Heimlich, still und leise hat Goro Miyazakis zweiter Anlauf, im Studio seines Vaters Fuß zu fassen und in dessen Fußstapfen zu treten, den Weg in unsere Kinos gefunden: Unter dem deutschen Titel Der Mohnblumenberg (Original: Kokuriko-zaka kara) ist der ursprünglich 2011 in Japan erschienene Film seit gestern, 21.11., auch bei uns zu sehen. Allerdings ist das Release sehr überschaubar, in den meisten Städten läuft er nur in einem einzigen Kino, darunter Großstädte wie Hamburg, Köln, Stuttgart oder Hannover. Ob er auch in deiner Stadt zu sehen ist, sagt dir diese Übersicht auf kino.de und wenn du noch nicht ganz sicher bist, ob sich die Fahrt in die nächst größere Stadt lohnt, überzeugt dich vielleicht dieser bezaubernde Trailer:
Ich bin jedenfalls schon sehr gespannt auf den Film und auch darauf, wie er sich im Vergleich zu Die Chroniken von Erdsee macht.
1 Aug.
Original: Okami kodomo no ame to yuki (2012) von Mamoru Hosoda
Die Studentin Hana verliebt sich in einen mysteriösen Kommilitonen – der sich als Wolfsmann, also ein Wolf in Menschengestalt, herausstellt. Dennoch werden die beiden zusammen glücklich und bekommen zwei Kinder – das Mädchen Yuki und und den Jungen Ame. Nach dem plötzlichen Tod ihres Mannes zieht Hana die beiden allein groß, immer in der Furcht, dass Nachbarn oder andere Mitmenschen bemerken könnten, dass sich ihre Kinder manchmal spontan in kleine Wölfe verwandeln. Als sich auch noch das Jugendamt einschaltet, weil die beiden noch nie beim Arzt waren, flüchtet Hana aufs Land, in die Heimat ihres Wolfsmannes.
Die kleine Familie bezieht ein altes heruntergekommenes Haus, das Hana wieder auf Vordermann bringt. Zwar scheitern erste Versuche, selbst Gemüse anzupflanzen, aber bald bekommt sie Unterstützung von Leuten aus dem Dorf, allen voran von einem alten mürrischer Kauz, der die junge, selbstbewusste Frau offenbar in sein Herz geschlossen hat. Doch auch wenn sich Hana in ihrem neuen Leben immer besser zurecht findet, die heranwachsenden Kinder spüren immer mehr die Bürde ihrer Herkunft. Die aufgeweckte und lebendige Yuki sucht die Nähe zu ihren Schulfreundinnen, integriert sich und lernt eifrig, während Ame sehr in sich gekehrt ist und mit der Welt der Menschen wenig anfangen kann.
Der Verlauf der Zeit war bereits in Mamoru Hosodas Debut Das Mädchen, das durch die Zeit sprang ein zentrales Element. In Ame & Yuki war die Herausforderung nun eine völlig andere, hier geht es nicht darum dramatische Zeitsprünge darzustellen, sondern um die langsam dahinfließenden Jahre. Entsprechend hat er großen Wert darauf gelegt, den Verlauf der Zeit sehr realistisch in den Charakterdesign und die Stimmung des Films zu integrieren. Man kann der kleinen Familie ganz gemächlich beim älter werden zusehen, bildhaft auf den Punkt gebracht unter anderem durch die jährlichen Markierungen der Größe der Kinder an einem Balken, und den Wandel der Jahreszeiten.
Überhaupt spielt das Verhältnis zur und der Umgang mit der Natur eine wichtige Rolle im Film. Das beginnt mit Hanas kläglichen Versuchen, sich im Gartenbau zu betätigen, die erst mit Unterstützung der erfahrenen Bauern aus der Umgebung Früchte tragen. Besonders in der zweiten Hälfte, die sich immer stärker den beiden Kindern und ihren unterschiedlichen Wegen widmet, steht die Nähe zur Natur aber auch für die Andersartigkeit von Ame und Yuki. In einer wunderschönen Montage verschreckt Yuki mehrmals die anderen Mädchen mit ihrer Sammlung aus Tierknochen oder indem sie – statt Blumen zu pflücken und daraus Schmuck zu basteln – eine Schlange als Armreif nimmt.
Auch wenn Art Director Hiroshi Ohno diese Rolle auch bereits bei Kikis kleiner Lieferservice innehatte, mit den grandiosen Panoramen des Studio Ghibli kann Ame & Yuki nicht mithalten. Umso beeindruckender sind dafür die dynamischen Szenen, etwa spielerische Verfolgungsjagden im Schnee oder die rasanten Erkundungstouren von Ame durch die dichten Wälder.
An Hosodas ersten beiden Filmen begeisterte mich vor allem, wie er eine clevere Story auf spannende, hochgradig unterhaltsame Weise erzählt, und dabei durchaus ernste Themen wie den Umgang mit Tod und Verlust einband. Sein dritter Film ist deutlich ruhiger und kommt fast ganz ohne Action aus, ist dafür aber wirklich vollgepackt mit starken Botschaften und einer außergewöhnlichen Heldin.
Selten habe ich in einem Film eine so starke und selbstbewusste, dabei aber zugleich normale Frauenrolle gesehen. Hana kämpft nicht gegen irgendwelche Schurken, wird nicht von dramatischen Schicksalsschlägen ereilt (wenn man mal vom Tod ihres Mannes absieht) oder muss sich in Katastrophensituationen bewähren. Sie ist einfach eine junge Mutter, die allein zwei Kinder großzieht und für ihre Kinder das Beste will. Um das zu erreichen entscheidet sie sich bewusst, ihr ganzes bisheriges Leben aufzugeben und in einer fremden Umgebung nochmal neu anzufangen und etwas aufzubauen. Und sie zieht das durch, eisern sich selbst gegenüber aber immer offen für andere Menschen und die – in diesem Fall etwas besonderen – Bedürfnisse ihrer Kinder. Hana ist gewissermaßen die Verkörperung der „can do“-Einstellung.
Zwar wollte Hosoda vor allem einen Film über die Entwicklung einer jungen Frau zur verantwortungsbewussten Mutter drehen, aber Ame und Yuki repräsentieren zudem die Menschen unter uns, die vielleicht auf Grund ihrer Herkunft, Denkweise, sexuellen Orientierung oder einer Behinderung nicht in das übliche Schema passen. Der Umgang mit solchen Menschen und welche Konflikte sie selbst mit sich und ihrem Umfeld austragen müssen, rückt besonders in der zweiten Hälfte immer mehr in den Mittelpunkt des Films. Yuki leidet unter Akzeptanzproblemen und versucht verzweifelt, sich möglichst anzupassen bis zu dem Punkt, dass sie kein Wolf mehr sein will. Ame auf der anderen Seite tut sich schwer, einen Platz in der Welt der Menschen zu finden und fühlt sich immer stärker zu seiner wölfischen Seite hingezogen. So müssen die beiden für sich ihren eigenen Weg finden und der Film schildert ihre Erfahrungen dabei sehr einfühlsam.
Mit Ame & Yuki – Die Wolfskinder hat Mamoru Hosoda nun schon den dritten exzellenten Film in Folge vorgelegt, der durch eine intelligente, mitreißende Story, authentische und zugleich doch inspirierende Charaktere und wunderschöne Animation besticht. Kein Wunder, dass er letztes Jahr zu den erfolgreichsten Filmen in den japanischen Kinos zählte. Dass der Film so schnell den Weg zu uns gefunden hat und nun als DVD und BD erhältlich ist, ist ein weiteres deutliches Zeichen für die große Wertschätzung und die Fangemeinde, die der Mittvierziger sich innerhalb weniger Jahr national und international erarbeitet hat. Ich freue mich jetzt schon auf seinen nächsten Film!
24 Okt.
Original: Hoshi o ou kodomo (2011) von Makoto Shinkai
Als die Schülerin Asuna eines Tages von einem merkwürdigen Monster angegriffen und von dem rätselhaften Jungen Shun gerettet wird, beginnt für sie gleich in zweifacher Hinsicht ein großes Abenteuer: Sie verliebt sich in Shun, der kurz darauf jedoch tot aufgefunden wird. Und dann begegnet sie seinem Bruder Shin, der sie und den undurchsichtigen Morisaki, ein Lehrer Asunas, in die sagenumwobene Welt Agartha führt, in deren Zentrum sich das Tor zwischen Leben und Tod befindet.
Darauf hat Morisaki es abgesehen, der den Tod seiner Frau nicht verwinden konnte und sie mit der Kraft dieses Tores wieder zurück zu den Lebenden holen will. Auch Asuna hatte einen Verlust zu verdauen, ihr Vater starb als sie noch ein kleines Kind war. Doch für sie geht es zunächst einmal darum, selbst am Leben zu bleiben, denn sie wird von furchterregenden Schattenwesen entführt, und auch andere Bewohner Agarthas sind über die Eindringlinge alles andere als erfreut. Doch Shin eilt ihr zu Hilfe.
Grandiose, in atemberaubend schönen Bildern erzählte Geschichten von auseinander gerissenen Liebenden, die ihrer großen Liebe nachtrauern und sich vor Sehnsucht verzehren, sind das Markenzeichen Makoto Shinkais. Wie kein anderer vermag er es, mit seinen überwältigenden Landschaftsbildern und Lichtspielen Gefühle und Stimmungen wie Nostalgie, Einsamkeit, Freude, Trauer auf die Leinwand und in die Herzen der Zuschauer zu zaubern.
Auch in Children who chase lost voices wartet der Regisseur mit einer unvergleichlichen Bilderpracht auf, die seine vorherigen Filme nochmals in den Schatten stellt. Allerdings gelingt es ihm diesmal nicht, diese zu einer den Film atmosphärisch prägenden Gesamtheit zu verweben. Die im Vergleich zu seinen vorherigen Filmen sehr auf Abenteuer, Action und Spannung getrimmte Handlung steht dieses Mal einfach zu sehr im Zentrum des Films, was diesem leider nicht gut tut.
Denn in der spektakulären Bilderflut und dem Auf und Ab der von Höhepunkt zu Höhepunkt eilenden Handlung kommt leider das zu kurz, was seine früheren Filme so unvergleichlich machte: Die langsamen, atmosphärischen Momente, in denen wir Zuschauer uns in die Charaktere hineinversetzen und ihre Zerrissenheit, ihre Sehnsucht nachempfinden konnten. Weil dies fehlt, ist speziell Morisakis Motivation für seine fanatische Suche nach dem Tor von Leben und Tod nur schwer nachzuvollziehen. Es gibt nur einen einzigen Flashback, in dem er mit seiner Frau zu sehen ist. Da ist es schwer, Nachzufühlen was in ihm vorgeht.
Doch um diese Schwäche wirklich wahrzunehmen musste ich den Film erst ein zweites Mal sehen, denn beim ersten Mal war ich so hingerissen von den liebevoll und bis ins letzte Detail perfektionistisch gestalteten Bildern. Ein Detail, das mir gleich an mehreren Stellen auffiel, waren im Sonnenlicht tanzende Staubpartikel! Und es gab Momente, in denen ganze Schwärme von Vögeln im Hintergrund wild durcheinander wirbelten, ohne Bezug zur Handlung oder den Charakteren, einfach so, weil sie zu dieser Welt dazu gehören. Diese außerordentliche Liebe zum Detail hebt Shinkai von so gut wie allen anderen Anime-Machern der Gegenwart ab.
Doch so wunderschön die Bilder auch anzusehen sind, eines muss man doch konstatieren: Immer wieder wirkt Children who chase lost voices wie ein Sammelsurium an Ideen und Story-Elementen, die man so oder so ähnlich schon mal wo gesehen hat. Die Handlung selbst nimmt zahllose Anleihen sowohl bei klassischen Sagen und Mythen als auch bei anderen Anime aus dem Abenteuer-Genre, wie etwa Prinzessin Mononoke oder Das Schloss im Himmel. Dazu gehören beispielsweise der Quetzalcoatl, der frappierend wie eine Mischung aus Ohngesicht und dem wild mutierenden Akira wirkt, das fliegende Götterschiff, der blau funkelnde Clavis, das Tor zwischen Leben und Tod in Form einer großen, schwarzen Kugel und vieles mehr.
Der Screenshot oben beispielsweise, der Asuna beim Erledigen von Einkäufen im Dorf zeigt, könnte ohne Weiteres auch aus Mein Nachbar Totoro stammen, während ich mich bei anderen teilweise an Heidi erinnert fühlte. So erschienen mir manche Teile des Films fast wie ein Bewerbungsschreiben beim Studio Ghibli. Diese ständigen Versatzstücke oder Anleihen, die Erinnerungen an andere Filme wecken, lassen den Film bei all seiner Bilderpracht und Detailversessenheit leider nicht besonders innovativ erscheinen.
Man möge mich bitte nicht missverstehen: Children who chase lost voices ist ein unterhaltsamer, berauschend anzusehender Film. Und ich rechne es Makoto Shinkai hoch an, dass er sich einerseits an einem neuen Genre versucht, sich zugleich aber auch treu bleiben möchte. Der Spagat ist ihm allerdings nicht besonders überzeugend gelungen, der Film wird zu sehr vom Plot voran getrieben, weshalb vieles von dem, was seine früheren Filme so herausragend atmosphärisch und gefühlvoll machte, hier fehlt. Wie alles von Shinkai aber dennoch ein absolut sehenswerter Film.
Original: Karigurashi no Arrietty (2010) von Hiromasa Yonebayashi
Der junge Sho verbringt den Sommer im alten Haus seiner Tante. Schon bald bemerkt er, dass das Haus ein Geheimnis birgt: Versteckt in den dunklen Ecken und Fundamenten lebt die winzige Borgerin Arrietty zusammen mit ihren Eltern und „borgt“ sich die Dinge des täglichen Bedarfs von den Menschen. Oberstes Gebot ist eigentlich, dass die Menschen von der Anwesenheit der Borger nichts bemerken dürfen. Doch Arrietty übertritt das Tabu und schließt Freundschaft mit Sho, dessen Ankunft und besonders die Neugier der Haushälterin Haru jedoch eine zunehmende Bedrohung für Arriettys heile Welt darstellen.
Seit Mitte der 90er Jahre war Hiromasa Yonebayashi beim Studio Ghibli tätig und in dieser Zeit als Animationskünstler an allen großen Filmen Hayao Miyazakis beteiligt. Diese Schule und die Prägung durch Miyazaki ist seinem Regiedebut Arrietty auf Schritt und Tritt anzusehen: Der Film zeichnet eine wunderschöne Welt der kleinen Dinge mit einer Vielzahl an liebevollen Details, ganz im Stil von Werken wie Kikis kleiner Lieferservice oder Mein Nachbar Totoro.
Ähnlich wie in diesen Filmen werden auch in Arrietty Geschichte und Charaktere nicht durch konstruierte Abenteuer und gut-gegen-böse Konstellationen vorangetrieben. Vielmehr dreht sich der Film um die kleinen Abenteuer, so dass schon eine in einem Moskitonetz feststeckende Krähe zu einem actiongeladenen Höhepunkt wird.
Die aus vielen Filmen Miyazakis bekannte Thematik der gestörten Harmonie im Miteinander von Mensch und Natur wird in Arrietty nicht so offensiv angegangen, findet sich aber wieder in der Kontrastierung des einfachen, an der Natur orientierten Lebens der Borger mit dem der großen Menschen. Dass die Möglichkeit eines echten Zusammenlebens von Borgern und Menschen für keine einzige Sekunde erwägt wird, wirft Fragen auf und gibt dem Film bei aller Freude und Schönheit einen melancholisch-pessimistischen Hauch.
Mit Arrietty ist Yonebayashi ein wunderbares Debut gelungen, ein Film für die ganze Familie, der Spaß macht, schön anzusehen ist aber auch unseren Umgang mit anderen Lebensformen und -weisen hinterfragt. Am 2. Juni kommt die kleine Borgerin auch in die deutschen Kinos, eine Gelegenheit die sich niemand entgehen lassen sollte!
1 Jan.
Original: Bekushiru – 2077 Nihon sakoku (2007)
Mein erster Film des Jahres 2011, und dann gleich so ein Reinfall! Da kann ich nur hoffen, dass das kein schlechtes Omen ist, was den Rest des Jahres angeht. Immerhin, es kann jetzt nach Vexille eigentlich nur noch besser werden, jedenfalls filmisch. Aber der Reihe nach…
Wir schreiben das Jahr 2077, Japan dominiert mit der überlegenen Technologie des Konzerns Daiwa den Weltmarkt für Roboter, ist aber wegen Verstößen gegen internationale Abkommen über die Entwicklung von Androiden völlig isoliert. Seit mehr als 10 Jahren hat kein Ausländer mehr Japan betreten, das Land hat sich durch einen elektronischen Schutzwall völlig von der Außenwelt abgeriegelt.
Als eine US-Spezialeinheit Informationen erhält, dass in Japan von Menschen nicht zu unterscheidende Androiden entwickelt wurden, beginnt sie mit der Infiltration. Doch nur die Elitekämpferin Vexille schafft es tatsächlich bis nach Tokyo. Dort muss sie entsetzt feststellen, dass Japan völlig zerstört ist und nur noch wenige Menschen am Leben sind, die von Daiwa für Experimente zur Verwandlung von Menschen in Droiden missbraucht werden. Gemeinsam mit einer Gruppe Widerstandskämpfer will sie dem Konzern das Handwerk legen.
Die Grundidee ist durchaus sehr interessant und hat nicht zuletzt vor dem historischen Hintergrund der jahrhundertelangen Isolation Japans unter den Tokugawa erhebliches Potenzial, um einen intelligenten Film daraus zu machen. Leider scheint das für die Macher von Vexille keinerlei Priorität gehabt zu haben.
Herausgekommen ist statt dessen eine riesengroße Enttäuschung: Die Story ist so voller Löcher und Widersprüchlichkeiten, dass es phasenweise schwer ist, überhaupt eine Story zu erkennen. Mit solchen Belanglosigkeiten wie Motivation der Charaktere hat man sich wohl erst gar nicht beschäftigt, sondern es lieber gleich ordentlich krachen lassen. Doch leider ist noch nicht mal die Action wirklich gelungen. Sie ist zwar schön anzusehen, aber bar jeder Innovation. Verfolgungsjagden, Schießereien, das Übliche, das man in jedem Bond oder Lethal Weapon-Film vor 15 Jahren schon besser gesehen hat.
Auf mich wirkt der Film wie eine unfertige, lose zusammengestellte Ansammlung von Animations-Fragmenten, in denen die CGI-Experten mal ausprobieren durften, was denn so geht. Herausgekommen ist dabei einiges an grandiosem Eye-Candy, aber definitiv kein brauchbarer Film.
10 Juli
Original: Summer Wars (2009) von Mamoru Hosoda
Eigentlich hat Kenji schon einen Ferienjob als Systemadministrator bei dem riesigen Social Network „Oz“. Doch als die Schulschönheit Natsuki noch eine Aushilfe sucht, lässt er sich nicht zweimal bitten und begleitet sie aufs Land zu ihrer weitläufigen Familie, die den 90. Geburtstag der Oma feiert. Dort stellt sich allerdings heraus, dass sein Job darin besteht, Natsukis Freund zu spielen. Nach ein bisschen Sträuben lässt er sich natürlich breit schlagen und genießt dann auch das turbulente Familienleben.
Doch das böse Erwachen folgt am nächsten Morgen, als sich herausstellt, dass Kenjis „Oz“-Account gehackt wurde und nun Amok läuft: Reihenweise schluckt er andere Accounts und greift mit deren Rechten auf allerlei Systeme zu, von Ampelanlagen über GPS-Satelliten bis zu Herzschrittmachern. Die Welt droht, im Chaos zu versinken. Doch Kenji und seine „neue Familie“ stemmen sich mit allen Mitteln der künstlichen Intelligenz entgegen, und dabei kommen sich natürlich auch Kenji und Natsuki näher.
Summer Wars ist Unterhaltung im allerbesten Sinne: Der Film legt gleich mit der berauschenden Bilder- und Bewegungsflut von „Oz“ los, doch bevor wir von all den Eindrücken überwältigt werden, nimmt Hosoda Tempo raus und stellt uns erstmal unsere Helden vor. Dann gehts gleich wieder mit Vollgas weiter in die nächsten Temposzenen, bevor wir dann Natsukis Familie kennenlernen. Man muss diese rhythmischen Wechsel, die uns einerseits mitreißen und die Zeit wie im Fluge vergehen lassen (Laufzeit fast 2 Stunden), dazwischen aber viele Gelegenheiten zum Innehalten bieten und schon fast eine besinnliche Stimmung bieten, einfach bewundern.
Einziger Wermutstropfen für den nicht-japanischen Zuschauer ist das Finale, in dem Natsuki mit dem gehackten Monster-Account um die Zukunft der Welt spielt – und zwar eine Partie Hanafuda, ein japanisches Kartenspiel. Wer dieses Spiel nicht kennt, was wohl für die meisten westlichen Zuschauer zutrifft, dem entgeht leider ein Stück der Spannung und des Mitfieberns.
Auch wenn der Film in erster Linie unterhalten will, ist er aber alles andere als platt. Es werden eine Reihe von wichtigen, ernsten Themen angeschnitten und die fließende Verknüpfung der „realen“ Welt im Film mit einem Social Network, wie es in ein paar Jahren durchaus vorstellbar wäre, bietet reichlich Gedankenanstöße. So gibt es eine Sequenz, in der Natsukis Oma mit Hilfe ihrer weitverzweigten Familienverhältnisse sowie alter Freunde und Bekannten – also mit einem Netzwerk der alten Schule – in all das durch den Zusammenbruch des virtuellen Netzwerks verursachte Chaos etwas Ordnung zu bringen versucht.
Was mich – als jemand der in der Branche tätig ist – an der Umsetzung von „Oz“ besonders begeistert hat, war der einerseits sehr spielerische, zugleich aber absolut realistische Umgang mit dem Thema. Wie wir als Zuschauer und „neu registrierte Mitglieder“ am Anfang des Films abgeholt werden und die Funktionsweise dieser virtuellen Welt erklärt bekommen, davon könnte sich so manches real existierende Social Network eine Scheibe abschneiden! Auch wie die spielerische Nutzung, die für die meisten Menschen bei Social Networks im Vordergrund steht, mit den sehr ernsten Konsequenzen von Ereignissen in der virtuellen Welt für das reale Leben kontrastiert wird, zeugt von einem durchdachten Umgang mit diesem hochaktuellen Thema. Die Ernsthaftigkeit bleibt aber angesichts der unfassbar vielen, liebevoll-kreativen Details stets im Hintergrund.
Was im Vergleich zu Hosodas vorangegangenem Film Das Mädchen, das durch die Zeit sprang jedoch fehlt, sind die wunderbar ausgeformten Charaktere. Dafür bleibt in Summer Wars bei all dem drunter und drüber, der Faszination der virtuellen Welt in „Oz“ und der Vielzahl an zwar sympathisch-schrägen, aber doch ziemlich oberflächlichen Charaktere schlicht keine Zeit mehr. Es sind zwei völlig verschiedene Filme und beide sind auf ihre Art sehr sehr gut gemacht. Das spricht eindeutig für das Können von Mamoru Hosoda, von dem wir angesichts seines Alters von 42 Jahren noch einiges erwarten dürfen.
2 Juni
Original: Genius Party Beyond (2008)
Fünf Animationsregisseure durften sich für den zweiten Teil des Genius Party Experiments – beide Filme bestehen jeweils aus mehreren eigenständigen Anime-Kurzfilmen – austoben. Dieses Mal dabei die Newcomer Masahiro Maeda (seine Episode „Gala“ macht den Auftakt), Shinya Ohara („Wanwa“) und Tatsuyuki Tanaka („Tojin Kit“). Außerdem Kazuto Nakazawa („Moondrive“), der bereits an Animatrix mitgewirkt und die Animationssequenzen für Kill Bill beigesteuert hatte sowie Koji Morimoto („Dimension Bomb“), einer der anerkanntesten Animateure weltweit und Mitgründer des Studio 4°C.
Ich werde jetzt nicht groß in die Details der einzelnen Episoden gehen, die sind alle für sich genommen faszinierend und in sich stimmig was ihre Ästhetik und Atmosphäre angeht, erzählen aber auch alle für sich genommen eine kleine Geschichte. Mal machen diese Episoden einfach nur Spaß („Moondrive“), mal regen sie zum Nachdenken an („Dimension Bomb“). Manche kommen knallbunt daher und überrollen einen mit ihrer Kreativität und Vitalität geradezu („Wanwa“), andere holen einen wieder herunter, sind stoisch und unterkühlt bis zur Schmerzhaftigkeit („Tojin Kit“). Und mit „Gala“ ist auch ein audiovisuelles Gesamtkunstwerk dabei.
Dass Genius Party Beyond trotz dieser großen Bandbreite, der Unterschiede zwischen den einzelnen Episoden funktioiniert und überzeugt, liegt daran, dass die fünf Episoden auch einiges gemeinsam haben. Vor allem gibt es keine Ausfälle, alle fünf sind absolut sehenswert und auf ihre Art mitreissend und fesselnd. Und zudem haben die Episoden ein gemeinsames Thema, das sie in eine übergeordnete Struktur einfügt und dem ganzen Film seinen Rhythmus verleiht: Der Zyklus von Leben und Tod.
In der ersten Episode steht das Wunder neuen Lebens im Zentrum, dessen Alltäglichkeit und Unscheinbarkeit in „Gala“ einmal aus einer ganz anderen Perspektive gezeigt wird. Besonders begeisternd an dieser Episode fand ich (neben der wunderbaren Idee als solcher) das fantastische Zusammenspiel von Bildern und Musik, das eine unglaubliche Energie freisetzt, die mich am Ende der Episode mit wild klopfendem Herz in den Kinosessel gedrückt hatte.
Weiter geht es dann mit der durchgeknallten Schatzsuche in „Moondrive“, die in meinen Augen die wilden Jugendjahre repräsentiert, in denen alles möglich ist und man nie zurück schaut. In „Wanwa“ stehen Kindheit und Familie im Vordergrund und werden mit einem Stil umgesetzt, der wirklich wirkt als wären Kinder mit Malstiften am Werk gewesen.
Nach diesem lebensfrohen und quietschbunten Abschnitt wird es nun sehr viel ernster: In „Tojin Kit“ sehen wir einen Hauptcharakter bar jeglicher Energie und Lebensfreude, in einer farblosen, monotonen, von leeren Gängen und Industrie geprägten Welt. Das einzige, was diese Trostlosigkeit durchbricht, wird von einer totalitären Staatsmacht gejagt und vernichtet. Willkommen in der Midlife-Crisis.
Am Ende des Films folgt dann mit Koji Morimotos „Dimension Bomb“ der absolute Höhepunkt. Die grandiose, rätselhafte Animation fegt alles beiseite, nimmt gefangen und reisst alles mit sich fort. Lichtdurchflutete Bilder von faszinierender Schönheit wie der obige Screenshot aus einem Kornfeld wechseln sich ab mit bedrückenden Bildern brennender, sich vor Verzweiflung windender Körper. Gegensätze wie heiss und kalt, Regen und Sonne, Himmel und Hölle prägen diese Episode und markieren den Übergang vom Leben zum Tod. Der Kreis schließt sich, das Leben kann neu beginnen.
Genius Party Beyond ist eine Sammlung kleiner Meisterwerke, deren Zusammenspiel exzellent funktioniert und die so in ihrer Gesamtheit noch über sich hinaus wachsen. Animation vom Allerfeinsten, kreativ und ambitioniert, Avantgarde wie man sie selten so konzentriert zu sehen bekommt. Für mich war das der letzte Film, den ich auf dem JFFH gesehen habe, und es war ein würdiger Ausklang. Jetzt heisst es nur noch, auf die DVD warten, die hoffentlich bald bei rem erscheint.
19 Mai
Original: Perfect Blue (1998) von Satoshi Kon
Mima, Mitglied einer halbwegs erfolgreichen Teenie-Pop-Band, entscheidet sich, die Band zu verlassen und den nächsten Schritt in ihrer Karriere zu machen: Eine Nebenrolle in einer Krimi-Serie soll ihr den Einstieg ins Filmbusiness ermöglichen. Wie vielen ihrer Fans fällt auch ihr dieser Rollenwechsel nicht leicht. Doch sie ist wild entschlossen, das zuckersüße Popsternchen-Dasein hinter sich zu lassen und sich weiterzuentwickeln. So nimmt sie für größere Auftritte in der Serie sogar eine provokante Vergewaltigungsszene in Kauf und lässt Nacktfotografien für Magazine anfertigen.
Doch Mimas zunehmender Erfolg wird überschattet von merkwürdigen Vorgängen: Eine Webseite namens „Mimas Room“ gibt minutiös intime Details ihres Lebens wieder. Ein fanatischer Fan folgt ihr auf Schritt und Tritt. Drohbriefe gehen im Fernsehstudio ein. Sie beginnt, eine zweite Mima zu sehen, die behauptet, die „wahre“ Mima zu sein. Unter dem Stress verschwimmen in ihrem Bewusstsein ihre Rolle in der Krimi-Serie und ihr Leben immer mehr. Als plötzlich mehrere Mitglieder des Filmteams grausam ermordet werden, scheint Mima den Verstand zu verlieren… hat sie die Morde selbst begangen?
Abgesehen von der etwas einfach gehaltenen Animation (wohl dem Umstand geschuldet, dass für den Film kein großes Budget zur Verfügung stand) deutet nichts darauf hin, dass es sich hier um den Debutfilm von Satoshi Kon handelt. Die Story nimmt langsam Fahrt auf, reisst uns Zuschauer dann aber wie in einem Mahlstrom mit sich fort und zieht uns ganz in ihren Bann. Mimas Charakter, der zwischen wilder Entschlossenheit und wachsenden Selbstzweifeln hin- und hergerissen ist, ist sehr reif angelegt und glaubwürdig. Die verschiedenen Handlungsfäden und psychologischen Ebenen sind virtuos miteinander verwoben und gehen stellenweise so fließend ineinander über, dass man auch nach mehrfachem Sehen dem Film immer noch auf den Leim geht und sich dem Verwirrspiel nicht entziehen kann.
Dieses Verflechten verschiedener Realitäten ist inzwischen zu einem regelrechten Markenzeichen Kons geworden (siehe Paprika oder Millennium Actress), und auch wenn er dies in seinen späteren Filmen sehr viel aufwändiger in Szene setzen konnte, ist seine Handschrift hier schon unverkennbar.
Dazu gehört beispielsweise das Spiel mit Technologien, die uns alternative Realitäten vorgaukeln: Die Webseite „Mimas Room“ ebenso wie die TV-Serie. Gerade die Auseinandersetzung mit dem eigenen Medium Film (bzw. TV) ist auch in Millennium Actress und Paprika von zentraler Bedeutung. Dabei verwischt Kon die Übergänge zwischen TV-Serie und Realität mit großer Kreativität: Mal sind diese so fließend, dass erst in der nächsten Szene klar wird, auf welcher Ebene man sich bewegt, mal sind sie bewusst in Szene gesetzt, etwa indem das Geschehen durch die Kamera des Filmteams gezeigt wird.
Ein immer wieder auftauchendes Motiv sind Reflexionen und Spiegelbilder, welche die charakterlichen Brechungen der Hauptakteure – und allen voran Mimas – unterstreichen. Paradebeispiel dafür ist der Höhepunkt der Dreharbeiten an der Vergewaltigungsszene, die eine Schlüsselszene sowohl für Mima selbst (sie bricht damit endgültig mit ihrer Vergangenheit als Popsternchen) als auch für ihren Charakter in der Fernsehserie ist. Aus der Perspektive des Regisseurs sehen wir einen Wust von Monitoren, auf denen die verschiedenen Bilder der eingesetzten Kameras simultan zu sehen sind, mit immer anderen Blickwinkeln auf Mima.
Doch Perfect Blue ist nicht nur ein packender Psycho-Thriller sondern auch ein durchaus kritischer Blick auf die Mechanismen der Unterhaltungsindustrie und den harten Weg, den eine junge Frau zurücklegen muss, um sich in der Branche zu etablieren. Von der – teilweise fanatischen – Fanszene über das Klinkenputzen der Agenten bis hin zum kalkulierten Nackt-Shooting ist alles drin. Naive Fans, die ihre Stars vergöttern und darüber den Bezug zur Realität verlieren kriegen ebenso ihr Fett weg wie eiskalte Produzenten, denen es nur um die Quote geht.
So hat eben auch Mima ihre Probleme, sich in diese neue Umgebung und die veränderte Rolle, die sie darin spielt, einzufinden. Einerseits trauert sie noch der idealisierten, unschuldigen Zeit als Teenie-Star nach, andererseits will sie sich ihre Sporen in der rauhen Welt des Films erarbeiten. Und irgendwo dazwischen auch noch sie selbst sein. So ist die Charaktere Mima auch ein Symbol für das Erwachsenwerden, den schmerzhaften Abschied von der sorglosen Jugend, den Kampf mit der eigenen Identität und dem Sich-Etablieren in der Welt der Erwachsenen.
Roger Corman schrieb über Perfect Blue: „If Alfred Hitchcock partnered with Walt Disney they’d make a picture like this.“ An Hitchcock erinnert in diesem spannungsgeladenen psychologischen Verwirrspiel voller überraschender Wendungen in der Tat sehr viel, mit Disneys Werken hat es dagegen eigentlich nur gemein, dass es ebenfalls ein Zeichentrickfilm ist. Und wer immer noch behauptet, Zeichentrick wäre was für Kinder, den wird dieser Psycho-Thriller mit unerwartetem Tiefgang garantiert eines besseren belehren!