31 Jan
Originaltitel: Kakushi-toride no san akunin (1958), von Akira Kurosawa
Japan zur Zeit der Bürgerkriege: Die beiden Bauern Matakishi (Kamatari Fujiwara) und Tahei (Minoru Chiaki) haben sich in der Hoffnung auf schnellen Reichtum den Truppen angeschlossen, fanden sich aber auf der Verliererseite wieder. Doch als sie dem Gefangenenlager entkommen, entdecken sie Reste des Goldschatzes des besiegten Akizuki-Klans. Mit Hilfe dieses Schatzes wollen General Rokurota Makabe (Toshiro Mifune) und die überlebende Prinzessin Yuki (Misa Uehara) die Regentschaft ihres Klans wiederherstellen. Rokurota macht sich die beiden Bauern durch Zwang und die Förderung ihrer Gier als Lastträger zunutze, denn es gilt, erst das Feindesland unentdeckt zu durchqueren.
Doch die beiden Tolpatsche versuchen ständig, dem charismatischen General ein Schnippchen zu schlagen und bringen dadurch wiederholt die gesamte Gruppe in Gefahr, entdeckt zu werden. Nur durch Rokurotas Ideenreichtum, Wagemut und Kampfkraft, verbunden mit einer gehörigen Portion Glück, gelingt es der Gruppe, in diversen scheinbar ausweglosen Situationen doch noch ein Hintertürchen zu finden. Doch als sie kurz vor der Grenze zu einem befreundeten Fürstentum in Gefangenschaft geraten, scheint es keinen Ausweg mehr zu geben.
Kurosawa erzählt die Geschichte vom entgegengesetzten Ende der sozialen Pyramide, womit er auch die Konventionen des Chanbara-Genres auf den Kopf stellt. Anstatt die Zuschauer in die Perspektive der Prinzessin oder eines aufrechtes Samurais zu versetzen, verfolgen wir die Geschehnisse aus der Perspektive der beiden Bauern, die sich ähnlich wie Laurel und Hardy permanent zanken und kabbeln, aber eigentlich dicke Freunde sind. Ständig jammernd, feige und auf ihren eigenen Vorteil bedacht stellen diese beiden so ziemlich das genaue Gegenteil des traditionellen Helden dar. Damit knüpft Kurosawa an seine in Die Sieben Samurai begonnene Dekonstruktion des Samurai-Genres an und führt diese noch einen Schritt weiter.
Außerdem fügt er mit diesem Kniff der traditionellen Abenteuer- und Actiongeschichte auch Elemente einer Buddy-Komödie hinzu. Eine sehr moderne Mischung, die in den letzten Jahrzehnten in allen erdenklichen Kombinationen ausprobiert wurde und die hier sehr gut funktioniert, nicht zuletzt durch den Kontrast mit Mifunes General. Der liefert sich ein psychologisches Dauerduell mit den beiden, die er mit allerlei Kniffen kontrollieren muss, über die er gleichzeitig aber auch schmunzelt.
Für Mifune ist der aufrechte, unbezwingbare Samurai-General eine Paraderolle. Wie eine Naturgewalt fegt er alles hinweg, was sich seinem Ziel, der Wiedereinsetzung der Prinzessin, entgegenstellt. Zugleich bringt er aber auch persönliche Opfer und liefert seine eigene Schwester als Doppelgängerin an die Gegner aus. Aber dieses Ziel hat er sich nicht selbst gesetzt, es wurde ihm durch seine sozialen Verpflichtungen, seine Loyalität gegenüber dem Haus Akizuki, auferlegt. Insofern unterscheidet sich Roturoka von anderen Helden Kurosawas, da er sich den sozialen Strukturen unterordnet.
Doch der Film erzählt auch die Geschichte einer willensstarken, aber verwöhnten und verzogenen jungen Prinzessin, die ihren General Rokurota auch mal vor ihren Beratern zusammenstaucht. Auf der gefahrvollen, heimlichen Reise durch das Feindesland macht sie ihre ersten Erfahrungen außerhalb des Hofes und lernt viel über die Menschen, das Leben und dessen Wert. Dieser unübersehbare charakterliche Reifeprozess ist es letztlich, der sie vor dem sicheren Tod rettet und es ihr erst ermöglicht, die Mission zu Ende zu führen und ihrem Haus wieder zu Ansehen zu verhelfen.
Für Die verborgene Festung nutzte Kurosawa zum ersten Mal das Breitbild-Format und es zeigt sich, dass seine Ästhetik der langen Tele-Aufnahmen, der Einbeziehung grandioser Landschaften und seine Bildkomposition davon sehr profitierten. Schön zu sehen ist dies beispielsweise in den monumentalen Kampfszenen (die mit ihren Massenszenen auf der Treppe einer zerstörten Burg wie eine Hommage an Sergej Eisenstein wirken), bei Arrangements der Charaktere auf verschiedenen Bildebenen oder der Eröffnungssequenz mit den beiden sich in der Wüste zankenden Bauern.
Die Mischung aus Abenteuer, Action und den beiden tolpatschigen Streithähnen kam beim Publikum sehr gut an und wurde der kommerziell erfolgreichste Film Kurosawas. Aber Die verborgene Festung war auch darüber hinaus eines seiner einflussreichsten Werke: Die Geschichte war später maßgebliche Inspiration für Krieg der Sterne, Matakishi und Tahei wurden zu Vorbildern für R2D2 und C3PO und mehrere Szenen finden sich in George Lucas‘ Blockbuster wieder.
Kurosawas Erwartung an sich selbst war es immer, mit einer unterhaltsamen aber zugleich tiefgründigen Geschichte Zuschauer mit den unterschiedlichsten Ansprüchen gleichermaßen in seinen Bann zu ziehen. Meiner Meinung nach ist ihm dies hier so gut gelungen wie in kaum einem anderen seiner Filme.
(Dies ist die überarbeitete und ergänzte Version eines Beitrags, den ich ursprünglich am 30. Oktober 2006 veröffentlicht habe.)
29 Jan
Die finalen Zahlen der Motion Picture Association of Japan sind raus. Zeit also, um einen Blick auf die Trends des Jahres 2010 in den japanischen Kinos zu werfen. Der erste dieser Trends, der beileibe kein japanisches Phänomen war, wird gleich beim ersten Blick auf die erfolgreichsten Filme des Jahres offensichtlich:
Drei US-Filme an der Spitze der Charts, das gab es zuletzt 2006 mit dem Trio aus Harry Potter, Pirates of the Caribbean 3 und The Da Vinci Code, nur dass die Nachfolger von 2010 allesamt 3D-Filme waren. Ein Trend, der im letzten Jahr das Geschehen an den Kinokassen rund um die Welt prägte und auch dafür sorgte, dass die Japaner mit 220 Mrd Yen mehr Geld an den Kinokassen ausgaben als jemals zuvor. Dass Hollywood mit seinen gigantischen Ressourcen dabei den Vorreiter macht, war zu erwarten. Spannend wird es zu sehen, ob die nachfolgenden japanischen 3D-Filme (wie etwa der für 2012 angekündigte Always 3) noch von dem Neuigkeitseffekt profitieren und an die kommerziellen Erfolge anknüpfen können.
3D und Franchises dominierten die Kino-Charts
Bei einem Blick speziell auf die Top10 der japanischen Filme fällt wieder einmal die große Zahl an Fortsetzungen auf. Mit Ausnahme von Arrietty und dem erfolglos ins Oscar-Rennen gestarteten Confessions waren alle anderen japanischen Top-Filme Neuauflagen eines Franchise. Mit Nodame Cantabile 1 & 2 schafften es sogar beide Kino-Auskopplungen der gleichnamigen, höchst erfolgreichen Manga- und TV-Serie unter die Top10. Der Trend, etablierte Stories und Charaktere aus anderen Medien auf der Kinoleinwand weiterzuverwerten, hält also ungebrochen an.
Von dieser Entwicklung mag man halten was man will, sie scheint auf jeden Fall erfolgreich dafür zu sorgen, dass trotz des Hypes um die 3D-Filme aus Hollywood die japanischen Filme ein weiteres Jahr ihren Heimatmarkt verteidigen und 53,6% der Einspielergebnisse einstreichen konnten. Die importierten Filme konnten mit 102 Mrd Yen ihr Ergebnis gegenüber den Vorjahren zwar deutlich steigern, dies dürfte aber weitgehend auf den 3D-Effekt zurückzuführen gewesen sein.
Japanische Filme verteidigen ihren Heimatmarkt
Während die heimischen Filme ihren Rekordumsatz aus dem Vorjahr nochmals leicht übertreffen konnten (118 Mrd Yen gegenüber 117), sank dafür jedoch die Zahl der in den Kinos gezeigten japanischen Filme deutlich von 448 auf 408. Was aber immer noch ein fantastischer Wert ist, bedeutet er doch, dass japanische Filmemacher jede Woche durchschnittlich 8 Filme neu in die Kinos brachten.
Doch es gibt auch Wolken am Horizont. Dazu gehört der zwar verlangsamte, aber scheinbar noch nicht enden wollende Anstieg der Anzahl an Kinoleinwänden. Alle Beobachter gehen schon seit längerem davon aus, dass dieser Trend früher oder später zu einem massiven Kinosterben führen muss – vielleicht lösen nun die technisch anspruchsvollen 3D-Filme einen Verdrängungswettbewerb aus, den viele Kinos nicht überleben. Wir werden sehen.
Ein weiterer bedenklicher aber keineswegs neuer Trend ist die Vorherrschaft von Toho. Unter den 29 in Japan produzierten Filmen, die ein Einspielergebnis von mehr als 1 Milliarde Yen erreichten, stammen drei von Shochiku, fünf von Toei, zwei aus der japanischen Warner-Niederlassung und alle anderen von Toho. Unter die Top10 schaffte es gerade mal ein Film (Confessions), der nicht von Toho produziert oder vertrieben wurde.
Dominanz von Toho hält an
Da Toho nach eigenen Angaben 75 Mrd Yen an den Kinokassen umsetzte, hält dieses eine Studio einen Anteil von fast zwei Dritteln am Einspielergebnis japanischer Filme. Wie gesagt, das ist nichts Neues, sondern vielmehr schon so etwas wie eine Konstante im japanischen Filmmarkt. Es bleibt aber die Frage, wie „gesund“ eine solche Dominanz sein kann. Spannend dürfte die Entwicklung in 2011 werden, denn Toho hat kürzlich angekündigt, die Eintrittspreise in seinen Kinos um ca. 20 Prozent senken zu wollen. Angesichts des horrenden Preisniveaus (15 Euro und mehr für eine Kinokarte sind in Japan keine Seltenheit) kann man das super finden, aber auf der anderen Seite könnte das für kleine Kinos und Verleiher den Ruin bedeuten.
Lassen wir uns überraschen!
Original: Hatsujō kateikyōshi: sensei no aijiru (2003) von Mitsuru Meike
Das Callgirl Sachiko (Emi Kuroda) gerät in eine Schießerei und erhält eine Kugel in die Stirn. Doch statt Sachiko zu töten, hat das Geschoss einige ungewöhnliche Auswirkungen: Sinneswahrnehmungen erreichen sie manchmal nur verzögert, sie wird zu einer Intelligenzbestie und kann sogar in die Zukunft sehen. Obendrein findet sie in ihrer Tasche eine Replik des Zeigefingers von George W. Bush, die bei der Schießerei eigentlich an einen nordkoreanischen Spion übergeben werden sollte.
Der Präsidentenfinger entwickelt ein erstaunliches Eigenleben und findet Gefallen an Sachiko, die unterdessen bei einem Philosophieprofessor und dessen Familie unterkommt. Dort nutzt sie ihre erotischen Talente, um den Sohn des Hauses für seine Mathehausaufgaben zu motivieren. Lange bleibt ihr Aufenthalt dem Spion allerdings nicht verborgen, und Sachiko wird klar, was die wahre Bestimmung des Fingers ist und was der nordkoreanische Geheimdienst damit vorhat.
Ich werde aus diesem Film nicht so recht schlau. Manchmal habe ich das Gefühl, dass hier einfach die Vermarktungsfähigkeit eines vergleichsweise öden Pinkfilms mit ein paar Seitenhieben auf Bush gesteigert werden sollte, dann wieder sehe ich darin eine hochgradig kreative und schräge Veralberung des ganzen Pinkfilm-Genres mit einer politischen Message als Krönung.
Was spricht für die erste Variante? Zunächst mal die ganzen uninspirierten Sexszenen, die nach Schema F alle Klischees des Genres abhaken: Rollenspielsex als Lehrerin mit einem Schüler, Sex mit dem verwirrten Professor, Sex mit nem Polizisten, Selbstbefriedigung im Auto, ne kleine Vergewaltigung dazwischen. Spätestens in der dritten, immergleichen Sexszene holt man sich dann mal nen Snack aus dem Kühlschrank, um die Zeit totzuschlagen.
Aber dann wird uns aus heiterem Himmel diese geniale Szene auf dem Dach eines Hochhauses um die Ohren gehauen: Sachiko wird von Bushs Finger verfolgt, der schließlich in sie eindringt. Während sie sich auf dem grünen Dach windet, dirigiert im Hintergrund Bush aus einem Fernseher heraus den Finger – Moment, wie kam der Fernseher auf das Dach? Egal! Dazwischen werden dann noch Bilder aus dem Irakkrieg und der berühmte Flugzeugträger-Auftritt Bushs montiert. Die Bildkomposition, die verschiedenen technischen und stilistischen Mittel, die Dynamik dieser Szene und natürlich die hammerharte politische Message machen diese Szene einfach extrem beeindruckend!
Dass Sachiko Hanai so etwas wie ein Meta-Pinkfilm ist und sich heimlich über das Genre lustig macht, würde ich auch aus den augenzwinkernden Seitenhieben rauslesen, die immer wieder eingestreut sind. Angefangen gleich in der ersten Szene mit dem Typen, der gar nicht mehr aufhören kann zu ejakulieren. Oder die abstrusen Situationen, die immer wieder durch die zeitversetzte Sinneswahrnehmung Sachikos entstehen. Oder der Spion, der ihr in bester Stalker-Manier in ihrer Wohnung auflauert, sich zu ihren Handy-Fotos einen runterholt und dann aber vor lauter Langeweile anfängt, aufzuräumen und die Wäsche zu waschen.
Zu den stärksten Szenen gehört eine gegen Ende des Films. Sachiko und der Spion haben den Apparat entdeckt, der mittels Bushs Finger die Fernsteuerung der amerikanischen Atomraketen ermöglicht. Um dem Spion die Bedeutung des Geräts und den Plan der Nordkoreaner klarzumachen, greift sie nun zu denselben Motivationstricks wie zuvor in den Lehrer-Rollenspielen und zieht sich bei jedem richtig gelösten Rätsel weiter aus. Ich tendiere dazu, das für einen ziemlich cleveren – und komischen – Seitenhieb auf Standardmotive sowohl aus dem Pinkfilm als auch dem Spionagefilm zu halten…
Also, womit haben wir es hier zu tun? Mit einem Marketingtrick, der mittels einiger pseudo-intellektueller Sprüche und ein paar Bush-Videos Kinogängern und Festivalkritikern in aller Welt einen öden Pinkfilm als große Kunst verkaufte? Oder einem visionären Meisterwerk, das mit simplen aber kreativen Mitteln eine Antikriegsagenda mit politischer Satire verbindet, sich dazu eines Pinkfilms bedient und dabei auch noch dieses Genre persifliert? Wahrscheinlich liegt die Wahrheit irgendwo dazwischen – aber selbst wenn das alles nur ein Marketingtrick war, dann war es auf jeden Fall ein verdammt genialer!
22 Jan
Ach, Berlin! Eine tolle Stadt, die eigentlich immer eine Reise wert ist. Freunde des japanischen Films dürfen sich derzeit ganz besonders auf Berlin freuen, denn vom 10. bis 20. Februar läuft die Berlinale und auch wenn dieses Jahr im Wettbewerb keine japanischen Beiträge vertreten sind, in der Sektion Forum ist Japan dafür sehr präsent. Der Titel des 41. Forums der Berlinale lautet „Risse in der Fassade“, der sich eigentlich wohl auf gesellschaftlich-politische Entwicklungen beziehen soll, aber irgendwie sind wohl auch viele familienbezogene Themen drin. Wie auch immer, entscheidend ist, was über die Leinwand flimmert!
Wir können uns freuen auf:
Zusätzlich gibt es noch Special Screenings von 8 Filmen des 1980 verstorbenen Minoru Shibuya, eines Schülers von Mikio Naruse und Heinosuke Gosho, der in den 50er und Anfang der 60er Jahre sehr erfolgreiche sozial angehauchte Komödien und Dramen drehte. Außerdem ist er außerhalb Japans bisher kaum bekannt, ich musste mich auch erstmal über ihn informieren. Wer mehr über Shibuya Minoru und vor allem über seine Filme erfahren möchte, bekommt reichlich Gelegenheit:
Das finale Programm steht noch nicht fest, daher fehlt auch noch der genau Spielplan. Ich hab mir jedenfalls schon mal Urlaub genommen und stehe in den Startlöchern 🙂
Achja, und wer schon in Berlin ist, sollte sich unbedingt auch noch die Ausstellung Proto Anime Cut ansehen. Die hat dieser Tage eröffnet und läuft bis 6. März. Gezeigt werden Originalzeichnungen von solch genialen Animekünstlern wie Hideaki Anno, Koji Morimoto und Mamoru Oshii! Ausstellungsort ist das Künstlerhaus Bethanien in Kreuzberg, der Eintritt ist frei.
16 Jan
Original: Kokoro (1955) von Kon Ichikawa
Im Sommer 1912 freundet sich der Student Hioko (Shōji Yasui) mit dem älteren, zurückgezogen lebenden Intellektuellen Nobuchi (Masayuki Mori) an, den er einfach nur Sensei nennt. Es dauert nicht lange, da wird Hioki bewusst, dass ein dunkler Schatten auf der Vergangenheit seines Sensei liegt, der Sensei regelrecht von innen auffrisst und ihn immer zynischer und abweisender werden lässt. Das belastet natürlich auch dessen Ehe und seine Frau Shizu (Michiyo Aratama), die sich schwere Vorwürfe macht, letztlich aber selbst genauso im Dunkeln tappt wie Hioko.
Als Hiokos Vater schwer erkrankt, reist er für einige Zeit nach Hause zu seiner Familie. Kurze Zeit nach seiner Ankunft stirbt der Kaiser Meiji, Trauer senkt sich über das ganze Land. Einige Generäle folgen dem Kaiser sogar in den Tod und begehen Selbstmord. Eines Tages erhält Hioko einen dicken Brief seines Sensei, in dem dieser seine Lebensgeschichte berichtet. Es stellt sich heraus, dass Nobuchi als Student von seinen eigenen Verwandten um sein Erbe betrogen wurde und später die Frau heiratete, in die sein bester Freund Kaji (Tatsuya Mihashi) verliebt war – worauf Kaji Selbstmord beging. Nobuchis Brief schließt mit der Ankündigung, ebenfalls dem Kaiser in den Tod folgen zu wollen.
Der Film basiert auf dem gleichnamigen Roman von Natsume Sōseki, der 1914, also kurz nach dem tatsächlichen Tod des Kaisers, erschien. Ich habe hier zum ersten Mal einen japanischen Film gesichtet, dessen literarische Vorlage ich bereits kannte, was meine Wahrnehmung und Beurteilung des Films doch erheblich beeinflusst hat. Deshalb möchte ich auch als erstes mit dem Vergleich von Buch und Film loslegen.
In vieler Hinsicht ist Kokoro (was hier übrigens so viel wie „Der Kern der Dinge“ bedeutet) eine ziemlich getreue Adaption des berühmten Romans. Viele Szenen und auch Dialoge aus dem Buch finden sich fast exakt im Film wieder. Dem Film ist jedoch das Bemühen anzusehen, die starre Struktur des Buchs, dessen dritter Teil allein aus dem langen Brief Nobuchis besteht, aufzubrechen und so die Story ansprechender und mitreißender zu gestalten. Dabei werden zwei größere Abschnitte ausgespart bzw. stark gerafft: Zum einen, wie sich Hioki und Nobuchi kennenlernten (das Buch beginnt mit ihrer ersten Begegnung an einem Strand, im Film taucht diese Szene kurz als Flashback auf) und zum anderen, wie Nobuchi während des Studiums seine spätere Frau kennenlernte. Und diese letzte Änderung hat meiner Ansicht nach gravierenden Einfluss auf die Wirkung der von Nobuchi in seinem Brief geschilderten Ereignisse und damit auch auf die Wahrnehmung seines Charakters und auf die zentralen Fragen, die Buch und Film aufwerfen.
Im Buch enthält Nobuchis Brief nämlich eine lange und eindringliche Schilderung, wie er sich in Shizu verliebte und wie sehr er unter seiner Schüchternheit litt, die ihn dazu verdammte, seine Gefühle für sich zu behalten. Umso größer dann Nobuchis Schock, als sein Freund Kaji ihm seine Liebe zu Shizu gesteht. Im Film wird dagegen nur vage angedeutet, dass Nobuchi Gefühle für Shizu haben könnte. Als er angesichts von Kajis überraschendem Geständnis regelrecht in Panik verfällt und zunächst dem streng religiösen Kaji seine Gefühle auszureden versucht und gleichzeitig um Shizus Hand anhält, hat dies im Film – ohne die Vorgeschichte – nun eine ganz andere Wirkung als im Buch.
Im Buch wird nämlich mehrfach herausgestrichen, dass es seine Liebe zu Shizu war, die ihn zu diesen Handlungen getrieben hat. Somit wird sein Verrat an Kaji gewissermaßen zum Sündenfall der eigentlich so reinen, hehren Liebe und bekommt damit eine ganz neue Dimension: Wenn selbst Liebe den Menschen zu solchen Taten befähigt, was ist dann überhaupt noch Gutes am Menschen? Diese Dimension fehlt dem Film.
Dafür öffnet die Straffung der Geschichte im Film die Freundschaften Nobuchis zu Hioko und besonders zu Kaji für eine homosexuelle Ebene. Mir selbst hat sich beim Sehen des Films diese Interpretation zwar nicht aufgedrängt, aber wenn man – wie einige Kritiker – darüber nachdenkt, kann man zahlreiche Anhaltspunkte für diese Sicht im Film finden. Dies lässt die Selbstzweifel und -kritik Nobuchis in einem völlig anderen Licht erscheinen, denn nun wird Nobuchi in seinen Konflikt gerissen, weil er keine Möglichkeit sieht, seine Homosexualität einzugestehen und offen zu leben. Die Wurzel der Niedertracht liegt somit in den gesellschaftlichen Verhältnissen, die ihn zum Leben einer Lüge zwingen, und weniger im Wesen des Menschen an sich begründet.
Welcher Sichtweise man sich auch anschließt, eines dürfte klar sein: Kokoro ist ein sehr philosophischer und schwermütiger Film, ein ziemlicher Stimmungskiller. Kein Film, den man sich popcornfutternd mit Freunden anschauen will. Er ist aber auch ein großartiger Film, was nicht zuletzt an der genialen Literaturvorlage liegt. Aber auch unabhängig davon ist der Film ein eigenständiges Kunstwerk. Sei es die durch eine relativ unscheinbare Straffung der Handlung hinzugefügte Möglichkeit der Homosexualität, die den Film für eine ganz neue Botschaft öffnet. Sei es die Neustrukturierung und Auflockerung der Erzählung, die das Problem des endlos langen Briefes sehr schön löst.
Vor allem Masayuki Mori und Michiyo Aratama sind es aber, die dem Film Leben einhauchen und unendlich nuanciert und einfühlsam die vielen angedeuteten ebenso wie die offen zutage tretenden Konflikte und Emotionen darstellen. Man mag zwar dem über 40jährigen Mori auch als junger Student sein Alter ansehen, aber die Verwandlung des jungen und unbeschwerten Nobuchi in den von Schuld und Selbstzweifeln gebeugten Sensei spielt er fantastisch. Noch mehr überzeugt hat mich aber Michiyo Aratama, die ich nur aus weniger bedeutenden Rollen kannte und die sowohl als junges Mädchen wie als treusorgende, vorbildliche und dennoch frustrierte Ehefrau eine schlicht grandiose Vorstellung abliefert.
Absolut angemessen und einfühlsam ist auch die zurückhaltende Regie Ichikawas, der vor allem seine Schauspieler den Film tragen lässt, und dennoch mit einigen wenigen Bildern die Konflikte und Gefühle seiner Darsteller unterstreicht. Ein schönes Beispiel dafür findet sich in einer Szene, in der Nobuchi bei strömendem Regen zu seiner großen Überraschung Kaji und Shizu begegnet. Die aufflackernde Rivalität, die Eifersucht und Ungewissheit, was diese Begegnung zu bedeuten hat, lässt sich wunderbar an den Gesichtern ablesen. Doch die größeren Konsequenzen veranschaulicht Ichikawa mit einem Bild: Damit die beiden in der überschwemmten Straße passieren können, macht Nobuchi einen Schritt von den ausgelegten Planken in den Matsch der Straße. Sein Fuß versinkt fast in Schlamm und Dreck, so wie auch er, seine Seele und sein Gewissen, im Dreck versinken werden durch sein Abweichen vom „rechten Weg“.
Ist der Mensch in seiner Natur schlecht und bringt selbst die reinste Liebe nur Egoismus und Eifersucht in ihm hervor? Oder ist die Umwelt schlecht und bringt den Menschen dazu, selbstsüchtig zu handeln? Egal wie man diese uralte Frage persönlich sieht, Kokoro als Film wie als Buch beleuchten sie auf eindrückliche Art und interessanterweise aus sehr unterschiedlichen Perspektiven, trotz nur minimaler Änderungen an der literarischen Vorlage. Dass der Film dennoch ganz andere Interpretationsansätze erlaubt, spricht klar für seine Qualität. Kokoro wird zu Unrecht oft übersehen neben andereren, bekannteren Werken Kon Ichikawas.
OK, so ganz neu ist diese Neuigkeit nicht, die ersten Veröffentlichungen der neuen Ozu-Reihe des British Film Institute (BFI) sind schon im vergangenen Sommer erschienen. Weil diese Reihe bisher aber völlig unter meinem Radar war, mache ich jetzt eben das große Faß auf. Außerdem stehen in der nächsten Woche gleich zwei neue Veröffentlichungen an!
Warum die Aufregung?
Aus zwei Gründen war ich ganz aus dem Häuschen, als ich auf diese neue Reihe aufmerksam wurde: Erstens kommen sämtliche Veröffentlichungen der Reihe als „Dual Format Edition“, bestehen also sowohl aus einer DVD wie einer Bluray. Und zweitens ist jeder der namengebenden bekannten Filme einer Edition mit einem weniger bekannten gekoppelt (der allerdings nur auf DVD vorliegt).
Bisher erschienen sind:
Late Spring (DVD & BD) + The only Son (DVD)
Early Summer (DVD & BD) + What did the lady forget (DVD)
Tokyo Story (DVD & BD) + Brothers and Sisters of the Toda Family (DVD)
Am 17. Januar erscheinen außerdem:
Good Morning (DVD & BD) + I was born, but… (DVD)
Equinox Flower (DVD & BD) + There was a father (DVD)
Bei Preisen von deutlich unter 20 GBP auf Amazon UK stellen diese Editionen derzeit so ziemlich den besten Grundstock für eine schöne Ozu-Sammlung dar!
Dieses Mal ist es Marie, die einen vor Jahren gesehenen Film sucht und sich nicht mehr an den Titel erinnern kann. Eine zentrale Rolle im gesuchten Film spielt das Anfang der 1990er „populär“ gewordene Phänomen des enjokōsai, das sogenannte „bezahlte Dating“, bei dem Schülerinnen sich mit erwachsenen Männern verabreden und dafür entlohnt werden. Manchmal sind diese Dates ganz harmlos, aber oft gehen sie fließend in Prostitution über.
Das Phänomen trat nach dem Ende des japanischen Wirtschaftsbooms auf und fand schnell Eingang in die Kultur. Auch in zahlreichen Filmen wurde es aufgegriffen, zu den berühmtesten Beispielen gehören Shunji Iwais All about Lily Chou-Chou und Hideaki Annos Love and Pop. Doch diese beiden scheinen es nicht zu sein, nach denen Marie auf der Suche ist. Hier ist ihre Beschreibung des Films:
Im Film geht es um 2 Schülerinnen, die eng befreundet sind und eine der beiden sich mit Männern trifft und gegen Geld mit ihnen schläft. Irgendwann verliebt sie sich auch in einen ihrer Freier, doch der will später nichts mehr von ihr wissen. Irgendwann stirbt das Mädchen und ihre beste Freundin fährt damit fort, wo sie aufgehört hat, gewissermassen um sich zu „rächen“. Als der Vater der Freundin das herausfindet, ist er erschüttert und sucht ihre Freier auf um sie bloß zu stellen, dabei bringt er auch einen um (soweit ich mich erinnern kann). In der Endsequenz befindet sich der Vater und die Tochter an einem See und der Vater weiß, daß ihn gleich die Polizei abholen kommt, also zeigt er seiner Tochter noch kurz wie man mit dem Auto umgeht. Dann kommt auch schon die Polizei und nimmt den Vater mit, alleine bleibt noch die Tochter, die dann mit dem Auto wegfährt.
Na, wer kann Marie auf ihrer Suche helfen?
11 Jan
Original: Karumen kokyo ni kaeru (1951) von Keisuke Kinoshita
Wie ich erst vor wenigen Tagen mitbekommen habe, ist zum Ende des vergangenen Jahres, am 28. Dezember 2010, Hideko Takamine im Alter von 86 Jahren verstorben. Was eignet sich besser für einen kleinen Tribut an diese außerordentliche Schauspielerin, als eine ihrer unvergesslichsten Rollen zu würdigen?
Kurz nach dem Krieg kehrt die Tänzerin Lily Carmen (Hideko Takamine) aus Tokyo in ihr Heimatdorf zurück. Dort ist sie eine Berühmtheit, nur ihr Vater Shōichi (Takeshi Sakamoto) schämt sich zutiefst für sie. Nach ihrer Ankunft – sie hat noch ihre an Liebeskummer leidende Freundin Akemi (Toshiko Kobayashi) im Schlepptau – wird recht schnell klar, warum: Auch wenn Carmen und Akemi hochtrabend von ihrer „Kunst“ reden, letztlich sind die beiden Stripperinnen.
Doch zunächst sorgen sie vor allem mit ihren extravaganten, farbenfrohen Auftritten für Aufsehen und Bewunderung. Als sie sich allerdings bei einem Sportfest blamieren (ein schlecht sitzender Rock spielt dabei eine zentrale Rolle), sehen sich Carmen und Akemi plötzlich als Lachnummer missverstanden. Um die Dorfbewohner von der Ernsthaftigkeit ihrer „Kunst“ zu überzeugen, wollen sie eine Vorführung ihres Könnens geben.
In diese Haupthandlung eingewoben sind verschiedene kleine, mal ernste, mal komische Nebenhandlungen, die teilweise fast sketchartigen Charakter annehmen. Dabei geht es immer wieder um die Frage, was Kunst ausmacht. Denn das Dorf hat mit einem im Krieg erblindeten Lehrer neben Carmen noch einen weiteren „Künstler“ hervorgebracht. Dieser komponiert Heimatlieder auf seiner Orgel und repräsentiert für viele den wahren, vergeistigten Künstler, im Gegensatz zu den schrillen und ihren Körper als Einsatz nutzenden beiden Frauen.
Carmen kehrt heim markierte das 30jährige Jubiläum des Produktionsstudios Shochiku und war zugleich der erste Farbfilm des Landes. Er war also gleich in doppelter Hinsicht ein Prestigeprojekt, und das sieht man dem Film an. Zusammen mit den verschiedenen Tanz- und Gesangseinlagen sowohl von Carmen und Akemi wie auch dem Lehrer und dem Schulrektor, wirkt der Film nämlich selbst ein bisschen wie eine Revueshow.
Eine Revueshow, bei der allerdings nicht aufwändige Sets und Dekorationen den Rahmen abgeben und die Zuschauer beeindrucken sollen, sondern die Schönheit der japanischen Berge. Grüne Wiesen unter einem blauen Himmel, ein schwarzer Vulkan im Hintergrund und dann als Farbtupfer die beiden Exotinnen aus Tokyo, so sehen viele Szenen in Carmen aus. Fast der gesamte Film spielt unter freiem Himmel und wurde auch zum großen Teil vor Ort gedreht statt im Studio. Das Ergebnis kann sich absolut sehen lassen: Auch wenn man bei einem 60 Jahre alten Film natürlich Abstriche machen muss, er sieht auch heute noch toll aus! Die Farben scheinen kaum etwas von ihrer Brillanz verloren zu haben und abgesehen von ein paar Kratzern im Filmmaterial wird das Sehvergnügen kaum getrübt.
Großes Vergnügen hatten offenbar auch die Darsteller, allen voran Hideko Takamine. Sie spielt nicht nur großartig das naive Dummchen vom Lande, das sich jetzt wunder was auf seine „Künstlerlaufbahn“ in Tokyo einbildet und auf die Dörfler herabschaut, ohne zu merken, dass diese sie hinter ihrem Rücken auslachen. Sie trällert und singt auch mit solch inbrünstiger Begeisterung ihre Schlagernummern und hüpft und tanzt mit so großer Freude über die Felder, das muss einfach anstecken!
Zu den guten Aspekten des Films gehört auch, dass beide Seiten gleichermaßen ihr Fett weg bekommen: Die Lacher gehen ebenso auf Carmen und Akemis Kosten wie auf einige dumme Streiche der Dörfler. Als Zuschauer können wir über die schier unglaubliche Naivität der beiden Tänzerinnen genauso den Kopf schütteln wie über die rückständigen Bauerntölpel, die letztlich die beiden einfach nur endlich nackt tanzen sehen wollen.
Carmen kehrt heim ist ein gut gemachter Unterhaltungsfilm, der so ziemlich jedem etwas bietet: Musicalnummern, viel nackte Beine (für 1951!), einige lustige Gags, sympathische Charaktere, ein bisschen menschliches Drama und viele schöne Landschaften. Eine Mischung aus Moulin Rouge und Heimatfilm. Doch der einzige echte Konflikt ist der des Vaters: Er liebt seine dumme Tochter, schämt sich aber gleichzeitig für das, was sie tut. So gibt es zu wenig, das den Film und seine doch recht schwachbrüstige Handlung vorantreiben und uns Zuschauer wirklich fesseln könnte. Dennoch, ein wunderbarer Gute-Laune-Film für dröge Sonntagnachmittage!