30 Nov
Original: Dodesuka-den (1970) von Akira Kurosawa
Eine bunt zusammengewürfelte Gruppe von Bewohnern eines Slums am Rande Tokyos kämpft um das Überleben im Alltag, darunter auch Rokku-chan, ein geistig zurückgebliebener Junge, der in der Illusion lebt, Straßenbahnführer zu sein. Jeden Morgen fährt er seine nicht-existente, dafür aber innig geliebte Bahn – sie ist schon ein etwas älteres Modell und die Wartungsmannschaften lassen sie manchmal links liegen – mit weithin hörbarem „dodeskadendodeskadendodeskaden“-Geratter durch die Müllberge.
Auf seiner Runde begegnen ihm die Familie Sawagami, deren Kinder alle von verschiedenen Männern stammen weil die Mutter eine hochnäsige Schlampe ist, was den Vater aber nicht davon abhält, jedes einzelne aus tiefstem Herzen zu lieben. Oder die befreundeten Ehepaare Masuda und Kawaguchi, die sich im Suff schon mal in der Haustür und im Partner für die Nacht irren, was ihrer Freundschaft aber keinen Abbruch tut.
Weitere Charaktere wären der Bettler, der nur seinen Tagträumen von einem bombastischen Haus nachhängt, während sein kleiner Sohn sich um ihr Überleben kümmert und betteln geht. Oder der einsame, zurückgezogen lebende Mann, dessen eisiges Schweigen ein tiefes, schreckliches Geheimnis zu verbergen scheint, das allen Nachbarn Rätsel aufgibt. Oder das Mädchen Katsuko, das bei seiner Tante lebt und für deren Mann nicht nur Tag und Nacht schuften muss, sondern auch noch von ihm missbraucht wird.
So hat jeder der Slumbewohner sein Päckchen zu schultern, und jeder hat seine Art, damit umzugehen. Für manche ist das Mittel der Alkohol, andere denken an Selbstmord oder geben sich Träumereien hin wie der Bettler. Manche Schicksale sind zum Herzzerreißen wie das von Katsuko, die in ihrer Verzweiflung und Einsamkeit alles in sich hineinfrisst und am Ende den einzigen Menschen, der ihr etwas bedeutet, in einer hysterischen Attacke umzubringen versucht.
Andere wie die beiden dauerbetrunkenen Kumpels sind in ihrer drolligen Tolpatschigkeit einfach lustig. Wieder andere, wie der gehbehinderte und von epileptischen Anfällen geplagte kleine Angestellte, der dennoch immer gut gelaunt und stets hilfsbereit ist, lassen den Zuschauer dann die Niederträchtigkeit und das Elend vergessen und wieder an das Gute im Menschen glauben.
So zeigt der Film einen nahezu zeitlosen Ausschnitt dessen, was Menschsein und menschliches Zusammenleben ausmacht, allerdings mit einem Schwerpunkt eher auf den Tiefen als den Höhen. Die Menschen in Dodeskaden sind tagtäglich mit dem Kampf ums Überleben und um die Wahrung ihrer Menschenwürde konfrontiert und gehen mit dieser Herausforderung völlig unterschiedlich um. Doch der Film bleibt dabei immer in einer bitter-süßen, humoristisch-leichten Stimmung verhaftet, die Kurosawa sehr wichtig war: „Hätte ich diesen Film ganz ernst gedreht, wäre er unerträglich depressiv geworden.“
Diese Stimmung wird zu einem guten Teil mit getragen von den manchmal geradezu aggressiven, unglaublich lebendigen Farben in Kurosawas erstem Farbfilm. Anders als seine prominenten Vorgänger Ozu oder Mizoguchi, die in ihren Farbfilm-Debuts eher zurückhaltend-realistisch und wenig innovativ mit der neuen Technik umgegangen waren, lässt Kurosawa es richtig knallen. Seine Wurzeln in der Malerei werden an vielen Stellen deutlich, nicht zuletzt in der finalen Szene in Rokku-chans über und über mit kindlichen Bildern seiner Straßenbahn behängten Hütte.
Diese beeindruckend farbenfrohen und wunderschön anzusehenden Bilder tragen den Film über weite Strecken, denn eine echte Handlung gibt es nicht und die Charaktere der einzelnen Episoden sind durch nichts – abgesehen von ihrer räumlichen Nähe – miteinander verbunden. So fehlt dem Film auch ein für Spannung sorgender Konflikt, geschweige denn ein Held oder eine sonstige Identifikationsfigur.
Das unterscheidet Dodesukaden denn auch von den thematisch ähnlich gelagerten früheren Filmen Kurosawas, wie Ein wunderschöner Sonntag, Nachtasyl oder Rotbart. Besonders die Parallelen zu Nachtasyl sind an vielen Stellen in der Anlage und Konstellation der Charaktere zu erkennen, ohne dass Dodesukaden dadurch aber an die – wenn auch negative – Kraft, Eindringlichkeit und Leidenschaft des Vorläufers anknüpfen könnte. Vielmehr plätschert der Film über weite Strecken einfach so dahin.
Dodesukaden war nicht nur Kurosawas erster Farbfilm, es war zugleich auch der erste und einzige Film, der vom „Club der vier Ritter“ realisiert wurde, einem Studio, das Kurosawa zusammen mit Keisuke Kinoshita, Masaki Kobayashi und Kon Ichikawa gegründet hatte. Nach Dodesukaden war das Studio denn auch sogleich pleite, weil der farbenfrohe Film beim Publikum durchfiel. Man geht allgemein davon aus, dass diese Enttäuschung und die schwierige Suche nach einem Anschlussprojekt einen erheblichen Anteil an Kurosawas Selbstmordversuch im darauf folgenden Jahr hatten.
Für Kurosawa-Enthusiasten ist Dodeskaden – Menschen im Abseits ein absolutes Must-see, nicht zuletzt wegen der Farbexperimente und der wichtigen Rolle als Bindeglied zwischen den zutiefst humanistisch-optimistischen schwarz-weiß Filmen und den späteren berühmten, an der Menschheit verzweifelnden Schlachtengemälden von Kagemusha und Ran. Und auch wer sich gerne mal ein filmgewordenes expressionistisches Experiment ansehen möchte, wird an diesem Film seine Freude haben.
2 Kommentare for "Dodeskaden – Menschen im Abseits"
[…] jener Filme, bei denen ich besonders bedauere, dass ich sie bisher noch nicht sichten konnte. Und die Besprechung auf Japankino erhöht den Leidensdruck […]
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