6 Nov
Japanische Filme zu schauen macht mir – wenig überraschend – große Freude und immer wieder gibt es dabei ganz besondere Momente: Eine unerwartete dramaturgische Wendung, die mich verdutzt. Eine besonders geniale Kameraeinstellung, die mich begeistert. Eine schauspielerische Leistung, die mich zutiefst berührt. Aber die intensive Auseinandersetzung mit den Filmen und die Beschäftigung mit angrenzenden Themen führen manchmal auch weit abseits der Filme, völlig überraschend und in Situationen in denen ich es nie erwartet hätte, zu solchen ganz besonderen, unvergesslichen Erlebnissen. So geschah es auch vor gut einer Woche.
Ich war im Süden der Türkei, in dem kleinen Touristenort Fethiye, unterwegs. Um einen der wenigen Regentage zu überbrücken, suchte ich nach einer Buchhandlung mit englischsprachigen Büchern. Ich war schon vergeblich durch mehrere Straßenzüge voller Touristenläden geschlendert und kurz davor, die Hoffnung aufzugeben, als ich unverhofft auf der Hafenpromenade einen kleinen Buchladen entdeckte, der sogar einige gebrauchte englische Bücher führte. Der Tag schien gerettet, ich malte mir schon aus, wie ich den Rest des Tages lesend im gemütlichen Ohrensessel meines Hotelzimmers verbringen würde, während der Regen an die Fensterscheiben prasselt.
Doch beim Durchstöbern des Regals wurde mir schnell klar, dass sich die Produktpalette wohl vor allem an den Interessen von Damen mittleren und fortgeschrittenen Alters aus der englischen Mittelschicht orienterte (die in der Gegend einen großen Teil der Touristen stellen): Titel wie „To love again“, „The Wedding“, „Sunset in Saint Tropez“ und dergleichen Kram von Danielle Steel oder Rosamunde Pilcher bestimmten die Auslage. Nach ein bisschen Suchen fand ich immerhin die Memoiren von Hillary Clinton – nicht ganz das, was ich mir für einen spannenden Lesemarathon gewünscht hätte, aber angesichts der Alternativen schon eine regelrechte Erleuchtung.
Und dann passierte es: In einem der untersten Regalfächer blieben meine rastlos umherwandernden Augen an einem Titel hängen, einem Titel, wie er überraschender an diesem Ort, zwischen diesen anderen Büchern kaum hätte auftauchen können. Wie ich mich nach unten bückte, um das Buch aus dem Regal zu holen, dürfte mein Gesichtsausdruck wohl so ähnlich gewesen sein wie der von Neil Armstrong, als er die ersten Schritte auf dem Mond machte: Ich hielt eine säuberlich eingeschweisste Ausgabe von Yasutaka Tsutsuis „Paprika“ in den Händen! Richtig, die Romanvorlage für DEN Paprika! Der Moment, als ich das Buch in den Händen hin- und herdrehte und kurz daran dachte, wie wahrscheinlich es ist, dass ein ausgemachter Fan dieses Films wie ich ausgerechnet in einem Secondhand-Buchladen in der Türkei zwischen lauter Kitschromanen diesen Roman findet, bekam ich eine Gänsehaut!
Dann hab ich das Buch zurückgelegt und die Memoiren von Hillary Clinton gekauft. Scherz 😉
Den Rest des Tages (und einen guten Teil der Nacht) verbrachte ich dann mit Dr. Atsuko Chiba, ihrem alter ego Paprika und dem unfassbar fetten Tokita auf der Jagd nach dem DC Mini; und jedesmal wenn ich daran zurückdenke, wie völlig verblüfft ich in diesem Buchladen stand, läuft es mir wieder kalt den Rücken hinunter. Das sind diese Gänsehaut-Momente, die weit über die Filme hinausgehen und Dingen Bedeutung verleihen, die für andere Menschen einfach nicht nachvollziehbar sind. Was einerseits wunderschön, aber auch ein bisschen traurig ist.
Habt ihr auch schonmal solche unerwarteten Gänsehaut-Momente erlebt?
Dieser Artikel ist Teil des Japanese Film Blogathon 2010.
4 Kommentare for "Gänsehaut pur"
Hm, ein Gänsehautmoment mit Japanbezug.
Im Jahr 2001 fuhr ich mit meiner Studiengruppe nach St. Petersburg. Da unser Reisebüro das russische Konsulat nicht ausreichend bestochen hatte, erhielten nur die Hälfte der angemeldeten Studenten Visa. Davon abgesehen blieb die Vorfreude in der nun um die Hälfte reduzierten Reisegruppe aber ungebrochen. In einem heruntergekommenen Studentenwohnheim günstig untergebracht, stürzten wir uns in das touristische Rahmenprogramm, besuchten die bekannten Sehenswürdigkeiten, wie den Peterhof und die Eremitage, fuhren mit der Fähre über den Ladogasee, besichtigten Sägewerke und russische Forsten. An einem der Nachmittage bummelten zwei Mitstudenten und ich über die Petersburger Flanier-Meilen, vorbei an verfallender Bausubstanz und frisch restaurierter Zaren-Pracht. In Sichtweite einer der für ihre Zwiebeltürme berühmten orthodoxen Kirchen, suchten wir uns ein gemütliches Straßencafe. Während ich noch mit der hübschen Kellnerin flirtete, an meiner Apfelschorle schlürfte, brach gleich nebenan ein Tumult los. Stimmengewirr und einzelne Wutschreie drangen aus dem benachbarten in einem Keller untergebrachten japanischen Restaurant. Zwei Polizisten kamen die Treppe herauf, einen kräftigen breitschultrigen Japaner, vielleicht Vierzig Jahre alt, im Schlepptau. Sein dunkelgrauer Designeranzug war offen, eine schwere Goldkette hing ihm obszön um den stämmigen Hals. Schweißperlen glitzerten in seinem Bürstenschnitt. Im grellen Licht dieses kristall-blauen Nachmittages leuchteten einzelne Blutspritzer, kontrastierten aggressiv mit dem Weiß des Hemdes. Ein Hosenbein war zerrissen, das Bein mit einem Tischtuch (?) abgebunden. Eine vielleicht dreißigjährige Japanerin, gekleidet in einem gelben Kimono, begleitete ihn, blieb stumm im Hintergrund. Wüst etwas auf Japanisch murmelnd, humpelte der Mann zum bereit stehenden Polizeiauto, setzte sich auf den Rücksitz und fuhr mit den beiden Polizisten fort. Die Japanerin blickte ein wenig verloren dem Wagen nach, bevor sie, mit ihren Getas trippelnd, wieder die Kellertreppe hinab stieg und in den Tiefen des Restaurants verschwand.
@marald
Also für den von dir beschriebenen Ort hätte ich ’nen passenden namen: „The Restaurant without Honor and Humanity: Deadly Meal in St. Petersburg.“
@klaus
Ich seh grad, dass man das Buch sehr günstig bei Amazon findet, dann steht das bei mir wohl bald auch mal auf dem Programm. Bei den deutschen Titeln finde ich leider nur Kochbücher, wenn ich nach Gemüse suche…
Marald: geile Story!
Da fällt mir noch ne Geschichte ein. Anfang 2008 war ich meinen alten Mitbewohner in Finnland besuchen. Eines Morgens sitzen wir zusammen beim Frühstück, er blättert in der Zeitung und meint plötzlich: „Seems like there is a japanese film today in cinema. Do you want to check it out?“ Da fahre ich für fünf Tage nach Tampere, Finnland, und dann kommt dort genau zu dieser Zeit Porco Rosso in die Kinos! So kam es dann, dass ich diesen wunderbaren Film, der in Deutschland noch keinen Kino-Release hatte, dennoch auf der großen Leinwand genießen konnte – im japanischen Original mit finnischen Untertiteln 😀
Ich liebe Tsutsui.
Klasse fand ich sein „Salmonella Men on Planet Porno“, eine Sammlung mit Kurzgeschichten …
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