Archive for the ‘Gegenwartsfilme’ Category

Original: Mogari no mori (2007), von Naomi Kawase

Als Gewinner des Großen Preises in Cannes dieses Jahr war The Mourning Forest wohl einer der am meisten in den Medien diskutierten japanischen Filme der jüngeren Vergangenheit. Besonders die in dem Film geübte Auseinandersetzung mit Tod, Trauer und dem Alter sowie dem Umgang der Gesellschaft mit alten Menschen wurde auch hierzulande gelobt und hervorgehoben.

Die Geschichte des Films ist schnell erzählt: Die junge Mutter Machiko (Machiko Ono) hat ihr Kind verloren. Sie arbeitet in einem Altenpflegeheim und entwickelt dort eine besonders enge Beziehung zu dem Witwer Shigeki (Shigeki Uda), dessen Trauer um seine jung verstorbene, über alles geliebte Frau im Lauf der Jahre manische Züge angenommen hat. Bei einem Ausflug der beiden bleibt ihr Wagen liegen und sie machen sich zu Fuß auf durch den Wald. Das Ziel ihrer Wanderung ist aber nicht die Rückkehr in das Heim, sondern die Aussöhnung mit der Vergangenheit und den Toten.

Die beiden von ihrer Vergangenheit verfolgten Trauernden entwickeln dabei ein ganz eigenes, inniges Verständnis für den jeweils anderen, das zu Beginn des Films im Pflegeheim noch völlig fehlte. Trotz der Gruppenaktivitäten und gemeinsamer Sitzungen mit einem Priester. Doch all die Gespräche können echtes Mitgefühl und Verständnis, das erst durch die geteilte Trauer im Wald entsteht, nicht ersetzen. So wird dem rauhen, Machiko besonders zu Anfang regelrecht schikanierenden Shigeki in einem einzigen Moment klar, dass Machiko eine ebenso schwere, wenn nicht sogar noch größere Bürde trägt als er. Nun baut er echtes Vertrauen zu ihr auf und wechselt sogar selbst in die Rolle des Trostspenders, des Pflegers.

Auch für den Zuschauer ist dieser Moment von großer Bedeutung, denn wenn Machiko bei der Überquerung eines kleinen Baches plötzlich hysterisch schreiend zusammenbricht, wird uns schlagartig klar, wie sie ihr Kind verlor. Naomi Kawase benötigt keine Worte um das in Machiko wiedererwachte Entsetzen und das Gefühl des Verlusts zu vermitteln. Die Kraft des Moments allein, die schauspielerische Leistung Machiko Onos und die etwas verwackelte Unmittelbarkeit der Handycam genügen, um den Zuschauer ganz in den Bann der Emotionen zu ziehen.

Überhaupt ist dem Film Kawases Herkunft aus der Fotografie anzusehen. Gerade in den Auftaktsequenzen finden sich viele lange Einstellungen von Landschaften, die wunderbar ausgewogen und harmonisch komponiert sind und dennoch mit Spannung geladen. Bemerkenswert auch die erste Rolle von Shigeki Uda, ein Amateur, den Kawase erst am Drehort kennengelernt hatte.

The Mourning Forest ist ein in sich ruhender, aus dem Verhältnis seiner beiden Hauptcharaktere große Kraft beziehender Film, man könnte fast sagen ein sehr japanischer Film. Dass dabei auch der Umgang mit alten Menschen stark thematisiert wird, verleiht ihm jedoch für alle Industriegesellschaften große Brisanz, was die Jury von Cannes wohl nicht unbeeindruckt gelassen hat.

The Rebirth

Original: Ai no yokan (2007), von Masahiro Kobayashi

Filmfestivals sind schon was tolles. Nicht nur, dass man Filme auf der großen Leinwand zu sehen bekommt, die es sonst nie in ein deutsches Kino schaffen würden. Die Atmosphäre, das Drumherum ist ein wesentlicher Bestandteil. Das macht sich besonders bemerkbar, wenn etwas mal nicht so funktioniert wie es soll. Wenn die Zuschauer 15 Minuten nach dem geplanten Vorstellungsbeginn immer noch vor dem Kinosaal stehen, und anwesende Journalisten sich mal so richtig über das Ticket-Chaos auskotzen. Und wenn schließlich alle in ihren Sesseln sitzen und sich ein bisschen beruhigt haben, und dann dieser kleine, ältere Herr aus Japan namens Kobayashi, ein St.Pauli-Cap auf dem Kopf, die Zuschauer bittet, ihren Sitznachbarn während des Films bitte nur dann aufzuwecken, wenn dieser schnarchen sollte. Unbezahlbar!

The Rebirth lädt in der Tat zum Einschlafen ein, ist aber nichtsdestotrotz großartig. Dieser Widerspruch hängt mit dem Konzept von des Films zusammen: Kobayashi schildert anhand ständiger Wiederholung alltäglicher Situationen die angespannte Beziehung zwischen zwei Menschen; einem Vater (von Regisseur und Drehbuchautor Kobayashi selbst gespielt), dessen Tochter von einer Mitschülerin getötet wurde, und der Mutter (Makiko Watanabe) der Täterin.

Beide verlassen nach der Tat Tokyo, um in der Abgeschiedenheit Hokkaidos ihre Wunden heilen zu lassen. Er will den Verlust durch harte körperliche Arbeit verwinden und hat in einem Stahlwerk angeheuert. Sie ist Köchin in einem Arbeiterwohnheim, jenem Wohnheim, in dem er untergekommen ist. Nun sehen wir immer und immer wieder, wie er mit seinen Kollegen zu Schichtbeginn seine Handschuhe aus dem Halter nimmt, wie sie Kartoffeln schält, wie er sein Essenstablett abholt und sie die Essensreste wegräumt. Dabei fällt für anderthalb Stunden kein einziges Wort!

Dass einem da die Augenlider schwer werden können, ist also nicht verwunderlich. Aber schnell erkennt man in den Wiederholungen Muster. Besonders die Mahlzeiten des Mannes und der Gang der Frau zum benachbarten Supermarkt werden zu besonders zelebrierten Ritualen: Die Bewegungen, die Abfolge, die Geräusche, sogar die Fahrten der Kamera sind immer dieselben. Doch dann konfrontiert er sie ein erstes Mal, obwohl er zu Beginn des Films in einer kurzen Interviewszene noch gesagt hatte, er könne niemals der Mutter der Täterin gegenübertreten. Und von nun an beginnt ein Prozess schleichender Veränderungen: Sie schlurft irgendwann nicht mehr auf dem Nachhauseweg, sondern geht aufrecht. Er isst nicht mehr nur Reis mit Ei, sondern auch ein Spiegelei und Salat.

Man muss Kobayashi wirklich bewundern. Für den Mut, einen solchen bis ins Extrem minimalistischen, reduktionistischen Film zu drehen, aber auch für das Gespür, mit dem er die Situationen aufzeichnet, aneinanderreiht, strukturiert und damit letztlich aus dem Nichts heraus Erwartungen und Spannung erzeugt. Wie er aufzeigt, dass die beiden für den Rest ihres Lebens aneinander gekettet sind, ob sie dies wollen oder nicht. Und dass es die Akzeptanz dieser Situation ist, nicht die in der – mit reichlich Jump-Cuts durchbrochenen – Interviewszene am Anfang gezeigte Ablehnung, die den einzigen Ausweg darstellt.

Der japanische Titel des Films bedeutet (wenn ich mich nicht irre) etwa „Vorahnung der Liebe“, hat also mit „Wiedergeburt“ recht wenig zu tun. Doch finde ich in diesem Fall den internationalen Titel recht gut gewählt, stimmt er doch eher auf den schwer verdaulichen Film ein als eine direkte Übersetzung, die womöglich eine Schnulze erwarten ließe. Denn davon ist The Rebirth, dieser hochgradig ungewöhnliche und sehenswerte Film, soweit entfernt wie NGC 3982 von der Erde!

~~~ Nachtrag ~~~

Zwei Jahre hat es gedauert, jetzt erscheint der Film in den USA auf DVD.

Sakuran

Original: Sakuran (2006) von Mika Ninagawa

Mein Fazit zum Debutfilm der früheren Fotografin Ninagawa, der ab heute, 28. August, in einer sehr überschaubaren Zahl deutscher Kinos zu sehen ist: Schade, dass ihn wahrscheinlich nur so wenige Filmfans sehen werden. Sakuran ist sicherlich kein Meisterwerk für die Ewigkeit, aber ein richtig guter Film, dem ich es wünschen würde, dass er einen umfangreicheren Release bekommen hätte.

Das Mädchen Tomeki wird an ein Bordell in Edos berühmtem Rotlichtbezirk Yoshiwara verkauft. Das widerspenstige kleine Ding gerät schnell mit seiner Ziehmutter, einer Oiran – der ranghöchsten Kurtisane – aneinander, ist zugleich aber von deren Ausstrahlung, Selbstbewusstein und Souveränität beeindruckt. Im Lauf der Jahre wird aus Tomeki unter dem Namen Kiyoha (Anna Tsuchiya) selbst eine Prostituierte, die durch ihr Flair und ihr besonderes Händchen im Umgang mit den Freiern schnell in der Hierarchie des Bordells emporsteigt, deren Drang nach einem freien, selbstbestimmten Leben aber ungebrochen bleibt.

Sakuran Screenshot2

Ihr Aufstieg wird begleitet von einer tragischen Affäre mit einem Kunden, in den sich Kiyoha hoffnungslos verliebt. Doch für Gefühle ist in Yoshiwara kein Platz, sie wird zum Ziel einer Intrige und muss erfahren, dass ihr Geliebter sie lediglich ausnutzte. Aber Kiyoha lässt sich nicht unterkriegen und wird schließlich selbst Oiran. Als ein reicher Adliger ihr einen Heiratsantrag macht, scheint sich endlich die Möglichkeit aufzutun, aus Yoshiwara zu entkommen, doch dann wird Kiyoha schwanger – und weiß natürlich nicht, von wem.

Sakuran ist ein überaus farbenprächtiger Film, der die beschwingte und lebensfrohe, zugleich aber hektische Atmosphäre des Bordells wunderbar zum Leben erweckt. Nahezu allgegenwärtig ist dabei die Farbe, die wie keine andere für das Leben an sich steht: Rote Lippen, rote Gewänder, rote Blumen, rote Sonnenuntergänge, rotes Blut, rote Lampen, rote Goldfische und natürlich dürfen auch die berühmten japanischen Ahorne in ihrem rotleuchtenden Herbstlaub nicht fehlen.

Sakuran Screenshot2

Das zweite immer wieder auftauchende Element neben der Farbe Rot ist das des Gefangenseins und der Sehnsucht nach Freiheit. Bereits zu Beginn des Films schwört sich die kleine Tomeki unter einem blütenlosen Kirschbaum, eines Tages aus Yoshiwara, über dessen Tor ein riesiges Aquarium mit Goldfischen prangt, herauszukommen. So werden die Kirschblüten, die dem Film auch seinen Titel geben, zum Symbol für die Freiheit, und die Goldfische repräsentieren die im goldenen Käfig gefangene Kurtisane.

Als solche wird Kiyoha immer wieder halb verborgen durch Schiebetüren oder Blumen oder hinter den Gittern der Fenster gezeigt. Die umgekehrte Perspektive durch die Gitter ist zugleich diejenige der Freier, welche die zur Schau gestellten Prostituierten begutachten oder schlicht begaffen.

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Neben der konsequenten, lebensfrohen Ästhetik des Films sind es außerdem die Musik und die Modernität der Hauptcharakterin, welche die Schwächen des eher konventionellen Scripts ausgleichen. Der Soundtrack bietet einen stimmungsvollen Mix aus allerlei Musikrichtungen – von Elektropop über Gitarrenriffs und Jazz bis hin zu Geigensolos reicht das Spektrum – der exzellent die Wirkung der Bilder unterstreicht.

Ein Detail, das dem deutschen Kinogänger wohl verborgen bleiben dürfte, ist der besondere Gebrauch der Sprache. Wie mir eine des Japanischen mächtige Freundin (danke Sandra!) verriet, wird in Sakuran das alte Japanisch der Edo-Zeit mit seinen vielfältigen Höflichkeitsformen gesprochen – nur Kiyoha bedient sich des modernen Japanischen und das in einer reichlich mit Kraftausdrücken und Slang angereicherten Version, was ihre hervorgehobene Stellung und ihre moderne, individualistische und freiheitsliebende Lebenssicht nochmal betont.

Definitiv also ein Film, der einiges zu bieten hat. Nicht zuletzt übrigens auch für einen japanischen Film erstaunlich viel nackte Haut, so dass trotz der eher für einen Frauenfilm typischen Geschichte auch Männer auf ihre Kosten kommen dürften… 😉

Audition

Original: Ôdishon (1999), von Takashi Miike

Tja, Miike hat es mal wieder geschafft, zwei Genres, von denen man eigentlich glaubt, sie würden sich gegenseitig ausschließen, zu einem umwerfenden – und magenumstülpenden – Film zu vereinen, nämlich öde Romanze und krassen Horror.

Jahre nach dem Tod seiner Frau nimmt Shigeharu Aoyama (Ryo Ishibashi) den Vorschlag eines befreundeten Filmproduzenten an, mittels eines Vorsprechens für eine Filmrolle eine Frau für ihn zu suchen. Schnell ist Aoyama von einer Kandidatin fasziniert, die ihrer Bewerbung einen sehr persönlichen Brief beilegte, in dem sie von ihren Erfahrungen mit Verlust berichtet. Nach dem Vorsprechen nimmt er Kontakt mit Asami (Eihi Shiina) auf, die beiden treffen sich wiederholt, finden Gefallen aneinander und verlieben sich.

Doch als die beiden eine gemeinsame Reise machen, das erste Mal miteinander schlafen und Asami anschließend einfach verschwindet, fallen plötzlich immer mehr Schatten auf die junge Frau. Aoyama nimmt ihre Spur auf, entdeckt dabei rätselhafte Morde und verschwundene oder verstümmelte Personen in Asamis Vergangenheit und wird schließlich selbst zum Opfer.

Audition Screenshot 2

Ist die Geschichte des trauernden, mit seinem Sohn zusammenlebenden Witwers auf Freiersfüßen anfangs noch ganz nett zu verfolgen, schleppt sich Audition im zweiten Akt, als Asami und Aoyama sich näher kommen, nur noch zäh dahin. Ich habe nur weitergekuckt, weil ich wusste, dass zum Ende hin noch irgendetwas heftiges passieren musste, und so kam es dann auch… da braucht es wirklich starke Nerven und einen noch stärkeren Magen!

So künstlich und um des reinen Effekts willen die Folterszenen auch wirken, sie sind für den Film und für das Verständnis von Aoyama doch elementar. Entsteht durch sie doch eine Situation, in der Asami aus ihrer Rolle als passives, auf Telefonanrufe wartendes Objekt männlicher Begierde ausbrechen kann und zum aktiven Subjekt wird. Und das auf eine so radikale, perfide Art und Weise, dass trotz der Kritik an Aoyamas frauenverachtendem, fingiertem Vorsprechen, trotz Asamis offenbar furchtbarer Kindheit zu keinem Zeitpunkt auch nur der kleinste Funken von Verständnis für ihr Verhalten (wie bei der Sympathie für den in gleicher Münze zurückzahlenden Underdog) aufkommt.

Audition Screenshot 4

Da dieser letzte Akt des Films von zahlreichen Traumsequenzen durchsetzt ist und man schnell den Überblick verliert, was nun Realität ist und was nicht, bleibt viel Raum für Spekulation und Interpretation. Als unverbesserlicher Optimist, der sich für den einsamen Witwer ebenso wie für das schüchterne Mädchen ein Happy-End wünscht, liegt meine Sympathie bei der „es war alles nur ein Traum“-Variante. Und die geht so…

Von dem Moment an, als die beiden in ihrem Hotel miteinander schliefen, geschieht alles weitere nur in Aoyamas Traum. All die makabren Rätsel um Asami bis hin zu seiner Verstümmelung durch sie sind alles Ausdrücke seines gestörten Verhältnisses zu Frauen, das wiederum mit dem Tod seiner Frau zusammenhängt. Immer wieder plagen ihn Gewissensbisse wegen der Instrumentalisierung des Vorsprechens aber auch aus einem grundlegenden Gefühl der Untreue seiner Frau gegenüber.

Audition Screenshot 3

Alptraumhafte Sequenzen sexueller Fantasien, in denen seine Putzfrau und die Freundin seines Sohnes auftauchen, deuten ebenso auf dieses schlechte Gewissen hin wie der Umstand, dass Aoyama in allen Szenen schwarz trägt (und Asami weiß). Ein kurzer Moment ganz zu Beginn, als Aoyama zuhause am Schreibtisch die Kandidatinnen für das Vorsprechen durchgeht und dazu das Foto seiner Frau umdreht, macht dies besonders deutlich.

So ist Audition trotz der zwischenzeitlich etwas durchhängenden Story und den zum Ende hin eingesetzten Schockeffekten ein hochinteressantes, vielschichtiges Werk, das neben dem Verhältnis von Mann und Frau und dessen Manipulation durch Macht und Einfluss auch Themen wie Verlust und Tod, Kindesmisshandlung sowie Einsamkeit in unserer modernen Welt anreißt. Man muss Miikes Fähigkeit, unglaublich viel Überraschendes in einen zunächst scheinbar konventionellen Film hineinzupacken und dabei wild Genres durcheinander zu werfen, einfach bewundern!

Original: 46-okunen no koi (2006), von Takashi Miike

Natürlich hatte ich schon viel von Takashi Miike gehört und gelesen, aber Big Bang Love ist tatsächlich meine erste Erfahrung mit einem Miike-Film, da mein Spezialgebiet ja eher die japanischen Klassiker sind. Ich wusste, dass Miike als Workaholic gilt, der auch mal 8 oder 9 Filme pro Jahr dreht, dass ihm ein Hang zum Absonderlichen nachgesagt wird, dass Gewalt in vielen seiner Filmen eine prominente Rolle einnimmt und dass er als einer der genialsten Regisseure der Gegenwart gilt. Entsprechend gespannt war ich auf Big Bang Love.

Der beginnt mit einem Shakespeare rezitierenden Schauspieler allein auf einer Bühne, dann einem kleinen Jungen vor rotem Hintergrund, der ein Mann werden möchte und sich dazu ein Vorbild aussuchen soll. Danach beginnt die eigentliche Geschichte, die sich um Jun (Ryuhei Matsuda) dreht, Kellner in einer Schwulenbar, der wegen der grausamen Tötung eines Kunden ins Gefängnis kommt. Dort trifft er auf den am ganzen Körper tätowierten, zu spontaner Gewalt neigenden Shiro (Masanobu Ando) und erwürgt ihn vorgeblich. Doch warum? Und war er es wirklich oder gab es nicht andere, die Shiro getötet haben könnten?

So entwickelt sich eine schwer durchschaubare Mystery-Geschichte, die angesichts der abstrakten Elemente des Films fast in den Hintergrund tritt: Das Gefängnis besteht aus auf den Boden gezeichneten Zellen wie in Dogville, eine gigantische Pyramide und die Startrampe einer Rakete sind vom Gefängnis aus zu sehen, Sonnenstrahlen durchdringen schlagende Herzen.

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Es gibt ein paar Elemente, die ich zu so etwas wie einer Interpretation zusammenfügen würde; dazu gehören der japanische Originaltitel (übersetzt heisst er soviel wie „460 Millionen Jahre Liebe“), die Pyramide als eines der größten Rätsel der Menschheit und die Geschichte um das unbekannte Motiv für die Ermordung (oder den Selbstmord?) Shiros. Nehme ich diese für die Rätselhaftigkeit des Menschen und die Bedeutung der Liebe stehenden Elemente zusammen, würde ich sagen, dass es in Bing Bang Love um das Rätsel der Liebe schlechthin geht, die Hoffnung und Kraft die sie dem Menschen seit Anbeginn der Zeit gibt und die Möglichkeiten, die sich ihm durch sie eröffnen, aber auch um die Abgründe, in die sie uns stoßen kann.

Das klingt jetzt vielleicht ganz nachvollziehbar, aber genauso gut könnte ich andere im Film vorkommende Symbole herausgreifen, die dieses Konstrukt schnell in sich zusammenbrechen lassen. Da geht es nämlich auch um das Erwachsenwerden (der Junge, der sich ein Vorbild für seine Mannwerdung sucht), um die Suche nach der eigenen Identität (Shiro, der mal mit Tätowierung zu sehen ist und dann wieder ohne) und vieles mehr.

Nachdem ich Big Bang Love gesehen und mir den Kopf darüber zerbrochen habe, habe ich natürlich auch viele andere Kritiken gelesen. Mein Eindruck war, dass jeder den Film irgendwie gut findet, mit großen Worten die Gründe dafür zu erklären versucht, aber niemand genau sagen kann woran es letztlich liegt. Und dass niemand den Durchblick, den Schlüssel zu all diesen Symbolen und Metaphern gefunden hat und ihre Beziehung zu den Charakteren und der Haupthandlung in einen sinngebenden Gesamtkontext einordnen kann. Am besten, du siehst dir Big Bang Love selbst an, denn das ist definitiv ein Film, der in jedem Zuschauer etwas anderes bewegen und andere Gedanken hervorbringen kann. Und allein deshalb ist er gut und sehenswert!

Wer sich noch alles keinen Reim auf den Film machen konnte: midnighteye, Der Tagesspiegel, Filmstarts, Asianfilmweb, Berlinaleblog, plomlompom, filmkritiken.org, Heroic-cinema.

Original: Noriko no shokutaku (2005) von Sion Sono

Als etwa 20 bis 30 Minuten des Films vorüber waren, haben die ersten Zuschauer das Kino verlassen. Der Film nimmt sich nämlich gerade am Anfang sehr viel Zeit, um in die Gedankenwelt der Protagonisten einzutauchen, was überwiegend durch Erzählungen aus der Ich-Perspektive erfolgt. Diese permanente Erzählung aus dem Off wirkte schnell ermüdend, aber wer die Geduld aufbrachte und sich den Film zu Ende ansah, wurde belohnt.

Norikos Dinnertable baut auf Sion Sonos früherem Film Suicide Club auf, erzählt aber nicht eine breitere, auf eine ganze Generation gemünzte Geschichte sondern die einer einzelnen Familie: Noriko (Kazue Fukiishi) ist ein gewöhnlicher Teenager, lebt mit Vater, Mutter und ihrer Schwester Yuka (Yuriko Yoshitaka) in einer Kleinstadt in behüteten Verhältnissen, aus denen sie sehnlichst ausbrechen will. Zunächst flüchtet sie sich ins Internet, wo sie mit ähnlich denkenden Mädchen chattet und Ueno54 (Tsugumi) kennenlernt, mit der sie sich schnell anfreundet. Dieses Mädchen, Noriko nur unter seinem Chat-Pseudonym bekannt, inspiriert Noriko dazu, nach Tokyo auszureißen und Ueno54 persönlich kennenzulernen.

In Tokyo trifft sie ihre Internetbekanntschaft, die im wirklichen Leben Kumiko heisst und eine Agentur leitet, die für Kunden ein glückliches Familienleben simuliert. Auch Noriko wird für die Agentur tätig, nimmt je nach Situation verschiedene Rollen an und vergisst darüber ihre eigene Familie. Als ihre Schwester Yuka ihr nachfolgt und die Mutter sich daraufhin das Leben nimmt, begibt sich der Vater (Ken Mitsuishi) auf den Spuren seiner Töchter nach Tokyo. In einem finalen Treffen werden alle mit ihrem Versagen und ihrer Unzufriedenheit in ihren jeweiligen Rollen konfrontiert, die zerbrochene Familie findet dadurch wieder zusammen.

In dieser kurzen Zusammenfassung mag das alles ganz verständlich und nachvollziehbar klingen, aber der Film ist wirklich hartes Brot! Die Monologe aus dem Off dominieren das erste Drittel des 160 Minuten langen Films fast komplett und durch die verschiedenen Perspektiven der jeweils berichtenden Familienmitglieder ist oft unklar, welcher Version nun „geglaubt“ werden kann. Die Verquickung der Familien-Agentur mit dem Suicide Club und verschiedenen Massenselbstmorden von Teenagern, die undurchsichtige Figur der Kumiko (Ueno54) sowie die unruhige Kamera sorgen für zusätzliche Verwirrung und erschweren es, den roten Faden des Films zu erkennen. Vielleicht hätte es geholfen, wenn ich Suicide Club gekannt hätte.

Unter dem Strich ist Norikos Dinnertable jedoch eine brillante Analyse der Rollen, die es in einer Familie einzunehmen gilt, und welche Schwierigkeiten Menschen dabei haben, diesen Rollen und ihren Anforderungen zu entsprechen. Durch die Perspektivwechsel werden die Hintergründe, die Motive und die Ziele und Wünsche der Personen immer wieder neu beleuchtet. Die Familienagentur ist letztlich das Vehikel, das es den Protagonisten erlaubt, aus ihren erlernten, festgefahrenen Rollen auszubrechen, ihre Probleme endlich zu verbalisieren und sich darüber auszutauschen und dadurch letztlich die Rolle so auszufüllen, dass sie mit sich selbst und den anderen im Einklang sind. Sehr sehenswert, nicht nur für Studenten der Soziologie und Psychologie!

Original: Strawberry Shortcakes (2006) von Hitoshi Yazaki

Basierend auf dem Manga Sweet Cream and Red Strawberrys von Kiriko Nananan, die im Film selbst die Rolle der Malerin Toko übernimmt, dreht sich Strawberry Shortcakes um das Leben von vier alleinstehenden jungen Frauen in Tokyo, ihre Einsamkeit, Sehnsüchte und ihre vielfältigen Probleme von der Karriere über Männer bis zum Sinn des Lebens.

Die liebenswerte und zuvorkommende, etwas zerstreute Chihiro (Noriko Nakagoshi) geht einem bedeutungslosen Sekretärinnenjob nach und führt eine einseitige Beziehung mit einem Kollegen, der in ihr nicht mehr sieht als ein Mittel zur sexuellen Befriedigung. Sie wünscht sich eine geregelte Beziehung, eine Familie und eine sinnvolle Arbeit. Ihre Mitbewohnerin Toko (Kiriko Nananan) ist selbstständige Malerin und Designerin, leidet unter dem Unverständnis und der Geringschätzung der Menschen gegenüber ihren Bildern, die ihr alles bedeuten, und unter den Wunden einer zerbrochenen Beziehung. Anfangs sind die beiden nur Mitbewohnerinnen, ohne sich groß füreinander zu interessieren, doch langsam entwickelt sich eine enge Freundschaft.

Die immer fröhliche, scheinbar durch nichts unterzukriegende Satoko (Chizuru Ikewaki), die eine traumatische Trennung hinter sich hat und sich nach einer großen, wahren Liebe sehnt, arbeitet als Telefonistin in einer „Agentur“ für Prostituierte. Dort muss sie sich den Avancen des Managers, eines verheirateten Familienvaters, erwehren und freundet sich mit der Prostituierten Akiyo (Yuko Nakamura) an. Akiyo hat einen Hang zum Morbiden (sie schläft in einem Sarg und hat bereits einen Plan für ihren Selbstmord) und führt ein Doppelleben: In ihrem Job tritt sie als stylische Dame auf, privat trägt sie Schlabberjeans, T-Shirts und eine Brille. Dieses Doppelleben setzt sich nahtlos in ihrem Liebesleben fort, das in die Erfüllung der Fantasien und Begierden ihrer Kunden und in ihre Unfähigkeit, Kikuchi (Masanobu Ando), ihrer großen Liebe seit dem College, ihre Gefühle zu offenbaren, zerfällt.

Von den vorgeblichen Schwächen der Vorlage bei der Charakterentwicklung ist im Film jedenfalls nichts, aber auch gar nichts zu spüren. Alle vier Frauen sind vielschichtig und tief angelegt und absolut glaubwürdig dargestellt. Die Kameraführung ist distanziert, immer ruhig und kommt ohne irgendwelche Effekthascherei daher, wodurch ein quasi-dokumentarischer Stil entsteht, der nicht unerheblich zur Glaubwürdigkeit beiträgt. Ohne dass auch nur das kleinste bisschen auf die Tränendrüse gedrückt wird, entsteht sehr schnell Identifikation mit allen vieren, man fühlt mit und möchte irgendwann jede einzeln in den Arm nehmen und gaaanz fest drücken.

Neben der Suche nach Liebe und einer funktionierenden Beziehung thematisiert der Film vor allem aber auch den Umgang der Menschen miteinander allgemein und nicht zuletzt in der Arbeitswelt. Eine der eindrucksvollsten Szenen ergibt sich, als Tokos Auftraggeber eines ihrer Bilder verlieren, aber überhaupt nicht realisieren, was dies für Toko bedeutet. Anschließend sehen wir sie über die Toilette gebeugt, sich mit dem Finger im Mund erbrechend und die Missachtung ihrer Arbeit durch die Menschen verfluchend. Das angesprochene Problem, dass in unserer heutigen Arbeitswelt viel zu viele Menschen überhaupt nicht wissen, was es heisst, etwas zu tun, das einem selbst viel bedeutet und in dem man sich selbst verwirklicht, reicht weit über das Leben junger Frauen in der Großstadt hinaus: Durch mangelnden Respekt und ideellen Bezug zur eigenen Arbeit fehlt die Fähigkeit, Menschen und deren Arbeit zu würdigen und Respekt zu zollen.

Eine weitere, nur wenige Sekunden dauernde Szene zielt in eine allgemeinere Richtung: Chihiro steigt die Treppe zum Dach des Bürogebäudes hinauf, will sich zu ihren dort Pause machenden Kolleginnen gesellen und bringt ihnen Getränke mit. Da hört sie, wie eben diese Kolleginnen darüber lästern, dass Chihiro sich bei den Vorgesetzten durch das Servieren von Getränken einschleime. Die genuine, selbstlose Freundlichkeit von Chihiros Geste wird nicht nur nicht gewürdigt oder verstanden, sondern wird als Berechnung ausgelegt. Die Lästerinnen kommen gar nicht erst auf die Idee, dass Chihiro vielleicht einfach nur nett und freundlich sein will, sondern unterstellen ihr strategisches Denken, gar Böswilligkeit.

So beklagt der Film nicht nur einen Mangel an aufrichtiger Liebe und Zuneigung im Leben junger Menschen, sondern generell eine Enthumanisierung in zwischenmenschlichen Beziehungen und die Reduktion von Beziehungen auf ihre rein funktionalen Elemente. Güte, Verständnis, Aufrichtigkeit, Freundschaft, Ehrlichkeit und Interesse für die Belange der Mitmenschen, all das was ein glückliches Miteinander (nicht nur in einer Liebesbeziehung) ausmacht, sind uns verloren gegangen und müssen schwer erkämpft werden – siehe die nur langsam und mühevoll wachsende Freundschaft von Toko und Chihiro.

Baumkuchen

Original: Baumkuchen (2006) von Kensaku Kakimoto

Der 25jährige Regisseur Kakimoto hat hier ganz tief in die Trickkiste gegriffen, um seinen Plot in verschiedene, nur schwer miteinander in Zusammenhang und Einklang zu bringende Stränge zu unterteilen.

Im Zentrum des Films stehen die drei Kawanobe-Brüder, die in einer schrägen WG zusammenwohnen, mit Vorliebe Baumkuchen essen und gewissermaßen den Stamm des Films bilden. Von jedem der drei zweigen dann weitere Charaktere ab, Freundinnen, Verlobte, Freunde von Freunden. Dazu kommen eine mysteriöse Barbesucherin und der Moderator einer TV-Shopping-Sendung. Auf die eine oder andere Art sind alle miteinander verknüpft, doch dieses Puzzle richtig zusammenzubekommen macht uns Kakimoto so schwer, wie es seinen Charakteren fällt, das Puzzle ihres Lebens zu lösen.

Jeder der drei Brüder muss einen Weg finden, sein Leben, wie er es leben will und wie er mit einer Frau umgehen will, in den Griff zu bekommen. Dabei geht es um Akzeptanz der Eigenarten und Bedürfnisse von Mitmenschen, um Verarbeitung von verpassten Chancen, Selbsterkenntnis, das Springen über den eigenen Schatten und die Frage, was Glück ist.

Um dem Zuschauer das Zusammenfügen der über den Film verstreuten Puzzleteile möglichst zu erschweren, setzt Kakimoto auf eine äußerst unkonventionelle Erzählweise voller räumlicher und zeitlicher Diskontinuitäten, Traumsequenzen und eine Geschichte in der Geschichte, bei der ein Schriftsteller (der Zusammenhang wird erst ganz zum Schluss klar) ein Buch schreibt, dessen Charaktere und Handlungen ebenfalls in die Handlung eingewoben werden.