6 Feb
Original: Okâsan, (1952) von Mikio Naruse
Okâsan schildert den harten Kampf einer Mutter (Kinuyo Tanaka) um den Fortbestand ihrer Familie aus der Sicht ihrer ältesten Tochter Toshiko (Kyoko Kagawa).
Der Film eröffnet mit einem inneren Monolog Toshikos, in dem sie die Mitglieder ihrer Familie vorstellt. Bereits in diesen ersten Szenen war ich völlig begeistert, wie Naruse Direktheit und Eleganz verbindet. Die wenigen Worte, die Toshiko über ihren Vater, ihre Mutter und ihre Geschwister verliert, begleitet er mit so liebevollen, ausdrucksstarken und ehrlichen Bildern, dass sich sofort das Gefühl einstellt, es wäre die eigene Familie mit all ihren liebenswerten Schrulligkeiten:
Die Mutter Masako ist so klein, dass sie einen kurzen Besen zum Kehren benutzt, der kleine Neffe ist ein Bettnässer und für den Vater (den Toshiko vergöttert: €žSeht nur die Muskeln!€œ) liegt alles Glück der Welt in gebackenen Bohnen.
Eine Handlung im klassischen Sinne gibt es nicht. Naruse webt verschiedene Ereignisse und Szenen in eine Art Handlungsreigen, den Gang der Jahreszeiten verdeutlicht er anhand wechselnder Angebotsschilder eines Kiosk – im Winter Pfannkuchen, dann Eis am Stiel. Off-Screen wird Toshikos kranker Bruder ins Sanatorium eingewiesen, später erfahren wir, dass er gestorben ist. Der Vater wird krank, gerade als die Familie eine Wäscherei eröffnet, woraufhin Kimura, ein Freund der Familie, aushilft. Einige Zeit später stirbt auch der Vater und Toshiko beginnt ebenfalls, in der Wäscherei zu helfen. Doch das Geld reicht hinten und vorne nicht, weshalb ihre jüngere Schwester von einem Onkel adoptiert werden soll.
Toshiko sieht ihre Familie zerbrechen, ist verwirrt und beginnt unter der Situation zu leiden, besonders weil sie glaubt, ihre Mutter würde Kimura heiraten. Sie selbst ist zwischen Kindheit und Erwachsenensein gefangen: einerseits spielt sie noch wie ein Kind mit ihren Geschwistern und singt auf dem Stadtfest, andererseits übernimmt sie Verantwortung, unterstützt die Familie und entdeckt eine erste unschuldige Liebe zum Bäckerssohn Shinjiro (Eiji Okada).
Sie fühlt mit ihrer Mutter und fragt sich, ob diese angesichts all der Härten des Lebens, der Schicksalsschläge, überhaupt glücklich sein könne. Sie stellt sich diese Fragen stellvertretend für den Zuschauer, und Naruse beantwortet diese, indem er im Laufe des Films immer wieder kleine Momente des Glücks einstreut, sowohl auf einzelne Personen bezogen, etwa wenn der Vater in seliger Verzückung seine geliebten Bohnen kaut, oder in Gemeinschaft bei einem Ausflug in den Park.
Besonders in einer Szene, als Toshiko von ihrer Tante Noriko als Brautmodell zurechtgemacht wird und alle ihre Schönheit bewundern, zeigt Naruse mit kurzen Schnitten auf die Mutter deren geradezu mit Händen zu greifende Freude, ihren Stolz und das Glück angesichts der Schönheit ihrer heranwachsenden Tochter: der ganze Mutterstolz und die Mutterliebe werden mit wenigen Einstellungen vor Augen geführt. Das zeigt auch die Schlussszene, in der die Mutter mit dem Neffen herumtollt und sich schließlich zufrieden aber erschöpft die Haare aus dem Gesicht streicht, unterlegt mit der Stimme von Toshiko, die sich fragt, ob ihre Mutter glücklich ist.
Die tragenden Hauptrollen sind großartig gespielt von Kinuyo Tanaka und besonders auch von der jungen Kyoko Kagawa, die hier ihren ersten großen Filmauftritt hatte und eine herzerfrischende Darstellung bietet. Beide Hauptdarstellerinnen formen aus der Trauer angesichts der Todesfälle, Enttäuschung ob der Härte des Lebens und Freude im Alltag und in der Liebe so ungekünstelt und authentisch ihre Charaktere, dass nie so etwas wie Mitleid mit ihnen aufkommt, sondern echtes Mit-Fühlen.
Okâsan ist in meinen Augen eine nahezu perfekte Demonstration von Naruses Fähigkeit, das Leben so wie es ist darzustellen und den Zuschauer mitten hinein zu ziehen. Der Geschmack des Lebens besteht nun mal aus süßen und bitteren Momenten, und Naruse lässt uns beides kosten.
Wie keinem anderen gelingt es Mikio Naruse (1905-1969) in seinen Filmen das Leben mit all seinen Sorgen, Nöten und enttäuschten Hoffnungen, aber auch mit all den kleinen und großen Freuden des Alltags ehrlich, ungeschminkt und mit ganz viel Liebe zum Detail einzufangen.
Das war mein Eindruck, nachdem ich alle sechs in Hamburg gezeigten Naruses gesehen habe. Mir ist klar, dass es vermessen wäre, einen Regisseur, der 90 Filme gedreht hat, anhand von sechs Filmen zu beurteilen. Noch dazu, wenn alle diese Filme aus derselben Schaffensphase, nämlich der nach 1951, stammen. Zu gerne hätte ich auch Vorkriegsfilme gesehen, insbesondere Wife! Be like a rose, einer der ersten japanischen Filme, die im Westen aufgeführt wurden, oder vielleicht auch den einen oder anderen aus seiner angeblichen – von Alexander Jacoby bestrittenen – Schaffenskrise von 1936-51.
Dennoch glaube ich, dass die gesehenen Filme und was ich bisher zu Naruse gelesen und gehört haben, einige typische Merkmale seiner Filme deutlich machen. Dazu gehört, dass sich die Geschichte um eine Frau, in vielen Fällen um eine Witwe, dreht. Es gibt keine eigentliche Handlung, keinen Plot im klassischen Sinne, die Geschichte entwickelt sich ganz aus den handelnden Charakteren, ihren Beziehungen zueinander und den (alltäglichen) Problemen, mit denen sie konfrontiert sind. Ein entscheidender Unterschied zu den Filmen Kenji Mizoguchis, zu denen ansonsten viele thematische Parallelen bestehen.
Naruses Frauen (in den späteren Filmen häufig gespielt von Setsuko Hara und seiner Lieblingsdarstellerin Hideko Takamine) sehen sich immer mehreren Konflikten gleichzeitig ausgesetzt. Neben dem Kampf ums Überleben – die Geschichten spielen fast immer in einem ärmlichen Milieu und Geldsorgen sind allgegenwärtig – sind das Verpflichtungen gegenüber der Familie, Erwartungen auf Grund sozialer Normen und immer wieder Beziehungssorgen und unerfüllte Liebe.
Außer im Falle von „Yearning“ fand ich die Filme trotz all der Probleme und unerfüllten Hoffnungen aber nicht pessimistisch oder hoffnungslos, wie oft zu lesen ist. Das lag daran, dass Naruse es in herausragender Weise versteht, verschiedene Handlungsebenen miteinander zu verweben und eine ganze Reihe von Personen (oft verschiedene Familienmitglieder) in die Geschichte einzubeziehen und deren Geschichten mitzuerzählen. Diese zeigen dann oft neue Perspektiven oder Auswege auf, so dass die Hauptfigur vielleicht in einer Sackgasse endet, aber am Beispiel der einen oder anderen Nebenfigur gezeigt wird, dass das Leben mehr bieten kann (etwa in „Summer Clouds“ oder „When a Woman ascends the stairs“).
Dabei gelingt es Naruse immer, direkt ins Leben hineinzugreifen. Das waren für mich oft die schönsten Momente, wenn er mit winzigkleinen Details liebevoll die Persönlichkeit eines Charakters gestaltet und ausformt.
Im Gegensatz zu seinen bekannteren Kollegen Ozu oder Mizoguchi hat Naruse keinen bestimmten visuellen Stil. Aber es gibt bei seinen Filmen eine ganze Reihe von Motiven, die immer wieder an entscheidenden Stellen auftauchen. Die Eröffnungssequenzen beispielsweise zeigen fast immer Straßen, und zwar die verwinkelten engen Gassen des alten Japans sowie die daran angrenzenden kleinen, oft schäbigen Holzhäuser. Die Schlussszenen bestehen häufig aus einer oder zwei Personen, die eine Straße entlanggehen. Überhaupt finden wichtige, richtungsweisende und Beziehungen prägende Gespräche oft unter freiem Himmel statt, auf Brücken oder in Parks, wenn die Charaktere gewissermaßen ihren alltäglichen Sorgen für einen Moment enthoben sind und sich über die wichtigen Dinge im Leben klar werden können.
Von den sechs Filmen die ich gesehen habe, sind „Mother“ und „When a woman ascends the stairs“ meine Favoriten, beides sind großartige Filme die jeder Cineast gesehen haben sollte. Auch die anderen vier waren wirklich gut! Ich bin kein einziges Mal enttäuscht aus dem Kino gekommen und kann jedem, der die Gelegenheit hat, einen Naruse zu sehen, wärmstens empfehlen, diese wahrzunehmen! Ich werde in der nächsten Zeit die sechs gesehenen Filme noch einzeln besprechen.