts remain stuck in the kiddie sandbox with their underage audiences.
Shrek ist wirklich kein schlechter Film, er weist die bekannten, sympathischen Charaktere auf, ist witzig, hat eine zwar vorhersehbare aber doch nette Story und seine Animation ist in manchen Details (die Haare von Arthur oder Prince Charming!) unfassbar naturalistisch.
Doch da liegt auch schon ein Teil des Problems. Anstatt die Möglichkeiten der Animation für ungewöhnliche Effekte, spannende Bildkompositionen oder expressionistische Elemente, welche den Charakteren mehr Tiefe geben könnten, zu verwenden, versucht man sich bei Dreamworks daran, Haare oder ein Getreidefeld immer noch „realistischer“ und naturgetreuer hinzubekommen. Anstatt seinem Publikum etwas zum Staunen zu geben, es zu überraschen und dabei vielleicht auch zu fordern, verlässt man sich auf altbekannte Rezepturen und die etablierte Marke.
In den anderthalb Stunden Shrek, so unterhaltsam sie auch waren, dachte ich nicht ein einziges Mal „Wow“, war nie von den Bildern und der Kreativität der Animateure so überwältigt, wie mir das bei japanischen Anime regelmäßig passiert, kurz: das „eye-popping“ fehlte komplett. Und das ist kein Problem von Shrek, sondern von amerikanischen Animationsfilmen ganz generell. Man denke an Madagascar, Ice Age, Hennen rennen und auch die meisten der Pixar-Filme, die – was Charakterentwicklung, Tiefe des Plots und Kreativität der Animation angeht – nicht einmal im Entferntesten mit den Japanern mithalten können.
Zentrales Problem dabei ist, dass Trickfilme aus den USA nach wie vor ausschließlich auf das Komödien-Genre beschränkt sind. Niemand scheint die Möglichkeiten, die der Animationsfilm für so naheliegende ernsthaftere Genres wie Science-Fiction oder Fantasy, die Anime in Japan so erfolgreich gemacht haben, bietet, zu erkennen. Oder es wagt einfach niemand, auch mal den eigentlich logischen, ja überfälligen, Schritt über die Komödie hinaus zu machen. Dargis‘ Zitat weist hier bereits auf die einseitige Orientierung auf ein jugendliches Publikum hin, doch dies kann nicht der Grund für die Erstarrung der US-Animationsfilme sein, denn schließlich sind ja gerade Jugendliche die Hauptkonsumenten von Anime und müssten Experimenten gegenüber eigentlich aufgeschlossen sein. Zudem werden auch in Japan Kinofilme in erster Linie für ein junges Publikum produziert.
Vermutlich liegt der Kern des Problems – wie so häufig – in den Führungsetagen, wo über Filmprojekte und deren Budgets entschieden wird und wo Innovation, Kreativität und Risikobereitschaft häufig eben nicht als Garant für Erfolg gesehen werden. Auf das einzelne Filmprojekt bezogen mag das auch stimmen, aber auf lange Sicht bedeutet Stagnation schlicht Rückschritt. Angesichts der rasch wachsenden globalen Popularität von Anime mit ihrem breit aufgestellten thematischen Repertoire und ihren exzellenten, visionären und hochinnovativen Animateuren ist die US-Filmindustrie auf dem besten Weg, sich ohne Not in einer Nische einzubuddeln.
11 Jun
Original: Hōhokekyo tonari no Yamada-kun (1999) von Isao Takahata
Mit diesem Film begann im Studio Ghibli das digitale Zeitalter, es ist der erste des berühmten Animationsstudios, der komplett ohne die analog bemalten Cels auskam. Doch wer jetzt eine überschwängliche 3D-Welt erwartet, wird komplett enttäuscht: My Neighbors the Yamadas ist im Stil einfacher Wasserfarben- Skizzen gehalten und erinnert fast ein bisschen an ein Storyboard.
Zu Beginn werden uns die Mitglieder der Familie Yamada vorgestellt, mit deren Leben und Zusammenleben sich der Film in einer Reihe von Episoden beschäftigt: Die Eltern Matsuko und Takashi, die Tochter Nonoko und der Sohn Noboru sowie Oma Shige. Eine durchgehende Handlung ist nicht vorhanden, vielmehr werden in einzelnen Szenen aus dem Alltag die Tücken des Ehe- und Familienlebens aber auch seine schönen Seiten thematisiert.
Die meisten der Episoden sind herrlich komisch, etwa wenn Matsuko und Takashi in einem „Fechtkampf“ mit Fernbedienung und Zeitung austragen, wer das Fernsehprogramm bestimmt, oder wenn Shige und ihr Sohn über Haus und Grundstück streiten und plötzlich Enkel Noboru ein „Was streitet ihr euch, am Ende gehört sowieso alles mir“ dazwischenwirft. Viele der Szenen dienen aber auch dazu, die Charaktere zu beleuchten, hintergründige Alltagsweisheiten zu vermitteln oder zum Nachdenken anzuregen. In diesen Fällen steht am Ende der Episode ab und an ein Haiku von großen Meistern wie Basho oder Buson und eine leichte Melancholie liegt in der Luft.
Das wunderbare an My Neighbors the Yamadas sind die liebenswert chaotischen, schrägen Personen, in denen sich jeder ein Stück weit wiedererkennt und mit denen die Identifikation deshalb sehr leicht fällt, sowie seine Allgemeingültigkeit. Abgesehen von ganz wenigen Szenen, in denen spezifisch japanische Traditionen im Mittelpunkt stehen (aus dem Stehgreif fällt mir da jetzt nur ein, wie Takashi einen neuen Rekord im Verteilen der Neujahrskarten aufstellt), ist jeder Zuschauer mit den Situationen vertraut. Sei es aus seiner eigenen Jugend wie im Falle Noborus (Schulstress, erste Liebe), dem Arbeitsleben Takashis oder der eigenen Familie: Die kleinen, alltäglichen Reibereien im Zusammenleben von Mann und Frau, Eltern und Kindern. Diese werden immer originell und ohne Partei zu beziehen dargestellt.
Regisseur Takahata, Schöpfer des unvergesslichen Hotaru no haka, zelebriert hier regelrecht die Freuden aber auch Merkwürdigkeiten des Familienlebens und geht damit auf die Familienmüdigkeit vieler – gerade junger – Menschen ein und führt ihnen gleichzeitig eine andere Perspektive auf die Familie vor Augen. Mit dieser Thematik und der ungewöhnlichen Ästhetik des Films stellt er eindrucksvoll seine außergewöhnliche Vielseitigkeit unter Beweis. Ein wunderschöner, unterhaltsamer Film voller kleiner Wahrheiten, wahrhaftig ein Film für die ganze Familie, der seine ganzen Magie aber wohl nur in der japanischen Originalversion entfalten kann.