16 Jan
Original: Kokoro (1955) von Kon Ichikawa
Im Sommer 1912 freundet sich der Student Hioko (Shōji Yasui) mit dem älteren, zurückgezogen lebenden Intellektuellen Nobuchi (Masayuki Mori) an, den er einfach nur Sensei nennt. Es dauert nicht lange, da wird Hioki bewusst, dass ein dunkler Schatten auf der Vergangenheit seines Sensei liegt, der Sensei regelrecht von innen auffrisst und ihn immer zynischer und abweisender werden lässt. Das belastet natürlich auch dessen Ehe und seine Frau Shizu (Michiyo Aratama), die sich schwere Vorwürfe macht, letztlich aber selbst genauso im Dunkeln tappt wie Hioko.
Als Hiokos Vater schwer erkrankt, reist er für einige Zeit nach Hause zu seiner Familie. Kurze Zeit nach seiner Ankunft stirbt der Kaiser Meiji, Trauer senkt sich über das ganze Land. Einige Generäle folgen dem Kaiser sogar in den Tod und begehen Selbstmord. Eines Tages erhält Hioko einen dicken Brief seines Sensei, in dem dieser seine Lebensgeschichte berichtet. Es stellt sich heraus, dass Nobuchi als Student von seinen eigenen Verwandten um sein Erbe betrogen wurde und später die Frau heiratete, in die sein bester Freund Kaji (Tatsuya Mihashi) verliebt war – worauf Kaji Selbstmord beging. Nobuchis Brief schließt mit der Ankündigung, ebenfalls dem Kaiser in den Tod folgen zu wollen.
Der Film basiert auf dem gleichnamigen Roman von Natsume Sōseki, der 1914, also kurz nach dem tatsächlichen Tod des Kaisers, erschien. Ich habe hier zum ersten Mal einen japanischen Film gesichtet, dessen literarische Vorlage ich bereits kannte, was meine Wahrnehmung und Beurteilung des Films doch erheblich beeinflusst hat. Deshalb möchte ich auch als erstes mit dem Vergleich von Buch und Film loslegen.
In vieler Hinsicht ist Kokoro (was hier übrigens so viel wie „Der Kern der Dinge“ bedeutet) eine ziemlich getreue Adaption des berühmten Romans. Viele Szenen und auch Dialoge aus dem Buch finden sich fast exakt im Film wieder. Dem Film ist jedoch das Bemühen anzusehen, die starre Struktur des Buchs, dessen dritter Teil allein aus dem langen Brief Nobuchis besteht, aufzubrechen und so die Story ansprechender und mitreißender zu gestalten. Dabei werden zwei größere Abschnitte ausgespart bzw. stark gerafft: Zum einen, wie sich Hioki und Nobuchi kennenlernten (das Buch beginnt mit ihrer ersten Begegnung an einem Strand, im Film taucht diese Szene kurz als Flashback auf) und zum anderen, wie Nobuchi während des Studiums seine spätere Frau kennenlernte. Und diese letzte Änderung hat meiner Ansicht nach gravierenden Einfluss auf die Wirkung der von Nobuchi in seinem Brief geschilderten Ereignisse und damit auch auf die Wahrnehmung seines Charakters und auf die zentralen Fragen, die Buch und Film aufwerfen.
Im Buch enthält Nobuchis Brief nämlich eine lange und eindringliche Schilderung, wie er sich in Shizu verliebte und wie sehr er unter seiner Schüchternheit litt, die ihn dazu verdammte, seine Gefühle für sich zu behalten. Umso größer dann Nobuchis Schock, als sein Freund Kaji ihm seine Liebe zu Shizu gesteht. Im Film wird dagegen nur vage angedeutet, dass Nobuchi Gefühle für Shizu haben könnte. Als er angesichts von Kajis überraschendem Geständnis regelrecht in Panik verfällt und zunächst dem streng religiösen Kaji seine Gefühle auszureden versucht und gleichzeitig um Shizus Hand anhält, hat dies im Film – ohne die Vorgeschichte – nun eine ganz andere Wirkung als im Buch.
Im Buch wird nämlich mehrfach herausgestrichen, dass es seine Liebe zu Shizu war, die ihn zu diesen Handlungen getrieben hat. Somit wird sein Verrat an Kaji gewissermaßen zum Sündenfall der eigentlich so reinen, hehren Liebe und bekommt damit eine ganz neue Dimension: Wenn selbst Liebe den Menschen zu solchen Taten befähigt, was ist dann überhaupt noch Gutes am Menschen? Diese Dimension fehlt dem Film.
Dafür öffnet die Straffung der Geschichte im Film die Freundschaften Nobuchis zu Hioko und besonders zu Kaji für eine homosexuelle Ebene. Mir selbst hat sich beim Sehen des Films diese Interpretation zwar nicht aufgedrängt, aber wenn man – wie einige Kritiker – darüber nachdenkt, kann man zahlreiche Anhaltspunkte für diese Sicht im Film finden. Dies lässt die Selbstzweifel und -kritik Nobuchis in einem völlig anderen Licht erscheinen, denn nun wird Nobuchi in seinen Konflikt gerissen, weil er keine Möglichkeit sieht, seine Homosexualität einzugestehen und offen zu leben. Die Wurzel der Niedertracht liegt somit in den gesellschaftlichen Verhältnissen, die ihn zum Leben einer Lüge zwingen, und weniger im Wesen des Menschen an sich begründet.
Welcher Sichtweise man sich auch anschließt, eines dürfte klar sein: Kokoro ist ein sehr philosophischer und schwermütiger Film, ein ziemlicher Stimmungskiller. Kein Film, den man sich popcornfutternd mit Freunden anschauen will. Er ist aber auch ein großartiger Film, was nicht zuletzt an der genialen Literaturvorlage liegt. Aber auch unabhängig davon ist der Film ein eigenständiges Kunstwerk. Sei es die durch eine relativ unscheinbare Straffung der Handlung hinzugefügte Möglichkeit der Homosexualität, die den Film für eine ganz neue Botschaft öffnet. Sei es die Neustrukturierung und Auflockerung der Erzählung, die das Problem des endlos langen Briefes sehr schön löst.
Vor allem Masayuki Mori und Michiyo Aratama sind es aber, die dem Film Leben einhauchen und unendlich nuanciert und einfühlsam die vielen angedeuteten ebenso wie die offen zutage tretenden Konflikte und Emotionen darstellen. Man mag zwar dem über 40jährigen Mori auch als junger Student sein Alter ansehen, aber die Verwandlung des jungen und unbeschwerten Nobuchi in den von Schuld und Selbstzweifeln gebeugten Sensei spielt er fantastisch. Noch mehr überzeugt hat mich aber Michiyo Aratama, die ich nur aus weniger bedeutenden Rollen kannte und die sowohl als junges Mädchen wie als treusorgende, vorbildliche und dennoch frustrierte Ehefrau eine schlicht grandiose Vorstellung abliefert.
Absolut angemessen und einfühlsam ist auch die zurückhaltende Regie Ichikawas, der vor allem seine Schauspieler den Film tragen lässt, und dennoch mit einigen wenigen Bildern die Konflikte und Gefühle seiner Darsteller unterstreicht. Ein schönes Beispiel dafür findet sich in einer Szene, in der Nobuchi bei strömendem Regen zu seiner großen Überraschung Kaji und Shizu begegnet. Die aufflackernde Rivalität, die Eifersucht und Ungewissheit, was diese Begegnung zu bedeuten hat, lässt sich wunderbar an den Gesichtern ablesen. Doch die größeren Konsequenzen veranschaulicht Ichikawa mit einem Bild: Damit die beiden in der überschwemmten Straße passieren können, macht Nobuchi einen Schritt von den ausgelegten Planken in den Matsch der Straße. Sein Fuß versinkt fast in Schlamm und Dreck, so wie auch er, seine Seele und sein Gewissen, im Dreck versinken werden durch sein Abweichen vom „rechten Weg“.
Ist der Mensch in seiner Natur schlecht und bringt selbst die reinste Liebe nur Egoismus und Eifersucht in ihm hervor? Oder ist die Umwelt schlecht und bringt den Menschen dazu, selbstsüchtig zu handeln? Egal wie man diese uralte Frage persönlich sieht, Kokoro als Film wie als Buch beleuchten sie auf eindrückliche Art und interessanterweise aus sehr unterschiedlichen Perspektiven, trotz nur minimaler Änderungen an der literarischen Vorlage. Dass der Film dennoch ganz andere Interpretationsansätze erlaubt, spricht klar für seine Qualität. Kokoro wird zu Unrecht oft übersehen neben andereren, bekannteren Werken Kon Ichikawas.
2 Kommentare for "Kokoro"
Ich muss gestehen, dass ich KOKORO bisher auch wenig beachtet habe, obwohl es ihn ja schon länger bei Masters of Cinema gibt. Also danke, dass Du mich mit der Nase darauf gestoßen hast!
2glutton
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