11 Feb
Original: Yoidore tenshi (1948) von Akira Kurosawa
Im zerbombten Tokyo hat sich der Arzt Sanada (Takashi Shimura) ganz dem Kampf gegen die Tuberkulose verschrieben. Auch bei dem Gangster Matsunaga (Toshiro Mifune), der sich eigentlich wegen einer Schusswunde behandeln lassen will, diagnostiziert er die teuflische Krankheit und versucht, den Sturkopf zu einer Behandlung zu überreden. Aus Stolz und Furcht, eine Schwäche einzugestehen, lehnt dieser ab. Doch Sanada gibt nicht auf, die beiden fassen langsam Vertrauen zueinander und Sanada willigt schließlich in eine Behandlung ein.
Als der alte Boss Okada (Reisaburo Yamamoto) aus dem Gefängnis entlassen wird, muss Matsunaga jedoch um sein Standing kämpfen und nimmt dabei immer weniger Rücksicht auf seine Gesundheit. Zudem entdeckt Okada, dass seine Frau inzwischen bei Sanada als Krankenschwester arbeitet, was nun auch den Arzt ins Schussfeld bringt. Matsunaga muss sich entscheiden, auf wessen Seite er steht.
Das Zentrum des Films – sowohl im geographischen wie symbolisch-spirituellen Sinne – ist ein dreckiger Tümpel nahe Sanadas Praxis, der von den Anwohnern als Müllkippe benutzt wird und allerlei Krankheiten als Brutstätte dient. Bereits für die eröffnende Titelsequenz, aber auch für viele weitere entscheidende Szenen gibt er den Hintergrund ab und wird zu einem strukturierenden Element des Films. Zugleich wird der Tümpel von Kurosawa – und von Sanada als seine Stimme im Film – als ein Symbol zur Verdeutlichung des physischen und psychischen Zustands der Charaktere aber auch des ganzen Landes benutzt.
Um dieses Zentrum kreisen die Charaktere und definieren sich im Bezug darauf: Sanada, der das Übel erkannt hat, es bekämpft und andere auf den Weg der Besserung bringen will; Matsunaga, der sich in Passivität und Schicksalsergebenheit zurückzieht; Okada, der den Tümpel als sein Element sieht und sich das Übel zu nutze macht.
Vorangetrieben wird Engel der Verlorenen von der Konfrontation Matsunaga-Sanada, aber es bilden sich daneben noch andere Charakterpaare, die teils explizit, teils implizit als Gegensätze und konkurrierende Elemente dienen: Sanada und Okada wirken als zwei Pole, zwischen denen Matsunaga hin- und her gerissen wird. Die junge Kellnerin Gin (gespielt von der vor wenigen Tagen verstorbenen Noriko Sengoku), die sich heimlich in Matsunaga verliebt und davon träumt, mit ihm in ihre Heimat zurückzukehren und ihn gesund zu pflegen, steht im Kontrast zu Matsunagas Geliebter Nanae, einer verwöhnten Nachtclubsängerin. Das Pendant zu Matsunaga wiederum ist ein junges, wie er an Tuberkulose erkranktes Mädchen (die 17jährige Yoshiko Kuga in einer ihrer ersten Rollen), das allerdings Sanada vertraut und die Krankheit mit seiner Hilfe besiegt.
Diese Charakterpaare verkörpern die dem Film zugrunde liegende sozialkritische Botschaft: Japan ist ein zerstörtes, krankes Land, das für einen Neubeginn und eine bessere Zukunft mutige Menschen braucht. Menschen, die bereit sind, der Wahrheit ins Gesicht zu sehen, sich aus ihrer Passivität und mit der Vergangenheit zu brechen, ihr Schicksal in die eigene Hand zu nehmen und hart an sich selbst für ihre Zukunft zu arbeiten.
Diese Botschaft – die natürlich auch ganz im Sinne der amerikanischen Besatzungsmacht war – steht im Zentrum zahlreicher Filme Kurosawas gerade in der Nachkriegszeit. Nirgends wird sie allerdings so unmissverständlich auf den Punkt gebracht wie in Engel der Verlorenen, als in der letzten Szene Sanada der geheilten Schülerin mit den Worten gratuliert „Die Kraft des Willens kann alle menschlichen Leiden heilen“.
Dabei ist Sanada selbst alles andere als ein Heiliger: Er ist aufbrausend, sarkastisch und cholerisch, trinkt zur Not auch mal verdünnten medizinischen Alkohol, der eigentlich für seine Patienten bestimmt wäre und erzählt freimütig von seinen jugendlichen Besuchen im Bordell. Wahrscheinlich sind es diese Schattenseiten, die ihn in Matsunaga sich selbst in jungen Jahren sehen lassen, und die seinen verzweifelten Kampf um Matsunagas Leben motivieren.
Stilistisch ist Engel der Verlorenen ein Traum. Die Bildkompositionen sind einfach grandios, das Spiel mit Licht und Schatten in einigen Szenen als Symbol für die Zerrissenheit der Charakter und der menschlichen Psyche allgemein deutet an, was in Rashomon dann zur Vollendung kommen sollte. Auffallend häufig arrangiert Kurosawa seine Charaktere so, dass eine Person den Vordergrund dominiert und eine andere Person klein dahinter zu sehen ist. Auch die Froschperspektive kommt dabei des öfteren zum Einsatz.
Der Tümpel ist allgegenwärtig, nicht nur als Hintergrund in verschiedenen Szenen sondern auch als Mittel der Überleitung zwischen Szenen, was dem ohnehin schon sehr klar aufgebauten Film noch zusätzliche Struktur gibt. In manchen Szenen besonders in der ersten Hälfte, in denen Sanadas Ausflüge in Matsunagas Straßengauner-Milieu gezeigt werden, fühlt man sich regelrecht in den Schwarzmarkt, die verrauchten Tanzlokale und verschwitzten Kneipen versetzt.
Es ist vor allem diese atmosphärisch dichte Darstellung der ärmlichen Verhältnisse, die dem Film immer wieder Vergleiche zum italienischen Neo-Realismus einbringen. Stephen Prince weist allerdings völlig zurecht darauf hin, dass es Kurosawa anders als Rossellini oder de Sica nicht um eine möglichst unverfälschte Wiedergabe der Realitäten ging. Vielmehr nutzt Kurosawa ausgiebig symbolhafte Darstellungen und ist weit von dem Anspruch entfernt, möglichst wenig manipulative Eingriffe vorzunehmen.
Der Film wird aber auch getragen von seinen Charakteren: Zum ersten Mal standen Takashi Shimura und Toshiro Mifune hier gemeinsam für Kurosawa vor der Kamera, und die gute Chemie zwischen den beiden ist vom ersten Moment an zu spüren. Wenn Mifune als möchtegern-cooler Gangster, der einem romantisierenden Bild der Unterwelt und ihres Ehrencodex nachträumt, und Shimura als mürrischer, trinksüchtiger Arzt mit dem großen Herz aufeinander prallen, dann sprühen die Funken!
Es ist eine wahre Freude, den beiden zuzusehen, und kein Wunder, dass Kurosawa diese Konstellation seiner Hauptdarsteller für die meisten seiner Filme der nächsten 15 Jahre beibehalten sollte. Und noch ein weiterer langjähriger Begleiter Kurosawas gibt in Engel der Verlorenen sein Debut, der Komponist Fumio Hayasaka, dessen schlichte, aber emotionale Musik die Stimmung des Films wunderbar aufgreift und verstärkt.
Engel der Verlorenen ist einer meiner persönlichen Lieblingsfilme aus Kurosawas Werk, vielleicht gerade deshalb, weil er noch nicht so geschliffen und perfektioniert ist wie spätere Filme, und eher an einen Rohdiamanten erinnert. Alle Elemente dessen, was einen Kurosawa-Film ausmacht, sind aber präsent und das Erfolgsteam der späteren Giganten wie Rashomon oder Die Sieben Samurai ist nahezu komplett. Hier kann man ihm beim Spannen der Muskeln zusehen, und das ist ein Anblick, den man sich auf keinen Fall entgehen lassen sollte!
Etwas ruhig war es in meinen Lieblingsblogs in den letzten Wochen, kein Wunder bei all den Feiertagen! Aber das heißt nicht, dass es nicht spannende Beiträge zu lesen gegeben hätte. Ganz im Gegenteil, siehe:
Viel Spaß beim Lesen!