11 Feb
Original: Yoidore tenshi (1948) von Akira Kurosawa
Im zerbombten Tokyo hat sich der Arzt Sanada (Takashi Shimura) ganz dem Kampf gegen die Tuberkulose verschrieben. Auch bei dem Gangster Matsunaga (Toshiro Mifune), der sich eigentlich wegen einer Schusswunde behandeln lassen will, diagnostiziert er die teuflische Krankheit und versucht, den Sturkopf zu einer Behandlung zu überreden. Aus Stolz und Furcht, eine Schwäche einzugestehen, lehnt dieser ab. Doch Sanada gibt nicht auf, die beiden fassen langsam Vertrauen zueinander und Sanada willigt schließlich in eine Behandlung ein.
Als der alte Boss Okada (Reisaburo Yamamoto) aus dem Gefängnis entlassen wird, muss Matsunaga jedoch um sein Standing kämpfen und nimmt dabei immer weniger Rücksicht auf seine Gesundheit. Zudem entdeckt Okada, dass seine Frau inzwischen bei Sanada als Krankenschwester arbeitet, was nun auch den Arzt ins Schussfeld bringt. Matsunaga muss sich entscheiden, auf wessen Seite er steht.
Das Zentrum des Films – sowohl im geographischen wie symbolisch-spirituellen Sinne – ist ein dreckiger Tümpel nahe Sanadas Praxis, der von den Anwohnern als Müllkippe benutzt wird und allerlei Krankheiten als Brutstätte dient. Bereits für die eröffnende Titelsequenz, aber auch für viele weitere entscheidende Szenen gibt er den Hintergrund ab und wird zu einem strukturierenden Element des Films. Zugleich wird der Tümpel von Kurosawa – und von Sanada als seine Stimme im Film – als ein Symbol zur Verdeutlichung des physischen und psychischen Zustands der Charaktere aber auch des ganzen Landes benutzt.
Um dieses Zentrum kreisen die Charaktere und definieren sich im Bezug darauf: Sanada, der das Übel erkannt hat, es bekämpft und andere auf den Weg der Besserung bringen will; Matsunaga, der sich in Passivität und Schicksalsergebenheit zurückzieht; Okada, der den Tümpel als sein Element sieht und sich das Übel zu nutze macht.
Vorangetrieben wird Engel der Verlorenen von der Konfrontation Matsunaga-Sanada, aber es bilden sich daneben noch andere Charakterpaare, die teils explizit, teils implizit als Gegensätze und konkurrierende Elemente dienen: Sanada und Okada wirken als zwei Pole, zwischen denen Matsunaga hin- und her gerissen wird. Die junge Kellnerin Gin (gespielt von der vor wenigen Tagen verstorbenen Noriko Sengoku), die sich heimlich in Matsunaga verliebt und davon träumt, mit ihm in ihre Heimat zurückzukehren und ihn gesund zu pflegen, steht im Kontrast zu Matsunagas Geliebter Nanae, einer verwöhnten Nachtclubsängerin. Das Pendant zu Matsunaga wiederum ist ein junges, wie er an Tuberkulose erkranktes Mädchen (die 17jährige Yoshiko Kuga in einer ihrer ersten Rollen), das allerdings Sanada vertraut und die Krankheit mit seiner Hilfe besiegt.
Diese Charakterpaare verkörpern die dem Film zugrunde liegende sozialkritische Botschaft: Japan ist ein zerstörtes, krankes Land, das für einen Neubeginn und eine bessere Zukunft mutige Menschen braucht. Menschen, die bereit sind, der Wahrheit ins Gesicht zu sehen, sich aus ihrer Passivität und mit der Vergangenheit zu brechen, ihr Schicksal in die eigene Hand zu nehmen und hart an sich selbst für ihre Zukunft zu arbeiten.
Diese Botschaft – die natürlich auch ganz im Sinne der amerikanischen Besatzungsmacht war – steht im Zentrum zahlreicher Filme Kurosawas gerade in der Nachkriegszeit. Nirgends wird sie allerdings so unmissverständlich auf den Punkt gebracht wie in Engel der Verlorenen, als in der letzten Szene Sanada der geheilten Schülerin mit den Worten gratuliert „Die Kraft des Willens kann alle menschlichen Leiden heilen“.
Dabei ist Sanada selbst alles andere als ein Heiliger: Er ist aufbrausend, sarkastisch und cholerisch, trinkt zur Not auch mal verdünnten medizinischen Alkohol, der eigentlich für seine Patienten bestimmt wäre und erzählt freimütig von seinen jugendlichen Besuchen im Bordell. Wahrscheinlich sind es diese Schattenseiten, die ihn in Matsunaga sich selbst in jungen Jahren sehen lassen, und die seinen verzweifelten Kampf um Matsunagas Leben motivieren.
Stilistisch ist Engel der Verlorenen ein Traum. Die Bildkompositionen sind einfach grandios, das Spiel mit Licht und Schatten in einigen Szenen als Symbol für die Zerrissenheit der Charakter und der menschlichen Psyche allgemein deutet an, was in Rashomon dann zur Vollendung kommen sollte. Auffallend häufig arrangiert Kurosawa seine Charaktere so, dass eine Person den Vordergrund dominiert und eine andere Person klein dahinter zu sehen ist. Auch die Froschperspektive kommt dabei des öfteren zum Einsatz.
Der Tümpel ist allgegenwärtig, nicht nur als Hintergrund in verschiedenen Szenen sondern auch als Mittel der Überleitung zwischen Szenen, was dem ohnehin schon sehr klar aufgebauten Film noch zusätzliche Struktur gibt. In manchen Szenen besonders in der ersten Hälfte, in denen Sanadas Ausflüge in Matsunagas Straßengauner-Milieu gezeigt werden, fühlt man sich regelrecht in den Schwarzmarkt, die verrauchten Tanzlokale und verschwitzten Kneipen versetzt.
Es ist vor allem diese atmosphärisch dichte Darstellung der ärmlichen Verhältnisse, die dem Film immer wieder Vergleiche zum italienischen Neo-Realismus einbringen. Stephen Prince weist allerdings völlig zurecht darauf hin, dass es Kurosawa anders als Rossellini oder de Sica nicht um eine möglichst unverfälschte Wiedergabe der Realitäten ging. Vielmehr nutzt Kurosawa ausgiebig symbolhafte Darstellungen und ist weit von dem Anspruch entfernt, möglichst wenig manipulative Eingriffe vorzunehmen.
Der Film wird aber auch getragen von seinen Charakteren: Zum ersten Mal standen Takashi Shimura und Toshiro Mifune hier gemeinsam für Kurosawa vor der Kamera, und die gute Chemie zwischen den beiden ist vom ersten Moment an zu spüren. Wenn Mifune als möchtegern-cooler Gangster, der einem romantisierenden Bild der Unterwelt und ihres Ehrencodex nachträumt, und Shimura als mürrischer, trinksüchtiger Arzt mit dem großen Herz aufeinander prallen, dann sprühen die Funken!
Es ist eine wahre Freude, den beiden zuzusehen, und kein Wunder, dass Kurosawa diese Konstellation seiner Hauptdarsteller für die meisten seiner Filme der nächsten 15 Jahre beibehalten sollte. Und noch ein weiterer langjähriger Begleiter Kurosawas gibt in Engel der Verlorenen sein Debut, der Komponist Fumio Hayasaka, dessen schlichte, aber emotionale Musik die Stimmung des Films wunderbar aufgreift und verstärkt.
Engel der Verlorenen ist einer meiner persönlichen Lieblingsfilme aus Kurosawas Werk, vielleicht gerade deshalb, weil er noch nicht so geschliffen und perfektioniert ist wie spätere Filme, und eher an einen Rohdiamanten erinnert. Alle Elemente dessen, was einen Kurosawa-Film ausmacht, sind aber präsent und das Erfolgsteam der späteren Giganten wie Rashomon oder Die Sieben Samurai ist nahezu komplett. Hier kann man ihm beim Spannen der Muskeln zusehen, und das ist ein Anblick, den man sich auf keinen Fall entgehen lassen sollte!
31 Jan
Original: Hakuchi (1951) von Akira Kurosawa
Traumatisiert von Erlebnissen während des Krieges kehrt Kameda (Masayuki Mori) von einem Sanatoriumsaufenthalt in seine Heimat auf Hokkaido zurück. Unterwegs lernt er Akama (Toshiro Mifune) kennen, und berichtet ihm von seinen Erlebnissen und seiner „Krankheit“, zu der epileptische Anfälle, Amnesie und generell eine kindliche Offenheit und Ehrlichkeit gehören. Akama ist fasziniert von der ungewöhnlichen Persönlichkeit Kamedas und berichtet ihm von seiner abgöttischen Liebe zu Taeko (Setsuko Hara), die als Kurtisane ihr Dasein fristet. Als Kameda ihr das erste Mal begegnet, erkennt er in ihr sofort eine verzweifelte, malträtierte Seele und ist magisch von ihr angezogen.
Doch Taeko kann sich Akamas Einfluss und ihrer Vergangenheit nicht entziehen und hält Kameda zu dessen eigenem Schutz auf Distanz, der inzwischen eine Romanze mit der launischen Ayako (Yoshiko Kuga) beginnt. Zugleich wird Akama aber mehr und mehr bewusst, dass Taeko ihn nie vorbehaltlos lieben wird, und er beginnt sich mit Mordfantasien für seinen Freund zu tragen.
Der Idiot ist die erste Adaption eines großen literarischen Vorbilds, und dass Kurosawa sich ausgerechnet an diesem Monument der Weltliteratur versuchte, dürfte zum einen natürlich mit seiner Verehrung für Dostojewski zu tun haben. Eine nicht unwesentliche Rolle dürfte aber auch die im Roman schon stark ausgeprägte Gesellschaftskritik sein, die sich wunderbar in die Agenda seiner frühen Nachkriegswerke und zahlreicher späterer Filme einfügt.
Dass Dostojewksi zu Kurosawas Lieblingsautoren zählte, war zugleich jedoch ein Grund für die großen Probleme bei der Umsetzung der Vorlage: In seinem Bestreben, das große Werk möglichst getreue zu adaptieren, schrieb er das Drehbuch fast im Alleingang und übernahm dabei Charaktere und Handlung zwar komprimiert, aber doch fast komplett. Nur Zeit und Ort wurden in das winterliche Hokkaido der Gegenwart verlegt, das aber mit seinen Schneelandschaften, eingeschneiten Häusern, Eiszapfen und Schneestürmen für die eher subtropisches Klima gewöhnten Japaner ähnlich exotisch wirken dürfte wie ein russischer Winter. Die große Nähe zum Original des Romans ließ den Film in seiner ursprünglichen Fassung auf eine Länge von viereinhalb Stunden anwachsen, für damalige Zeiten eine Monstrosität.
Schockiert angesichts der Länge des Films verlangte das Produktionsstudio Shochiku eine Kürzung und das Drama nahm seinen Lauf: Kurosawa ging nur widerwillig auf das Drängen des Studios ein, schnitt den Film aber dennoch auf etwas über drei Stunden. Diese Fassung wurde jedoch nur einmal gezeigt, nämlich bei der Premiere des Films im Mai 1951. Anschließend ließ Shochiku ohne Kurosawas Mitwirken nochmals eine halbe Stunde schneiden und fügte zahlreiche Zwischentitel und sogar einen Off-Sprecher ein, um dem Publikum die wichtigsten Hintergründe und Handlungsstränge zu vermitteln. Kurosawa war entsetzt, protestierte und schrieb an seinen Mentor Kajiro Yamamoto, dass das Studio den Film genauso gut der Länge nach hätte durchschneiden können.
Zum großen Leidwesen aller Cineasten müssen Kurosawas Ursprungsfassung und auch die von ihm selbst gekürzte Premierenversion als endgültig verloren gelten, was es schwer macht, den Film wirklich zu bewerten. Denn die massiven Schnitte scheinen hauptsächlich in der ersten Hälfte des Films vorgenommen worden zu sein. Dadurch wird die erste Stunde extrem verwirrend, es ist kaum möglich, der Handlung zu folgen und die Beziehungen der Charaktere zu einander zu verstehen. Nicht nur Lücken in der Handlung, auch Brüche in der Kontinuität und seltsame Übergänge zwischen Szenen sorgen ständig für Verwirrung. Erst in der zweiten Hälfte, als sich die Konstellation aus den doppelten, sich überlagernden Dreiecksbeziehungen etabliert hat und sich die Konflikte zuzuspitzen beginnen, macht der Film langsam Sinn und es kommt Spannung auf.
Jeder der Hauptcharaktere steht für bestimmte menschliche Eigenschaften, wobei sich die positiven fast ausschließlich auf Kameda konzentrieren und Eifersucht bei praktisch allen vertreten ist: Ayako symbolisiert Sturheit und Launigkeit, Akama steht für Zorn und Egoismus, Taeko für Arroganz und Selbstzerstörung, Kayama (ein Nebencharakter, der sich für eine fürstliche Bezahlung als Bräutigam für die Kurtisane Taeko anbietet) für Prinzipienlosigkeit und Gier. Darüber hinaus gibt es noch mehrere Nebenfiguren, wie etwa Ayakos intrigante, neidische Schwester oder einen verlogenen Anwalt, die den Reigen der menschlichen Schwächen und Charakterlosigkeiten noch komplettieren.
Ihnen gegenüber steht Kameda, der „Idiot“, der mit seiner kindlichen Offenheit, seinem naiven Vertrauen, seiner Ehrlichkeit und Aufrichtigkeit, seiner Fürsorge und Selbstlosigkeit, Dankbarkeit und Einfühlungsvermögen einen so strahlenden Kontrast bildet, dass die anderen Charaktere regelrecht geblendet sind. Akama, Taeko und Ayako fasziniert dieser besondere Mensch, die meisten anderen, ganz in ihren Intrigen und ihrem alltäglichen Kleinklein gefangenen Nebencharaktere begegnen ihm schlicht mit Unverständnis, Ablehnung und Hochmut.
Dass Kurosawa uns seine Botschaft mit diesem krassen Gegensatz „Kameda vs. den Rest der Gesellschaft“ einhämmert, und in der finalen Szene von der tränenüberströmten Ayako nochmals explizit auf den Punkt bringen lässt, ist eine der zahlreichen Schwächen dieses Films. Besonders wenn man Dostojewskis Romanvorlage vergleicht, deren vielschichtige, ausgewogene und realistische Charaktergestaltung bis heute als herausragend gilt. Durch diese extreme Zeichnung seiner Charaktere macht Kurosawa es uns Zuschauern nahezu unmöglich, uns mit irgendeinem der Charaktere zu identifizieren, was den ganzen Film sehr oberlehrerhaft macht.
Da zudem die Handlung wegen der vielen Lücken schwer verständlich und obendrein auch noch ausschweifend ist, macht das Fehlen einer echten Identifikationsfigur es noch schwieriger, sich auf den Film einzulassen und ihm zu folgen. Und auch nachdem man die weitgehend unverständliche erste Stunde mit ihren Brüchen und Lücken überstanden hat, dauert es wegen der vielen langen Dialogszenen lange, bis sich die ersten Anzeichen für die Kurosawa sonst eigene Dynamik einstellen.
Bei all den Schwächen und aller Kritik muss zur Ehrenrettung aber auch gesagt werden, dass Der Idiot einige grandiose Szenen und Einstellungen aufzuweisen hat und – jedenfalls in der zweiten Hälfte – eine phasenweise elektrisierende Atmosphäre aufbaut. Die Rivalitäten zwischen Akama und Kameda um Taeko einerseits und zwischen Ayako und Taeko um Kameda andererseits sind immer wieder fantastisch in Szene gesetzt. Brillant ist besonders der Showdown, in dem Ayako und Taeko sich zum ersten Mal begegnen und in dem die Spannung zwischen allen Beteiligten, vor allem aber zwischen den beiden Frauen regelrecht knistert.
Begeistert hat mich in dieser Szene der Moment, in dem die beiden Frauen sich wortlos nebeneinander setzen und man förmlich sehen kann, wie sich in ihnen und zwischen ihnen die Spannung immer weiter steigert. Und genau wenn man als Zuschauer denkt, jetzt müssen sie gleich wie Vulkane explodieren, schneidet Kurosawa auf einen in der Ecke stehenden gusseisernen Ofen, in den gerade der Wind hineinfährt und die Flammen aus allen Ritzen schießen lässt. Ein echter Gänsehaut-Moment!
Ebenfalls großartig ist die Verfolgungs-Sequenz, in der Kameda von – wahren oder eingebildeten – Erscheinungen Akamas durch die verschneiten Straßen getrieben wird, bis er letztlich einen epileptischen Anfall erleidet. Oder natürlich die Szenen beim Eislauf-Karneval, die zunächst heiter beginnen und dann, musikalisch genial untermalt von Mussorgskis „Eine Nacht auf dem kahlen Berge“, immer dramatischer werden und die Konfrontation zwischen Akama und Kameda andeuten. Hier lässt sich erahnen, welches Potenzial in diesem Film steckte, wäre er nicht so gnadenlos zusammen geschnitten worden.
Diese Szenen leben nicht zuletzt auch von den Darstellern, von denen vor allem Setsuko Hara mit ihrem schwarzen Cape und Toshiro Mifune ihre Charaktere so emotional überzeichnet und voller Manierismen geben, dass sie schon fast wie Karikaturen wirken, was etwa Donald Richie stark kritisiert. Angesichts der charakterlichen Zuschnitte der Personen würde ich aber vermuten, dass dieser Effekt von Kurosawa so absolut beabsichtigt war.
Masayuki Mori hat seine stärksten Szenen ironischerweise ausgerechnet in der verstümmelten ersten Hälfte, in der zweiten wirkt er angesichts der von den anderen drei Protagonisten entfesselten Kräfte oft wie ein hilflos im Sturm hin und her gerissenes Blatt Papier. Am meisten überzeugt hat mich Yoshiko Kugas launische, verzogene Tochter aus gutem Hause, die gerne nach außen Stärke und Erwachsensein demonstriert, angesichts ihrer Jugend aber oft einfach noch unsicher ist. Ayako wirkt am wenigsten übertrieben, ohne dabei aber angesichts von Akama und Taeko so blass zu sein wie phasenweise Kameda.
Wie weiter oben erwähnt fällt es mir sehr schwer, diesen Film zu beurteilen. Kurosawa wagte sich hier an die Verfilmung eines Buches, das er schon fast religiös verehrte und für das er eine große filmische Vision hatte. Leider ist von dieser Vision wegen der massiven Schnitte und Kürzungen wenig erhalten geblieben, so dass Kurosawa bei diesem Projekt ein ähnliches Schicksal erfuhr wie seinem Hauptcharakter und Der Idiot somit eine in doppelter Hinsicht tragische Geschichte erzählt.
3 Jan
Original: Ikimono no kiroku (1955) von Akira Kurosawa
Der Zahnarzt Harada (Takashi Shimura) ist nebenbei im örtlichen Gericht als Berater in Familienstreitfällen tätig. Eines Tages wird er zu einer höchst ungewöhnlichen Anhörung gerufen: Die Familie des Unternehmers Nakajima (Toshiro Mifune) möchte diesen für unzurechnungsfähig erklären lassen, weil dieser, getrieben von Angst vor der atomaren Verstrahlung, allerlei aberwitzige Pläne verfolgt. So hat er bereits begonnen, einen unterirdischen Schutzbunker bauen zu lassen und will nun die gesamte Familie nach Brasilien emigrieren, wo er bereits eine Plantage gefunden hat.
Während Harada beeindruckt von der Sorge und dem Durchsetzungswillen des alten Patriarchen seine eigene Haltung zu einem möglichen Atomkrieg hinterfragt, bricht in der Familie Nakajima ein übles Hauen und Stechen aus. Denn der Alte bleibt nicht nur stocksteif bei seinem Plan vom Auswandern nach Brasilien. Er will neben seinen ehelichen Kindern und deren Familien gleich auch noch mehrere Geliebte und deren uneheliche Kinder mitnehmen, was die Streitigkeiten um die Zukunft und den Besitz der Familie mit allerlei Eifersüchteleien kräftig befeuert.
Bilanz eines Lebens gehört zu den größten finanziellen Flops in Kurosawas Karriere, obwohl er ein damals hochbrisantes Thema aufgriff: Bei amerikanischen Wasserstoffbombentests auf dem Bikini Atoll im Februar 1954 war der japanische Fischkutter Daigo Fukuryu Maru von radioaktivem Niederschlag kontaminiert worden, ein Seemann kam später ums Leben, zahlreiche andere erkrankten an Krebs. Dieser Vorfall löste nicht nur diplomatische Spannungen mit den USA aus, sondern auch ein gewaltiges Medienecho in Japan. Kurosawa war nicht der einzige Filmemacher, der sich des Themas annahm, sein Kollege und ehemaliger Regie-Assistent Ishiro Honda beispielsweise schuf auf Basis dieser Vorfälle Godzilla.
In der Tat weist der Film einige für Kurosawa ungewöhnliche Eigenheiten auf, so fehlt ihm beispielsweise eine starke, zentrale Heldenfigur, deren Entwicklung den Film trägt. Zwar ist Nakajima die Hauptfigur, wir Zuschauer folgen dem Geschehen aber aus Sicht des neutralen, um Nakajima und dessen Schicksal besorgten Harada. Denn Nakajima, der knallharte Familienpatriarch mit paranoiden Anwandlungen, ist als Identifikationsfigur denkbar ungeeignet.
Seine Rolle ist es vielmehr, Harada – und damit auch uns Zuschauer – zum Zweifeln zu bringen und vor die Frage zu stellen, was eigentlich verrückter ist: Angesichts einer möglichen atomaren Apokalypse vor Angst um die geliebten Angehörigen fast den Verstand zu verlieren und verzweifelt selbst nach den abstrusesten Fluchtmöglichkeiten zu suchen, oder sein Leben einfach unbehelligt weiterzuleben.
Leider fehlt es Bilanz eines Lebens auch an der sonst für Kurosawa so typischen Dynamik, die er immer virtuos in Szene zu setzen wusste. Statt Verfolgungsjagden zu Pferde oder in engen Tokyoter Gassen, statt windumtosten Duellen mit dem Schwert oder dramatischen Appellen vor Gericht bestehen die meisten Szenen aus auf Tatami herumsitzenden und sich gegenseitig Vorwürfe machenden Familienmitgliedern. Spannung will da nicht wirklich aufkommen, zumal beim westlichen Zuschauer, der diese ganzen gegenseitigen Abhängigkeiten, Loyalitätsbeziehungen und Erwartungen einer konservativen Familie im Japan der 1950er Jahre überhaupt nicht nachvollziehen kann.
Entsprechend des häuslichen, an die Familienheimstätte gebundenen Kontextes der meisten Szenen gibt es – ebenfalls untypisch für Kurosawa – auch wenig einprägsame Bilder, die im Gedächtnis bleiben. Die Kompositionen sind meist darauf ausgerichtet, ein unstetes, einengendes und bedrückendes Gefühl zu erzeugen, und arbeiten dabei mit sehr verschiedenen, teilweise sehr raffinierten Mitteln.
In den häuslichen Familienszenen laufen oft Personen im Vordergrund vorbei oder der Blick auf die Szenerie wird durch etwas anderes wie etwa Möbelstücke versperrt. Die ständig in Bewegung befindlichen Fächer unterstützen dieses Gefühl ebenfalls, und in einer Szene, in der Nakajima eine Geliebte und ihre Familie zum Auswandern zu überreden versucht, wedeln ständig die vom Luftzug bewegten Blätter eines Buches hin- und her.
Zudem taucht immer wieder das ästhetische Motiv des Gefangenseins auf, das manchmal dann auch deutlich weniger subtil unterstrichen wird, wie etwa als eine der Töchter Nakajimas an einem vergitterten Fenster rüttelt (siehe den Screenshot ganz oben), oder als Nakajima schlafend unter einem Moskitonetz gezeigt wird. Eine deutlich interessantere Variation dieses Themas ist dagegen die Verlesung des Antrags auf Unzurechnungsfähigkeit am Gericht, bei dem der Text über die Bilder gelegt wird, wobei durch die Schriftzeichen und Linien des Papiers ebenfalls eine Assoziation an Gitter, Zäune und Gefängnisse entsteht.
Typisch für Kurosawa ist hingegen der Einsatz von Wetterphänomenen und deren prägende Rolle für die Atmosphäre des Films. Ähnlich wie in Ein streunender Hund liegt die ganze Zeit eine dräuende, alles erstickende Sommerhitze über den Szenen und Charakteren, die ständig mit schweißnassen Hemden herumlaufen, sich permanent Luft zufächeln und den Schweiß aus dem Nacken wischen. Regen wie aus Kübeln und kräftige Gewitter dürfen natürlich nicht fehlen und besonders letztere tragen dazu bei, dass Nakajimas Paranoia immer verzehrender wird.
Ein Meilenstein in Kurosawas Werk ist Bilanz eines Lebens in der Hinsicht, dass es sein erster Film war, in dem konsequent mit mehreren Kameras parallel gedreht wurde. Diese aufwändige und für die Schauspieler gewöhnungsbedürftige Drehtechnik hatte der Regisseur im Jahr zuvor für die finale Regenschlacht in Die Sieben Samurai erstmals verwendet, nun kam sie permanent zum Einsatz.
Keine Anpassungsschwierigkeiten hatte dabei offenbar Toshiro Mifune, der eine grandiose Leistung als von Paranoia zerfressenen, aus Angst um seine Familie an deren Widerstand zerbrechenden Patriarchen abliefert. Wer ihn als jungen, aufgedrehten Haudrauf in Die Sieben Samurai gesehen hat, der ja nur ein Jahr zuvor gedreht wurde, wird ihn kaum wieder erkennen!
In Bilanz eines Lebens nahm sich Kurosawa eines hochbrisanten Themas an, und das auf eine für ihn ungewöhnliche Art und mit unüblichen, aber teilweise sehr raffinierten Mitteln. Allein aus diesen Gründen ist der Film interessant, doch leider kommt wegen der bedrückenden Thematik und Stimmung des Films sowie des Mangels an Dynamik sowohl der Handlung als auch der Charakterentwicklung der Unterhaltungsaspekt, der Kurosawa sonst immer so wichtig war, hier zu kurz. Ich würde zwar nicht so weit gehen wie manche Kritiker, die den Film als gescheitert betrachten, aber er gehört meiner Ansicht nach zu den schwächeren Werken des großen Regisseurs.
Original: Dodesuka-den (1970) von Akira Kurosawa
Eine bunt zusammengewürfelte Gruppe von Bewohnern eines Slums am Rande Tokyos kämpft um das Überleben im Alltag, darunter auch Rokku-chan, ein geistig zurückgebliebener Junge, der in der Illusion lebt, Straßenbahnführer zu sein. Jeden Morgen fährt er seine nicht-existente, dafür aber innig geliebte Bahn – sie ist schon ein etwas älteres Modell und die Wartungsmannschaften lassen sie manchmal links liegen – mit weithin hörbarem „dodeskadendodeskadendodeskaden“-Geratter durch die Müllberge.
Auf seiner Runde begegnen ihm die Familie Sawagami, deren Kinder alle von verschiedenen Männern stammen weil die Mutter eine hochnäsige Schlampe ist, was den Vater aber nicht davon abhält, jedes einzelne aus tiefstem Herzen zu lieben. Oder die befreundeten Ehepaare Masuda und Kawaguchi, die sich im Suff schon mal in der Haustür und im Partner für die Nacht irren, was ihrer Freundschaft aber keinen Abbruch tut.
Weitere Charaktere wären der Bettler, der nur seinen Tagträumen von einem bombastischen Haus nachhängt, während sein kleiner Sohn sich um ihr Überleben kümmert und betteln geht. Oder der einsame, zurückgezogen lebende Mann, dessen eisiges Schweigen ein tiefes, schreckliches Geheimnis zu verbergen scheint, das allen Nachbarn Rätsel aufgibt. Oder das Mädchen Katsuko, das bei seiner Tante lebt und für deren Mann nicht nur Tag und Nacht schuften muss, sondern auch noch von ihm missbraucht wird.
So hat jeder der Slumbewohner sein Päckchen zu schultern, und jeder hat seine Art, damit umzugehen. Für manche ist das Mittel der Alkohol, andere denken an Selbstmord oder geben sich Träumereien hin wie der Bettler. Manche Schicksale sind zum Herzzerreißen wie das von Katsuko, die in ihrer Verzweiflung und Einsamkeit alles in sich hineinfrisst und am Ende den einzigen Menschen, der ihr etwas bedeutet, in einer hysterischen Attacke umzubringen versucht.
Andere wie die beiden dauerbetrunkenen Kumpels sind in ihrer drolligen Tolpatschigkeit einfach lustig. Wieder andere, wie der gehbehinderte und von epileptischen Anfällen geplagte kleine Angestellte, der dennoch immer gut gelaunt und stets hilfsbereit ist, lassen den Zuschauer dann die Niederträchtigkeit und das Elend vergessen und wieder an das Gute im Menschen glauben.
So zeigt der Film einen nahezu zeitlosen Ausschnitt dessen, was Menschsein und menschliches Zusammenleben ausmacht, allerdings mit einem Schwerpunkt eher auf den Tiefen als den Höhen. Die Menschen in Dodeskaden sind tagtäglich mit dem Kampf ums Überleben und um die Wahrung ihrer Menschenwürde konfrontiert und gehen mit dieser Herausforderung völlig unterschiedlich um. Doch der Film bleibt dabei immer in einer bitter-süßen, humoristisch-leichten Stimmung verhaftet, die Kurosawa sehr wichtig war: „Hätte ich diesen Film ganz ernst gedreht, wäre er unerträglich depressiv geworden.“
Diese Stimmung wird zu einem guten Teil mit getragen von den manchmal geradezu aggressiven, unglaublich lebendigen Farben in Kurosawas erstem Farbfilm. Anders als seine prominenten Vorgänger Ozu oder Mizoguchi, die in ihren Farbfilm-Debuts eher zurückhaltend-realistisch und wenig innovativ mit der neuen Technik umgegangen waren, lässt Kurosawa es richtig knallen. Seine Wurzeln in der Malerei werden an vielen Stellen deutlich, nicht zuletzt in der finalen Szene in Rokku-chans über und über mit kindlichen Bildern seiner Straßenbahn behängten Hütte.
Diese beeindruckend farbenfrohen und wunderschön anzusehenden Bilder tragen den Film über weite Strecken, denn eine echte Handlung gibt es nicht und die Charaktere der einzelnen Episoden sind durch nichts – abgesehen von ihrer räumlichen Nähe – miteinander verbunden. So fehlt dem Film auch ein für Spannung sorgender Konflikt, geschweige denn ein Held oder eine sonstige Identifikationsfigur.
Das unterscheidet Dodesukaden denn auch von den thematisch ähnlich gelagerten früheren Filmen Kurosawas, wie Ein wunderschöner Sonntag, Nachtasyl oder Rotbart. Besonders die Parallelen zu Nachtasyl sind an vielen Stellen in der Anlage und Konstellation der Charaktere zu erkennen, ohne dass Dodesukaden dadurch aber an die – wenn auch negative – Kraft, Eindringlichkeit und Leidenschaft des Vorläufers anknüpfen könnte. Vielmehr plätschert der Film über weite Strecken einfach so dahin.
Dodesukaden war nicht nur Kurosawas erster Farbfilm, es war zugleich auch der erste und einzige Film, der vom „Club der vier Ritter“ realisiert wurde, einem Studio, das Kurosawa zusammen mit Keisuke Kinoshita, Masaki Kobayashi und Kon Ichikawa gegründet hatte. Nach Dodesukaden war das Studio denn auch sogleich pleite, weil der farbenfrohe Film beim Publikum durchfiel. Man geht allgemein davon aus, dass diese Enttäuschung und die schwierige Suche nach einem Anschlussprojekt einen erheblichen Anteil an Kurosawas Selbstmordversuch im darauf folgenden Jahr hatten.
Für Kurosawa-Enthusiasten ist Dodeskaden – Menschen im Abseits ein absolutes Must-see, nicht zuletzt wegen der Farbexperimente und der wichtigen Rolle als Bindeglied zwischen den zutiefst humanistisch-optimistischen schwarz-weiß Filmen und den späteren berühmten, an der Menschheit verzweifelnden Schlachtengemälden von Kagemusha und Ran. Und auch wer sich gerne mal ein filmgewordenes expressionistisches Experiment ansehen möchte, wird an diesem Film seine Freude haben.
1 Apr
Original: Warui yatsu hodo yoku nemuru (1960) von Akira Kurosawa
Die Hochzeit des Sekretärs Nishi (Toshiro Mifune) mit Yoshiko (Kyoko Kagawa), der Tochter seines Chefs, steht unter keinem guten Stern: Reporter belagern die Gesellschaft wegen eines Korruptionsskandals, Polizisten verhaften den Zeremonienmeister und obendrein taucht aus dem Nichts auch noch eine mysteriöse zweite Hochzeitstorte in Form eines Gebäudes auf, aus dem sich vor einigen Jahren ein Mitarbeiter der Firma in den Selbstmord gestürzt hatte.
Es stellt sich jedoch heraus, dass die Torte von Nishi selbst bestellt worden war. Denn es war sein Vater gewesen, der damals Selbstmord beging. Anders als von manchen vermutet geht es Nishi daher auch nicht um seine Karriere, als er Yoshiko heiratete, sondern um Rache an ihrem Vater Iwabuchi (Masayuki Mori), der im Zentrum der Korruption steht und zusammen mit seinen Schergen Nishis Vater in den Selbstmord gedrängt hatte. Nun nutzt Nishi seine Position als Schwiegersohn und Sekretär, um Beweise zu sammeln und den korrupten Chefs die Daumenschrauben anzulegen. Doch mit einem hat er dabei nicht gerechnet: Dass er sich in Yoshiko verliebt.
Die Bösen schlafen gut enthält einige der stärksten, emotionalsten und beeindruckendsten Szenen aus Kurosawas Werk. Zu erwähnen wäre da natürlich als erstes die gesamte, etwa halbstündige Hochzeitssequenz, die den Film eröffnet und in deren Verlauf sämtliche wichtigen Akteure sowie deren Hintergründe und Beziehungen zueinander dem Zuschauer vermittelt werden. Kurosawa lässt dabei die anwesenden Reporter wie in der griechischen Tragödie die Rolle eines kommentierenden Chors übernehmen – genial! Zehn Jahre später wählte Kurosawas Bewunderer Francis Ford Coppola ein ähnliches Vorgehen für den Auftakt von Der Pate.
Mein persönlicher Favorit ist jedoch die Szene, in der Nishi den von allen für tot gehaltenen Wada zwingt, seine eigene Beerdigung mitanzusehen und ihm dazu eine Tonbandaufzeichung vorspielt. Mit diesem cleveren Kniff der Überlagerung von Ton und Bild veranschaulicht Kurosawa auf unvergleichliche Art den Kontrast zwischen der in die Öffentlichkeit projezierten Täuschung, in der die korrupten Chefs den Tod Wadas betrauern und seiner Familie ihr Beileid aussprechen, und der harten Realität, in der sie bei Wein, Weib und Gesang darauf anstoßen, ihn erfolgreich in den Selbstmord getrieben zu haben. Erst durch diese Konfrontation mit dem doppelten Spiel, das seine Vorgesetzten treiben, lässt sich Wada überzeugen, seine tief verankerte Loyalität aufzugeben und mit Nishi zusammenzuarbeiten.
Wie schon bei zahlreichen seiner früheren Filme liegt Die Bösen schlafen gut eine tiefe Unzufriedenheit Kurosawas mit sozialen und politischen Zuständen in seiner Heimat zugrunde. Die enge Verflechtung von Privatwirtschaft und staatlichen Institutionen in Japan, mit der sich die Firmen Vorteile verschaffen, ist bis in die heutigen Tage immer wieder Anlass zu Diskussionen (siehe etwa die Rolle von Tepco während der Fukushima-Krise). In den 1950er Jahren gab es immer wieder Korruptionsskandale und die erste Stunde des Films wirkt fast wie eine semi-dokumentarische Aufarbeitung eines solchen Skandals.
Dabei weist der Film mehrfach darauf hin, dass das größte Problem gar nicht mal die korrupten Beamten und Politiker sind, sondern die Kultur der unbedingten Loyalität ihrer Untergebenen. Diese aus dem Kriegercode der Samurai abgeleitete Loyalität (ursprünglich zum Fürsten, dann zum Vorgesetzten) spielte in japanischen Unternehmen eine große Rolle und stürzte die Mitarbeiter in einen tiefen Konflikt, wenn sie von illegalen Machenschaften ihrer Vorgesetzten erfuhren oder aus Loyalität sogar daran mitwirkten – was in der genannten Szene exemplarisch an Wada vorgeführt wird. Der würde lieber Selbstmord begehen, als seine Chefs an die Justiz zu verraten – bis Nishi ihm mit Gewalt die Augen öffnet.
Interessant fand ich den für Kurosawa ungewöhnlich schwachen weiblichen Charakter der Yoshiko. Im Vergleich zu den selbst- und oft auch machtbewussten Frauen, die Kurosawa sonst porträtiert (man denke etwa an die Arbeiterinnen in Am allerschönsten, die Prinzessin Yuki in Die verborgene Festung, die skrupellose Lady Kaede in Ran oder die aufrechte Yukie in Kein Bedauern für meine Jugend) ist Yoshiko hier ein demütiges, fast willenloses Püppchen. Meine Vermutung: Sie steht metaphorisch für die ahnungslose, naive japanische Bevölkerung, die sich von den „bösen Männern“ nach Belieben manipulieren, ausnutzen und herumschubsen lässt.
Das große Problem dieses Films ist die Entwicklung von Nishis Charakter. Zunächst ist er der klassische Rächer, der den Tod seines Vater sühnen und die Verantwortlichen zur Strecke bringen will. Dass er dafür zur Not auch selbst das Gesetz bricht und andere Menschen – allen voran Yoshiko – für seine Zwecke missbraucht, stellt dabei den grundsätzlichen Konflikt aller „gut meinenden“ Rächer dar, die sich zur Erreichung ihrer Ziele derselben Methoden bedienen wie „die Bösen“. Nishi ist diesem Konflikt nicht gewachsen bzw. weicht von seinem Weg ab, er zeigt Yoshiko zuliebe Schwäche und läuft damit in sein Verderben. Leider gerät damit auch der Film nach ca. 90 Minuten aus der Bahn: Nishis Konflikt mit seinen Gefühlen für Yoshiko und seinem Gewissen drängt die Story des Korruptionsskandals in den Hintergrund.
Wie zehn Jahre zuvor in Skandal lässt sich Kurosawa hier wieder durch die Faszination eines Charakterkonflikts von der eigentlichen Story ablenken. So gerät der ganze Film aus der Balance, dem halbdokumentarischen Polit-Thriller der ersten anderthalb Stunden wird eine Mischung aus tragischer Liebesgeschichte und Kriminaldrama angehängt. Beide Teile funktionieren an und für sich gut und sind in sich stimmig, nur wollen sie nicht so recht zusammenpassen. Bei seinem nächsten Film Yojimbo sollte Kurosawa sich dann klar für einen kaltblütigen, den Konflikt ignorierenden Rächer entscheiden.
Trotz dieser Schwäche (oder vielleicht auch gerade ihretwegen?) gehört Die Bösen schlafen gut zu meinen persönlichen Favoriten in Kurosawas Werk. Der Film hat wie erwähnt viel zu bieten: einen von Konflikten zerrissenen Helden, großartig in Szene gesetzte Kritik an sozialen und politischen Zuständen, einen spannenden und anspruchsvollen Plot, einen intensiven und unverwechselbaren Soundtrack sowie ein unvergessliches Ende. Ein Film, den man gesehen haben sollte!
4 Jan
Original: Shizukanaru kettō (1949) von Akira Kurosawa
Während einer Operation in einem Kriegslazarett schneidet sich der Arzt Fujisaki (Toshiro Mifune) und steckt sich anschließend bei seinem Patienten mit der Syphilis an. Nach Kriegsende kehrt er in die Klinik seines Vaters und zu seiner Verlobten Misao (Miki Sanjo) zurück und unterzieht sich heimlich einer Therapie. Doch ihm ist klar, dass es Jahre dauern wird, bis er die Krankheit überwunden haben wird. Obwohl es ihm beinahe das Herz zerreißt beendet er daher die Verlobung ohne Angabe von Gründen, damit Misao mit einem anderen Mann glücklich werden kann.
Seine Krankheit bleibt aber nicht allen verborgen: Eine der Krankenschwestern (Noriko Sengoku) überrascht ihn, als er sich eine Injektion setzt. Sie vermutet, dass er sich die Syphilis in einem Bordell zugezogen hat und verachtet ihn deshalb zunächst. Doch als sie die Wahrheit erfährt und versteht welche Überwindung es ihn kostet, Misao zu ihrem eigenen besten ziehen zu lassen, betrachtet sie Fujisaki mehr und mehr als einen Heiligen. Entsprechend groß ist ihre Empörung, als der Mann in der Klinik auftaucht, bei dem Fujisaki sich angesteckt hatte – und der ohne seine Krankheit behandeln zu lassen seine Frau geschwängert hat.
In vieler Hinsicht ist The Quiet Duel ein Musterbeispiel aus dem frühen Werk Kurosawas. Wie schon im Jahr zuvor in Der trunkene Engel dient ihm eine Krankheit als Metapher für den Zustand der Gesellschaft – dass es nun die Syphilis statt der Tuberkulose ist, lässt vermuten, dass die sozialkritische Haltung des Regisseurs eher noch zugenommen hat. Auch das Schüler-Meister-Verhältnis ist in stark zurückgenommener Form in der Verehrung der Krankenschwester für den Arzt vorhanden.
Und seinen Helden lässt er wieder gegen die Auswüchse verantwortungslosen, schändlichen Handelns ankämpfen, verkörpert durch den Syphilis-Patienten, der die Gefahren der Krankheit herunterspielt, ihre Konsequenzen nicht akzeptieren will und ohne Rücksicht auf die Gesundheit seiner Frau mit ihr schläft. Zugleich muss Fujisaki aber auch einen Kampf mit sich selbst austragen, um nicht genau so zu handeln. Dieses Ringen zwischen seiner verantwortungsvollen, fürsorgenden und selbstlosen Seite und den Instinkten und Begierden in ihm ist das eigentliche, titelgebende stille Duell.
Ein großes Problem des Films ist jedoch, dass dieses Duell mit Ausnahme von zwei kurzen Momenten (Fujisakis Beichte an die Krankenschwester und sein Abschied von Misao) nicht wirklich fesselt und speziell in den Szenen mit Misao häufig ins melodramatische abdriftet. Zudem will die Überhöhung des Arztes in heiligengleiche Gefilde einfach nicht so recht gelingen und wirkt gerade in den finalen Szenen schon fast unfreiwillig komisch. Fünfzehn Jahre später gelang Kurosawa dann mit dem eigenwilligen Arzt Niide in Rotbart eine perfekte Mischung aus übermenschlicher, aber zugleich augenzwinkernder Arztfigur.
Interessant ist, dass Kurosawas Wahl für die Rolle des Arztes auf Toshiro Mifune fiel, der in seiner bis dahin kurzen Karriere praktisch nur Gangster gespielt hatte. Doch Kurosawa glaubte an sein Talent und wollte ihm die Chance geben, sich mit dieser völlig anderen Rolle weiterzuentwickeln und setzte sich gegen die Bedenken des Studios durch. Mifune spielt zwar exzellent, dennoch fällt es mir jedesmal wieder schwer, ihm diesen rationalen, beherrschten und fast intellektuellen Arzt abzunehmen – die überbordende Emotionalität seiner meisten anderen Rollen wiegt einfach sehr schwer.
Kurosawa selbst schreibt in seiner Autobiographie mit großer Begeisterung von den Dreharbeiten an The Quiet Duel, gesteht aber ein, dass er mit dem Ergebnis nicht wirklich zufrieden war und es ihm nicht gelang, seine Botschaft wie gewünscht zu vermitteln. So ist der Film zwar keiner der großen Kurosawas und hat mit einigen Unzulänglichkeiten zu kämpfen. Dennoch bietet er auch einige interessante Highlights, allen voran die eröffnenden Szenen im Kriegslazarett mit ihrer enorm dichten Atmosphäre sowie einen jungen Toshiro Mifune in einer ziemlich ungewohnten Rolle.
19 Dez
Original: Madadayo (1993) von Akira Kurosawa
Madadayo war die letzte Regiearbeit Kurosawas, in welcher der 1998 verstorbene Großmeister des japanischen Kinos die Schlachtfelder früherer Filme wie Ran, Kagemusha oder Die Sieben Samurai hinter sich lässt. Statt dessen widmet er sich der Geschichte des Deutschprofessors Uchida und seiner ihn verehrenden Schüler. Eine Handlung im eigentlichen Sinne fehlt dem Film, vielmehr setzt er sich aus Episoden und Anekdoten zusammen, die den Professor und seine Schüler vom Anfang der 1940er bis in die 1960er Jahre hinein verbinden.
Zu Beginn des Films zieht Uchida (Tatsuo Matsumara) sich überraschend aus der Lehrtätigkeit zurück, um sich ganz seinem literarischen Schaffen widmen zu können. Wir sehen die ersten ausgelassenen Besuche bei ihm, Saufgelage und das Schwelgen in alten Geschichten. Dann wird das Haus Uchidas von Bomben zerstört, er und seine Frau erleben das Ende des Krieges und die amerikanische Besatzung in einer kleinen Hütte.
Doch den Frohsinn und die Lebensfreude kann das nicht beeinträchtigen, und kaum ist der Krieg vorüber, helfen die Schüler ihnen beim Wiederaufbau. Außerdem wird jedes Jahr der Geburtstag des Professors gebührend gefeiert, mit einem zentralen Ritual bei dem ihn die Schüler fragen „Mahda-kai?“ („Fertig?“) und er antwortet: „Mahda-dayo!“ („Noch nicht!“).
Mit Madadayo schuf Kurosawa ein einfühlsames Porträt eines lebensfrohen, aufgeweckten und liebenswerten Menschen, der sich seine positive Haltung zum Leben und zu anderen Menschen auch angesichts von Verlusten im Krieg und zunehmender Beschwernisse des Alterns bewahrt. Durch sein kindlich-sympathisches Wesen, seine Aufgeschlossenheit und seine unterhaltsamen Weisheiten bereichert er auch das Leben der Menschen um ihn herum, insbesondere seiner Ehefrau und seiner Schüler. Und die zahlen es ihm mit viel Liebe, Zuwendung und Unterstützung zurück.
Die Dialoge sind dabei oft durch eine gewisse oberflächliche Komik geprägt und bewegen sich teilweise am Rande der Belanglosigkeit. Die eigentlich entscheidenden Hinweise auf die Beziehungen der Charaktere zueinander und die unendliche Wertschätzung, die dem Professor vor allem von seinen Schülern aber auch von vielen anderen Menschen entgegengebracht wird, werden oft ohne Worte und statt dessen durch Gesten und Handeln zum Ausdruck gebracht – wie es der japanischen Sitte entspricht.
Kurosawa wurde seinem Ruf des Perfektionisten einmal mehr gerecht und legte bei den Dreharbeiten größten Wert auf Details, um die für die Aussage des Films und die Darstellung der Charaktere so wichtigen Stimmungen einfangen zu können. Für die Dreharbeiten an der wunderbare Szene, in der Uchida und seine Frau in ihrer kleinen Hütte den Gang der Jahreszeiten verfolgen, wurde beispielsweise keineswegs Kunstschnee verwendet. Vielmehr entstanden die Aufnahmen tatsächlich im Abstand von mehreren Monaten unter realen Witterungsbedingungen – ein enormer Aufwand angesichts der paar Sekunden im fertigen Film.
Der Titel „Madadayo“ stammt von den Rufen japanischer Kinder beim Versteckspiel: Die Suchenden rufen „Mahda-kai“ und das sich versteckende Kind „Mahda-dayo“, bis es ein gutes Versteck gefunden hat. Dies wird auch in der letzten Szene zum Höhepunkt des Films, als der alte Uchida erschöpft von einer weiteren Feier mit seinen Schülern im Schlaf von den Spielen der Kindheit träumt – ein Ende von geradezu betörender Schönheit!
Madadayo wird damit zum Ausdruck des unbedingten Lebenswillens, des Sich-versteckens vor dem – letztlich unausweichlichen – Tod. Doch mehr als das zeigt der Film vor allem, wie einfach ein schönes Leben sein kann: Gemütliche Gespräche und ausgelassene Saufgelage mit Freunden, besinnliches Betrachten des Mondes, Freude an Tier und Natur, eine harmonische und liebevolle Ehe – da wird selbst ein Weltkrieg zur Nebensache, und die größte Katastrophe ist das Verschwinden der geliebten Hauskatze.
Verglichen mit den mitreißenden, atemlosen und teils verstörenden tour-de-force Filmen, die wir aus Kurosawas Werk sonst kennen, ist Madadayo ein ganz schöner Langweiler. Die meiste Zeit sitzen ein paar Leute einfach nur herum und hören einem alten Mann zu. Andererseits ist es aber wahrscheinlich der „japanischste“ Film, den er je gedreht hat – ein würdiges Alterswerk eines Regisseurs, dem von seinen Landsleuten oft vorgeworfen worden war, ein „westlicher“ Regisseur zu sein.
Dies ist die überarbeitete und erweiterte Fassung eines Artikels, der ursprünglich am 26. September 2006 veröffentlicht wurde.
8 Nov
Original: Ichiban utsukushiku (1944) von Akira Kurosawa
Eine Gruppe junger Mädchen stellt in einer Fabrik Präzisionslinsen für Kampfflugzeuge her, es ist ihr Beitrag zur Kriegsanstrengung Japans. Im Kampf gegen die materielle Übermacht der Gegner wird das Produktionsziel für die Arbeiter von der Fabrikleitung verdoppelt, das der Arbeiterinnen aber nur um 50% erhöht. Empört darüber, dass ihnen nur so wenig zugetraut wird, setzen die Mädchen mittels ihrer Anführerin Watanabe (Yoko Yaguchi) eine stärkere Erhöhung durch. Doch um dieses Ziel auch zu erreichen, müssen Krankheiten, Unfälle und nicht zuletzt auch Streitigkeiten und Neid innerhalb der Gruppe überwunden werden. Dabei wird Watanabe von der Herbergsmutter Mizushima (Takako Irie) unterstützt, die sich rührend um die Mädchen kümmert.
Nach dem großen Erfolg von Sanshiro Sugata erhielt Kurosawa den Auftrag für einen Propagandafilm, der den Geist der Nation feiern und bestärken sollte. Wie viele Regisseure wählte er dafür einen dokumentarischen Ansatz und war darum bemüht, den Alltag der Mädchen in der Fabrik so realitätsgetreu (und dennoch mit dem Propagandaziel vereinbar) darzustellen, wie möglich. Dazu ließ er alle Schauspielerinnen tatsächlich in einem Wohnheim auf dem Fabrikgelände unterbringen, Marschieren und Musizieren. Die Dreharbeiten müssen allen Berichten der Beteiligten zufolge hochgradig anstrengend gewesen sein.
Was hinter dem Film steht, wird noch vor Filmbeginn klar, da prangt nämlich ein Schriftzug „Greift den Feind an und zerstört ihn“ – martialische Töne, die Am allerschönsten interessanterweise fast völlig ignoriert. Denn Kurosawa erzählt die Geschichte einer kleinen Gruppe Menschen, die sich ganz und gar in den Dienst einer Sache stellen. Ihr Gegner ist eine unerbittliche Produktivitätskurve in einem Diagramm, die zugleich als Stimmungsindikator dient. Sind Konflikte auszustehen oder Unglücksfälle zu überwinden, geht es mit der Kurve abwärts, feiert die Gruppe die Rückkehr eines Mitglieds oder hat sie Spaß beim Volleyball, geht es aufwärts.
Dass die Mädchen am Ende erfolgreich ihr Ziel erreichen, haben sie zum großen Teil ihrer Anführerin Watanabe zu verdanken. Die geht (wunderbar gespielt von Kurosawas späterer Ehefrau Yoko Yaguchi) mal vermittelnd, mal anspornend, mal mit strenger Hand voran und muss dabei selbst einen inneren Konflikt austragen: Soll sie ihre im Sterben liegende Mutter besuchen, oder ihrer Pflicht gegenüber der Sache nachkommen?
Nach dem Krieg sah Kurosawa seine eigene Rolle als Instrument der Propaganda für das Regime und einen wahnwitzigen Krieg sehr kritisch und schämte sich, dass ihm der Mut zu Widerstand gefehlt und er sich sogar bei den Zensoren eingeschmeichelt hatte. Den Film selbst bezeichnete er in seiner Autobiographie zwar nicht als bedeutend, aber als einen seiner Liebsten, nicht zuletzt wegen der Erinnerungen an die außerordentlich enge Zusammenarbeit.
Bei aller Kritik angesichts des propagandistischen Subtextes ist Am allerschönsten ein Film, der auf spannende Weise zeigt, wie eine Gruppe von Menschen mit sich und schwierigen Umständen ringt und im Dienst einer Sache über sich selbst hinauswächst. Und das ist nunmal klassischer Kurosawa.