8 Jun
Original: Chain (2007) von Akihito Kajiya
Ein Amokläufer erstach heute 7 Menschen, weitere 10 wurden zum Teil schwer verletzt. Die Tat ereignete sich im Tokyoter Stadtteil Akihabara während eines autofreien Sonntags, der noch mehr Besucher als gewöhnlich in das Einkaufsviertel lockte. Der Täter war zunächst mit einem Lieferwagen in die Menge gefahren und hatte dann wahllos um sich gestochen. Nach seiner Festnahme sagte er, er sei der Welt müde und hätte einfach nur irgendwen töten wollen.
Auf den Tag genau vor 7 Jahren erstach ein Amokläufer an einer Grundschule in Osaka 8 Schülerinnen und Schüler und verwundete 15 weitere. Nach seiner Festnahme gab er zu Protokoll, dass er vom Leben die Schnauze voll habe und die Todesstrafe wolle, zu der er später auch verurteilt wurde.
Was haben diese furchtbaren Ereignisse nun mit dem Film Chain zu tun? Der Abschlussarbeit eines Studenten der Osaka University of Arts, die ich in Anwesenheit des Regisseurs vor einer guten Woche beim JFFH sehen konnte? Regisseur Kajiya griff die Ereignisse in seiner Heimatstadt Osaka von 2001 sowie ein persönliches Erlebnis, als in seiner Nachbarschaft ein Mann drohte, in einem Kindergarten Amok zu laufen, auf und fragte sich, was einen Menschen dazu bringen mag, wahllos andere zu töten. Dazu benutzt er vier Handlungsstränge um vier Hauptpersonen – zwei Schülerinnen, deren Lehrerin sowie den Kollegen des Ehemanns der Lehrerin – deren Wege sich immer wieder kreuzen, sich immer weiter verweben, eine Reaktionskette auslösen und schließlich in einem Blutbad an der Schule enden.
Alle vier haben schwer an ihren Problemen zu tragen: Die Schülerin Rie leidet unter der bevorstehenden Scheidung ihrer Eltern und wird in der Schule gehänselt, unter anderem von Rena, die dadurch ihre eigenen Minderwertigkeits- und Schuldgefühle übertünchen will. Die Lehrerin wiederum leidet mit ihren Schülerinnen und nimmt deren Probleme gewissermaßen mit nach Hause, während der Kollege ihres Mannes gerade eine Scheidung hinter sich hat und zu allem Überfluss auch noch gefeuert wird.
Letztlich sind es jedoch nicht diese faktisch-eindeutigen Gründe die zum Wahnsinn des Amoks führen, denn diese würden eine solche Tat gewissermaßen nachvollziehbar und verständlich machen. Vielmehr sind es kleine, schwer interpretierbare Details und Ereignisse des Alltags, wie lärmende Mädchen auf dem Schulweg oder ein unachtsamer Rempler auf der Straße, die eine unkontrollierbare Kettenreaktion auslösen und irgendwann einen emotionalen Kurzschluss verursachen, der in der Gewalt mündet.
Chain hat nur eine Spielzeit von etwa 60 Minuten und bewegt sich somit – nicht zuletzt auf Grund seiner episodenhaften Erzählweise – gefühlsmäßig irgendwo zwischen Kurzfilm und Spielfilm. Die Art und Weise, wie diese Episoden miteinander verwoben sind, und wie das blutige Finale in Szene gesetzt ist, ist phänomenal und weist eine filmische Reife auf, die weit über dem liegt, was ich bisher von Studentenfilmen gesehen habe. Chain packt einen von der ersten Minute und lässt einen nicht wieder los; für mich einer der besten Filme die dieses Jahr auf dem Japanischen Filmfest liefen!
Nicht nur die Geschichte und ihre dramaturgische Umsetzung sind erstklassig, auch Inszenierung und Ästhetik sind mit ihrem halbdokumentarischen Charakter absolut stimmig. Einzige Schwäche ist die etwas zu kurz gekommene Verbindung zwischen dem Amokläufer und den Schülerinnen. Würde hier noch etwas nachgearbeitet, hätte der Film mit einer Laufzeit von vielleicht 70, 75 Minuten einen Release absolut verdient! Wie in Falling Down werden auch in Chain gesellschaftliche und familiäre Probleme und Fehlentwicklungen thematisiert, die aber sehr viel realer, greifbarer und alltäglicher sind. Anders als der Schumacher-Film wird die Entstehungsgeschichte des Amoklaufs dezidiert aus der Perspektive mehrerer Betroffener unter die Lupe genommen. Überhaupt hat der Film keine politische Attitüde, bleibt viel mehr auf der menschlich-persönlichen Ebene und wirkt sehr authentisch und realistisch.
Im Gegensatz zu Falling Down und anderen westlichen Filmen zum Thema ist hier – wie auch bei den geschilderten realen Amokläufen – ein Messer die Tatwaffe, und Kajiya setzt diesen Umstand exzellent ein, um dem Wahnsinn der Tat auf schauerliche Weise Nachdruck zu verleihen. Zudem berichtete er nach dem Film, dass Amokläufe in Japan fast nie mit Schusswaffen durchgeführt werden und die Täter daher eigentlich immer festgenommen werden können.
Damit sind diese Wahnsinnstaten auch Ausdruck der unterschiedlichen Gewaltkultur in Japan und dem Westen. Während durch die Dominanz von Schusswaffen im Westen Gewalt stärker technisiert, unmittelbarer und damit „leichter ertragbar“ wird, sind Stechwaffen nach wie vor sehr archaisch, verursachen große körperliche Anstrengung und durch ihre allgemeine Verfügbarkeit (ein großes Brot- oder Fleischermesser gibt es in praktisch jedem Haushalt) auch eine ganz andere, direktere und damit viel schockierendere Form von Bedrohung, die auf leisen Sohlen daherkommt und dann wie aus dem Nichts über die Menschen hereinbricht.
Wie in Akihabara heute.
5 Kommentare for "Chain"
wow 😐 ich hatte auch sofort an den Film denken müssen, als ich den Zeitungsartikel im Abendblatt gelesen hatte. So sieht man einmal wieder, wie schnell derlei Angriffe passieren können. Und wir haben angst vor irgendwelchen Terroristen -_- Wir sollten doch vielleicht erstmal vor unserer Haustür aufräumen und die wirklichen, gesellschaftlichen Probleme sehen.
Chain war für einen Studentenfilm wirklich sehr gelungen und auch die nachfolgende Fragerunde im B-Movie half, die Intention des Regisseurs besser zu verstehen.
Hm… wo kann man diesen Film denn zu sehen kriegen?
Ja, ich hatte zunächst gar nicht vor, eine so ausführliche Kritik zu Chain zu schreiben, aber als ich dann die Nachrichten gehört und die Artikel gelesen habe, hat er sich natürlich sehr aufgedrängt. Sehr bedrückend fand ich besonders, dass sich das ausgerechnet am Jahrestag des Massakers ereignete, das die ursprüngliche „Inspiration“ für den Film abgab.
Was mir an Chain auch sehr gut gefiel: Der Täter wurde nicht in eine der üblichen pauschalen Ecken gedrängt sondern war einfach ein normaler Familienvater, dessen Leben aber total den Bach runterging und in dem irgendwann einfach etwas zerbrochen ist. Keine Videospiele, keine mysteriösen Websites, keine Sekten, einfach nur die Unerträglichkeit des Lebens.
@ Charon
Ich fürchte, das wird ganz ganz schwer, den nochmal irgendwo zu sehen. Die einzige „Hoffnung“ könnte vielleicht sein, dass er vor dem Hintergrund der aktuellen Ereignisse einen Verleih findet. Verdient hätte der Film es auf jeden Fall!
Das wäre schon ein wenig makaber oder? klar: Aufklärung ist gut, aber das Problem ist auch die Laufzeit von knapp 60 Minuten. Zielen die Studenten eigentlich in irgendeiner Hinsicht darauf, diese Werke weit zu verbreiten oder nur als Studienprojekte für gute Noten zu machen? Habe das in den Interviews leider nie rausgehört und war selbst zu schüchtern, zu fragen q_q
Wo ich gerade hier schreibe, noch ein paar Randanmerkungen: Das Filmfest lief wirklich gut ab, die filme waren allgemein ziemlich unterhaltsam und es hat mich gefreut, dem ganzen auch in diesem Jahr wieder beiwohnen zu können. Danke an dieser Stelle noch einmal 🙂 auch für den Webmaster mit Engagement zur Aufbereitung des Onlineauftrittes.
Gruß
Patrick
ja, makaber wäre das irgendwo schon, aber hat das schon mal einen Producer oder Marketing Manager gehindert? 😉
Über Geld und Vermarktung der Filme hab ich mit den Studenten zwar nicht gesprochen, aber ich kann mir nicht vorstellen, dass sie das schon im Kopf hatten, als sie die Filme gemacht haben. Die waren ja als künstlerische Abschlussarbeit gedacht, also als ein Projekt, bei dem man sich kreativ austoben kann und Dinge auch einfach mal probiert. Hat man ja z.B. bei Depend on the deserted house gesehen, der war ja total abgefahren! Auch die Formate und Spielzeiten sind für eine breite Veröffentlichung nicht geeignet.
Und dann sag ich im Namen des ganzen Teams: Danke! Hat uns auch allen viel Spaß gemacht! Mein persönliches Fazit kommt demnächst hier im Blog.
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