11 Jan
Original: Karumen kokyo ni kaeru (1951) von Keisuke Kinoshita
Wie ich erst vor wenigen Tagen mitbekommen habe, ist zum Ende des vergangenen Jahres, am 28. Dezember 2010, Hideko Takamine im Alter von 86 Jahren verstorben. Was eignet sich besser für einen kleinen Tribut an diese außerordentliche Schauspielerin, als eine ihrer unvergesslichsten Rollen zu würdigen?
Kurz nach dem Krieg kehrt die Tänzerin Lily Carmen (Hideko Takamine) aus Tokyo in ihr Heimatdorf zurück. Dort ist sie eine Berühmtheit, nur ihr Vater Shōichi (Takeshi Sakamoto) schämt sich zutiefst für sie. Nach ihrer Ankunft – sie hat noch ihre an Liebeskummer leidende Freundin Akemi (Toshiko Kobayashi) im Schlepptau – wird recht schnell klar, warum: Auch wenn Carmen und Akemi hochtrabend von ihrer „Kunst“ reden, letztlich sind die beiden Stripperinnen.
Doch zunächst sorgen sie vor allem mit ihren extravaganten, farbenfrohen Auftritten für Aufsehen und Bewunderung. Als sie sich allerdings bei einem Sportfest blamieren (ein schlecht sitzender Rock spielt dabei eine zentrale Rolle), sehen sich Carmen und Akemi plötzlich als Lachnummer missverstanden. Um die Dorfbewohner von der Ernsthaftigkeit ihrer „Kunst“ zu überzeugen, wollen sie eine Vorführung ihres Könnens geben.
In diese Haupthandlung eingewoben sind verschiedene kleine, mal ernste, mal komische Nebenhandlungen, die teilweise fast sketchartigen Charakter annehmen. Dabei geht es immer wieder um die Frage, was Kunst ausmacht. Denn das Dorf hat mit einem im Krieg erblindeten Lehrer neben Carmen noch einen weiteren „Künstler“ hervorgebracht. Dieser komponiert Heimatlieder auf seiner Orgel und repräsentiert für viele den wahren, vergeistigten Künstler, im Gegensatz zu den schrillen und ihren Körper als Einsatz nutzenden beiden Frauen.
Carmen kehrt heim markierte das 30jährige Jubiläum des Produktionsstudios Shochiku und war zugleich der erste Farbfilm des Landes. Er war also gleich in doppelter Hinsicht ein Prestigeprojekt, und das sieht man dem Film an. Zusammen mit den verschiedenen Tanz- und Gesangseinlagen sowohl von Carmen und Akemi wie auch dem Lehrer und dem Schulrektor, wirkt der Film nämlich selbst ein bisschen wie eine Revueshow.
Eine Revueshow, bei der allerdings nicht aufwändige Sets und Dekorationen den Rahmen abgeben und die Zuschauer beeindrucken sollen, sondern die Schönheit der japanischen Berge. Grüne Wiesen unter einem blauen Himmel, ein schwarzer Vulkan im Hintergrund und dann als Farbtupfer die beiden Exotinnen aus Tokyo, so sehen viele Szenen in Carmen aus. Fast der gesamte Film spielt unter freiem Himmel und wurde auch zum großen Teil vor Ort gedreht statt im Studio. Das Ergebnis kann sich absolut sehen lassen: Auch wenn man bei einem 60 Jahre alten Film natürlich Abstriche machen muss, er sieht auch heute noch toll aus! Die Farben scheinen kaum etwas von ihrer Brillanz verloren zu haben und abgesehen von ein paar Kratzern im Filmmaterial wird das Sehvergnügen kaum getrübt.
Großes Vergnügen hatten offenbar auch die Darsteller, allen voran Hideko Takamine. Sie spielt nicht nur großartig das naive Dummchen vom Lande, das sich jetzt wunder was auf seine „Künstlerlaufbahn“ in Tokyo einbildet und auf die Dörfler herabschaut, ohne zu merken, dass diese sie hinter ihrem Rücken auslachen. Sie trällert und singt auch mit solch inbrünstiger Begeisterung ihre Schlagernummern und hüpft und tanzt mit so großer Freude über die Felder, das muss einfach anstecken!
Zu den guten Aspekten des Films gehört auch, dass beide Seiten gleichermaßen ihr Fett weg bekommen: Die Lacher gehen ebenso auf Carmen und Akemis Kosten wie auf einige dumme Streiche der Dörfler. Als Zuschauer können wir über die schier unglaubliche Naivität der beiden Tänzerinnen genauso den Kopf schütteln wie über die rückständigen Bauerntölpel, die letztlich die beiden einfach nur endlich nackt tanzen sehen wollen.
Carmen kehrt heim ist ein gut gemachter Unterhaltungsfilm, der so ziemlich jedem etwas bietet: Musicalnummern, viel nackte Beine (für 1951!), einige lustige Gags, sympathische Charaktere, ein bisschen menschliches Drama und viele schöne Landschaften. Eine Mischung aus Moulin Rouge und Heimatfilm. Doch der einzige echte Konflikt ist der des Vaters: Er liebt seine dumme Tochter, schämt sich aber gleichzeitig für das, was sie tut. So gibt es zu wenig, das den Film und seine doch recht schwachbrüstige Handlung vorantreiben und uns Zuschauer wirklich fesseln könnte. Dennoch, ein wunderbarer Gute-Laune-Film für dröge Sonntagnachmittage!
5 Dez
Original: Yoru no onnatachi (1948) von Kenji Mizoguchi
Nach Kriegsende stürzt Fusakos (Kinuyo Tanaka) Welt nach dem Tod ihres Mannes und ihres schwer kranken Kindes in sich zusammen. Einige Zeit später – sie ist inzwischen Sekretärin und heimliche Geliebte des Chefs in der alten Firma ihres Mannes – taucht ihre schon totgeglaubte Schwester Natsuko (Sanae Takasugi) auf. Sie zieht mit Fusako zusammen und beginnt ebenfalls eine Affäre mit Fusakos Chef, ohne dass die beiden etwas von der Dreierbeziehung ahnen. Als die Sacher herauskommt, ist Fusako aufs Neue am Boden zerstört und flieht in einer Kurzschlussreaktion in die Prostitution.
Dieses Schicksal teilt auch ihre Nichte Kumiko (Tomie Tsunoda). Das junge Mädchen reißt mit etwas gestohlenem Geld von Zuhause aus, gerät aber prompt an einen Gauner, der ihr das Geld abnimmt und sie auf den Strich schickt. Es dauert nicht lange, bis auch Natsuko dieses Schicksal droht: Sie wird schwanger, doch das Kind stirbt bei der verfrühten Geburt. Fusako, die sich trotzig mit ihrem Leben als Hure abgefunden und sogar so etwas wie Stolz darauf entwickelt hat, dass sie es den Männern jetzt heimzahlt, indem sie sie mit Syphilis infiziert, versucht dennoch verzweifelt, die beiden anderen Frauen vor diesem Schicksal zu bewahren.
Mizoguchi schneidet hier zwei Themen an, mit denen er sich in den folgenden Jahren noch sehr viel eingehender befassen würde: Der soziale und ökonomische Niedergang von Frauen sowie das harte Leben von Prostitutierten. Vielleicht weil ich diese späteren, sehr viel reiferen Filme kenne, wirkt Frauen der Nacht auf mich irgendwie unfertig, bruchstückhaft, nicht in sich geschlossen. Der Film leidet unter den verschiedenen, an die drei Frauen geknüpften Handlungssträngen, die sich immer wieder überschneiden. Zudem ist der Verlauf der Handlung vor allem in der ersten Hälfte sehr vorhersehbar und schablonenhaft – ebenso wie einige der Charaktere.
Gerade die Männer werden entweder als kleine Teufel gezeigt, durchtrieben, rücksichtslos und nur auf ihren eigenen Vorteil bedacht oder als großherzige und verständnisvolle Halbgötter: Ihr Schwager verweigert ihr und ihrem kranken Kind die Unterstützung, weil er ja so hart arbeite und es deshalb verdient habe, sich zu besaufen. Der Chef schläft ohne mit der Wimper zu zucken mit beiden Schwestern und spielt sich auch noch als fürsorglicher Beschützer auf. Und die naive Kumiko läuft bei ihrem Ausrißversuch prompt einem Gauner in die Arme, der ihr zuerst das Geld stiehlt, sie dann betrunken macht und vergewaltigt, bevor er sie halbnackt auf dem Strich aussetzt.
Lediglich Fusako und ihre Schwester erhalten wirkliche Tiefe, und so lebt der Film überwiegend von diesen beiden Charakteren, die allerdings auch vorzüglich gespielt sind. Vor allem Kinuyo Tanaka liefert mal wieder eine grandiose Leistung ab und zeichnet ein sehr greifbares Bild der unschuldigen Hausfrau, die zur knallharten Prostituierten wird und sich mit Ärzten ebenso wie ihren Leidensgenossinnen anlegt.
Abgesehen von den weiblichen Hauptdarstellerinnen hat Frauen der Nacht wieder einige Szenen zu bieten, die dem Zuschauer den Atem stocken lassen, so perfekt sind sie durchgeplant und komponiert. Beispielhaft wäre die unten gezeigte Szene vom Anfang des Films zu nennen, aus der ich einige Bilder zur Verdeutlichung zusammengeschnitten habe. Fusako kümmert sich darin zuerst um ihr krankes Kind, unterhält sich mit ihrem saufenden Schwager, dann mit ihrer Schwägerin und zum Schluss stößt auch noch Kumiko dazu – drei Minuten vergehen so, ohne dass es einen einzigen Schnitt gäbe. Wie Mizoguchi allein mit leichten Veränderungen des Kameraausschnitts bzw. der -perspektive und dem Arrangement der Personen fließende Übergänge und Stimmungswechsel erzeugt und völlig vergessen lässt, dass wir immer noch in derselben Einstellung sind, ist hochgradig beeindruckend!
Alles in allem muss ich aber leider konstatieren, dass Frauen der Nacht mich enttäuscht hat, was vor allem an den Schwächen des Drehbuchs und den Mängeln der Charakterentwicklung lag. Er vermag erst in der zweiten Hälfte zu fesseln und ist einer der schwächeren Filme Mizoguchis. Überhaupt kein Vergleich sowohl zu den aufrüttelnden, innovativen Filmen der 30er Jahre als auch zu den grandiosen Jidaigeki-Dramen, die noch folgen sollten. Er hat aber einige schöne Beispiele für die typischen Stilelemente in Mizoguchis Werk zu bieten und eine absolut sehenswerte Leistung von Kinuyo Tanaka.
26 Sep
Originaltitel: Musashino fujin (1951) von Kenji Mizoguchi
Michiko (Kinuyo Tanaka) und ihr Mann Akiyama (Masayuki Mori) fliehen aus dem zerstörten Tokyo zu Michikos Eltern, die ein Anwesen im ländlichen Vorort Musashino besitzen. Schon kurz nach ihrer Ankunft stirbt Michikos Mutter, und bald darauf auch ihr Vater, dem sie vor seinem Tod noch das Versprechen gibt, die Ehre der altehrwürdigen Familie hochzuhalten. Doch ihre Ehe mit Akiyama ist zerrüttet, ebenso wie die ihres Vetters und Nachbarn Eiji mit der intriganten Tomiko.
Als nach Kriegsende Michikos jüngerer Cousin Tsutomu (Akihiko Katayama) aus der Kriegsgefangenschaft nach Musashino zurückkehrt und bald nicht nur für die schöne Landschaft Musashinos sondern auch für Michiko schwärmt, entsteht für sie ein moralisches Dilemma: Sie erwidert zwar seine Gefühle und verurteilt das Verhalten ihres Mannes, der mehr oder weniger offen auf der Suche nach Affären ist. Dennoch schwört sie sich, ihre moralischen Verpflichtungen zu respektieren und ihrem Ehemann loyal und treu zu bleiben.
Als Eiji Michiko darum bittet, ihm mittels einer Hypothek auf den Familienbesitz aus einer finanziellen Krise zu helfen, spitzt sich die Situation allerdings schlagartig zu: Akiyama droht mit Scheidung, entwendet Besitzurkunden und macht sich mit Tomiko nach Tokyo auf. Völlig verzweifelt fasst Michiko den Entschluss, sich das Leben zu nehmen. Erst an ihrem Sterbebett bereut Akiyama sein Verhalten, und Tsutomu sieht ein, dass er einem utopischen Idealbild einer untergegangenen Epoche nachträumte.
Mit seinem Stamm-Drehbuchautoren Yoshikata Yoda verfilmte Kenji Mizoguchi aufbauend auf einem Roman von Shohei Ôka die tragische Geschichte einer Frau, die in mehreren Konflikten gefangen ist, aus denen es in ihrem moralischen Weltbild keinen Ausweg gibt. Gleichzeitig wird die Auflösung dieser Moralvorstellungen und die Modernisierung der japanischen Gesellschaft nach dem Krieg thematisiert.
Mizoguchi stellt besonders bei der Inszenierung des Idylls Musashino sein ganzes Können unter Beweis: Wunderschön komponierte Bilder und lange Kamerafahrten durch Wälder, entlang von Bächen und Feldwegen bringen die Ruhe, Unschuld und Harmonie zum Ausdruck, für die Michiko und ihre Weltanschauung stehen. Das ländliche Musashino wird dabei zum Symbol für hehre, traditionelle Normen und das moderne Tokyo für die Unterordnung dieser Moral unter die hemmungslose Selbstverwirklichung des Individuums.
Zwar wird Michiko teilweise schon fast wie eine Heilige dargestellt. Andererseits erweist sich das Idyll Musashino am Ende des Films aber als Trugbild und die letzte Kameraeinstellung, ein Schwenk über das prosperierende, moderne Tokyo, entlässt den Zuschauer mit einer durchweg positiven Stimmung (siehe Screenshot oben). Das zeigt, dass Mizoguchi die Modernisierung nicht grundsätzlich ablehnt. Ihm geht es darum, die sich aus den im Umbruch befindenden Moralvorstellungen ergebenden Konflikte als solche zu thematisieren sowie die Konsequenzen für die Menschen, die sich in dieser Umbruchsituation zurechtfinden müssen.
Vor allem das Dreieck aus Michiko, Tsutomu und Akiyama symbolisiert das Ringen mit dieser Umbruchsituation. Der Literaturprofessor Akiyama gefällt sich in der Rolle des intellektuellen Provokateurs und produziert sich vor seinen jungen Student(innen) mit Theorien zur befreienden Wirkung des Ehebruchs. Tsutomu greift diesen Gedanken nur zu gerne auf, beisst dabei aber bei Michiko auf Granit. Seine Bemerkung, Liebe sei Freiheit und Freiheit gebe Kraft, kontert sie mit den Worten „Kraft erwächst immer aus Moral“. So ist Tsutomu hin- und hergerissen zwischen diesen beiden Symbolfiguren und sucht mal das schnelle Vergnügen und den schnellen Sex in Tokyo und mal die reine, wahre Liebe in Musashino.
Diese Konflikte sind aber stellenweise doch sehr an den sozialen und historischen Kontext gebunden. So ist es aus heutiger Sicht trotz Kinuyo Tanakas Präsenz nicht einfach, sich mit Michiko zu identifizieren, die zwischen der auf traditionellen Vorstellungen von Ehre und Moral basierenden Loyalität zu ihrem Mann auf der einen und ihren Gefühlen auf der anderen Seite hin- und hergerissenen ist. Zudem wirkt die etwas hölzerne Darstellung des Tsutomu durch Akihiko Katayama phasenweise wenig glaubwürdig und authentisch. Großartig ist dagegen Masayuki Mori als große Reden schwingender Möchtegern-Ehebrecher, der sich letztlich doch immer an irgendeinem Rockzipfel festhalten will.
Interessanterweise gibt Die Dame von Musashino in vieler Hinsicht so etwas wie ein zeitgenössisches Spiegelbild zum drei Jahre später entstandenen Eine Erzählung nach Chikamatsu ab, unter umgekehrten Vorzeichen: Beide befassen sich mit einer Frau, die zwischen der Loyalität zu Mann und Familie und ihren wahren Gefühlen entscheiden muss. Während der eine allerdings in der Gegenwart spielt und eine Frau zeigt, die sich an ihrem inneren Konflikt zerreibt, spielt der andere in der feudalen Vergangenheit und hat eine Heldin, die in diesem Konflikt klar Position bezieht und sich gegen traditionelle Erwartungen zur Wehr setzt.
Die Dame von Musashino kann nicht mit solch herausragenden Meisterwerken Mizoguchis wie Ugetsu oder Das Leben der Frau Oharu mithalten. Neben zahlreichen seiner anderen Filmen, in denen starke Frauen versuchen, sich gegen sozialen Druck zu behaupten, wirkt er zudem vergleichsweise konservativ. Dennoch ist er ein berührender Film über eine aufrechte, tragische Heldin, die in der damaligen Zeit das Dilemma vieler japanischer Ehefrauen versinnbildlicht haben dürfte.
[Dies ist die erweiterte und überarbeitete Fassung eines ursprünglich am 9. Oktober 2006 veröffentlichten Artikels.]
19 Sep
Original: Kanzashi (1941) von Hiroshi Shimizu
Der Soldat Nanmura (Chishu Ryu) verbringt seinen Sommerurlaub in einem Gasthaus in den Bergen. Eines Tages tritt er beim Baden in eine Haarnadel und verletzt sich, so dass er seinen Aufenthalt verlängern muss. Als die bereits abgereiste Besitzerin der Haarnadel, die Geisha Emi (Kinuyo Tanaka), von dem Unglück erfährt, kehrt sie umgehend zurück. Dabei ahnt sie genauso wenig wie Nanmura, dass dessen Zimmernachbarn bereits einen Plan aushecken, um die beiden zu verkuppeln.
Während Emi Nanmura bei seinen Laufübungen hilft, freunden sich die beiden schnell an und so entsteht um die beiden und einige weitere Gäste, besonders zwei kleine Jungs, eine Art Familiengefühl. Das und die idyllische Landschaft lassen Emi fast ihr tristes, in Abhängigkeit von einem Patron geführtes Leben in Tokyo vergessen und den Wunsch in ihr reifen, dieses Leben hinter sich zu lassen. Doch Nanmuras Heilung kommt gut voran und der Sommer nähert sich unweigerlich seinem Ende…
Über weite Strecken ist Ornamental Hairpin eine ziemlich seichte, wenn auch sympathische Komödie mit einigen recht stereotypen Figuren. So etwa der grantige Professor, der anfangs ständig am nörgeln ist und jeden mit seinen eloquent vorgetragenen Meinungen einschüchtert, aber eigentlich ein gutes Herz hat. Oder das Paar, bei dem der Mann sich kaum traut, etwas zu sagen, ohne seine Frau zu fragen. Die Gäste beharken sich gegenseitig, nur um sich gleich wieder zu vertragen. Dazwischen eingestreut sind ein paar running gags, wie die ständig ausgebuchten Masseure.
Die spannendste und zentrale Figur ist ganz ohne Zweifel Emi. Das verdeutlicht schon die Eingangsszene, in der sie uns auf dem Weg zum Gasthaus vorgestellt wird. Die Szene besteht fast ausschließlich aus einer Art walk and talk-Sequenz, in der sie und eine Freundin sich frontal auf die zurückweichende Kamera zu bewegen (siehe Screenshot oben). Danach tritt Emi für einige Zeit in den Hintergrund, aber nach ihrer Rückkehr dreht sich der Film in seiner zweiten Hälfte mehr und mehr um ihre verzwickte Situation, die dem Film am Ende ihren Stempel aufprägt.
Als zentrales Motiv nutzt Shimizu dabei genialerweise die Laufübungen des verletzten Nanmura, die dieser angetrieben von zwei kleinen Jungs als Wettbewerbe aufzieht. Schnell lässt sich auch Emi von der Begeisterung der Jungs anstecken, so dass die Übungen zunächst ein wesentliches Vehikel für die zart angedeutete romantischen Gefühle zwischen den beiden abgeben. Als Nanmura bei einer dieser Übungen von einem Steg fällt, trägt Emi ihn sogar zurück ans Ufer, eine recht intime Geste in der damaligen japanischen Gesellschaft. Überhaupt bleiben Emotionen zwischen den beiden immer unausgesprochen und beschränken sich auf Gesten und Blicke.
Die heitere Stimmung kippt plötzlich bei Nanmuras letzter Übung, einer Treppe, deren erfolgreiches Erklimmen bedeutet, dass er gesund genug ist, um nach Tokyo zurückzukehren. Schlagartig wird Emi bewusst, dass die schönen Wochen vorüber sind, das Urlaubs- und Familienidyll nichts als eine kurze, romantische Illusion war und sie jetzt wieder von ihrem alten Leben und den überfälligen, schweren Entscheidungen eingeholt wird. In den letzten Szenen des Films sehen wir Emi, nach der Abreise der anderen Gäste allein zurückgeblieben, durch den nun herbstlichen Wald die Treppe hinaufgehen.
Diese tragische Wendung in den letzten Minuten des Films wandelt dessen gesamten Charakter. Sie nimmt zugleich Bezug auf eine Episode vom Anfang des Films, als der Professor Nanmura „romantische Illusionen“ über die – zu diesem Zeitpunkt noch unbekannte – Besitzerin der Haarnadel unterstellt und sich sorgt, was das Platzen dieser Illusion für den verletzten Soldaten bedeuten könnte. Am Ende ist es dann jedoch Emi, die jäh aus ihrer Illusion gerissen wird und nun niemanden mehr hat, der ihr beisteht. Dieses Finale wirkt umso stärker, weil es in solch krassem Gegensatz zu den belanglosen Scherzen und familiären Kabbeleien steht, die den Film die meiste Zeit über prägten.
Damit lässt sich der Film auch als Kommentar auf die damalige Situation der Filmemacher in Japan interpretieren, die sich einer zunehmend strengen Zensur unterwerfen mussten. Filme wurden genau geprüft und durften nur realisiert und gezeigt werden, wenn sie eine positive Stimmung förderten und zum Bild des Zusammenhalts und der Kraft des japanischen Volkes beitrugen. Das führte natürlich dazu, dass viele flache, beschönigende und eskapistische Komödien in die Kinos kamen, wie Ornamental Hairpin es über weite Strecken auch eine ist. Nur, dass Shimizu in den letzten Minuten des Films diese Illusion auf geniale Weise platzen lässt.
Mich hat dieser Film sehr beeindruckt. Kinuyo Tanaka ist großartig und harmoniert exzellent mit dem im Vergleich dazu etwas eindimensional angelegten Chishu Ryu. Ich halte Ornamental Hairpin, der einer der letzten Filme Shimizus vor Kriegsende war, angesichts der Vorgaben der Zensoren und wie er mit diesen spielt, für einen kleinen Geniestreich.
18 Mai
Sugata Sanshiro (1943) von Akira Kurosawa
Kurosawas Erstlingswerk schildert die Geschichte des jungen Sanshiro (Susumu Fujita), den es in die Stadt zieht, um Jiujitsu zu erlernen. Doch als er Zeuge wird, wie der Judo-Meister Yano (Denjiro Okochi) eine ganze Truppe Jiujitsu-Kämpfer besiegt, bittet er diesen, in seine Schule eintreten zu dürfen. Dort wird Sanshiro von Yano jedoch nicht nur die Kunst des Kampfes gelehrt. Der weise Meister fordert von Sanshiro, der sich als überaus begabt erweist, zugleich Demut und Respekt anderen gegenüber und die Bereitschaft, lebenslang an sich selbst zu arbeiten.
Dem jungen Sanshiro fällt diese Entwicklung nicht leicht, immer wieder muss er mit sich und seinem ungestümen Wesen ringen. Als er sich in die Tochter seines Meisters verliebt, zieht er sich zudem den Zorn des Jiujitsu-Meisters Gennosuke (Ryunosuke Tsukigata) zu, der ebenfalls ein Auge auf sie geworfen hat. Schließlich fordert er Sanshiro zum Kampf.
Sanshiro ist gewissermaßen der Urtyp des Helden, den Kurosawa in zahlreichen seiner folgenden Filme immer wieder auf die Leinwand schickt: Von Yukie in Kein Bedauern für meine Jugend bis zum jungen Arzt Yasumoto in Rotbart lässt er seine Helden immer wieder eine Entwicklung durchmachen, die sie auf den Weg der Selbsterkenntnis führen und sie verstehen lassen, dass ein erfülltes Leben nur über Hingabe und Aufopferung für ein höheres Gut zu erreichen ist.
Auch in anderer Hinsicht ist Sanshiro Sugata stilbildend für Kurosawas Werk. Zahlreiche für ihn typische Elemente finden sich bereits in seinem Erstling, darunter die auffallenden Schnitte per Wipe oder die Nutzung von Wetterphänomenen um die atmosphärische Wirkung einer Szene oder einer Entwicklung des Charakters oder der Handlung zu unterstreichen.
Das herausragende Beispiel dafür ist die finale Begegnung Sanshiros und Gennosukes, ein Kampf, der an einem windumtosten Berghang ausgetragen wird. Die von Windböen gepeitschten Gräser, die am Himmel vorüber ziehenden Wolkenfetzen sorgen für eine dramatische Grundstimmung und lassen doch die Auseinandersetzung dieser kleinen, unscheinbaren Menschlein geradezu banal erscheinen. Ein Bewusstsein für die eigene Bedeutungslosigkeit und Vergänglichkeit und die daraus resultierende Demut gehört zu den wichtigsten Lektionen die Sanshiro lernt – und mit deren Hilfe er Gennosuke besiegt.
Besonders begeistert hat mich an Sanshiro Sugata außerdem die Eröffnungssequenz. Darin sehen wir eine geschäftige Straße einer Stadt hinunter, die Kamera folgt der Straße, biegt dann in ein kleines Gässchen ab, in dem einige Kinder spielen und singen. Die Kamera fährt weiter auf die Kinder zu, doch unsere Erwartung, dass entweder eines der Kinder einen wichtigen Charakter darstellt oder ein solcher Charakter gleich ins Bild tritt, stellt Kurosawa auf den Kopf: Er wechselt nämlich die Perspektive um 180 Grad und wir sehen Sanshiro an Stelle der Kamera – wir haben die ganze Zeit durch seine Augen gesehen!
Sehr beeindruckend – gerade für das Debut eines jungen Regisseur – sind auch die Eleganz und Raffinesse, mit denen Kurosawa beispielsweise das Vergehen der Zeit symbolhaft darstellt. Ein Klassiker ist Sanshiros Holzsandale, die er bei der Begegnung mit seinem Meister Yano verliert und die in einer raschen Abfolge in den verschiedensten Situationen gezeigt wird, mal im Regen liegend, mal als Spielzeug eines Hundes oder im Fluß dahintreibend (schön in Screenshots dokumentiert bei Micha). So wird die Sandale zum Platzhalter für Sanshiro und dessen bewegte Erlebnisse in der Zwischenzeit.
Sanshiro Sugata ist nicht nur ein erstaunliches Erstlingswerk, der Film war auch ein großer Erfolg und war für Generationen von Martial-Arts-Filmen mit seiner Inszenierung des Meister-Schüler-Verhältnisses prägend. Leider stand es bisher um die Zugänglichkeit eher schlecht, woran sich jetzt mit der AK100-Box von Criterion (und der anstehenden Auskopplung seiner ersten Filme in einer Eclipse-Box) etwas ändert. Es wäre sehr wünschenswert, wenn dieser Klassiker dadurch mehr Fans des Genres zugänglich werden würde. Denn gesehen haben sollte man den Streifen unbedingt!
14 Mrz
Original: Yūkoku (1965) von Yukio Mishima
Im Februar 1936 scheitert ein von Offizieren geplanter Staatsstreich. Ein Leutnant wird dem Exekutionskommande zugeteilt, doch er unterstützt die Putschisten und entscheidet sich mit seiner Frau zum rituellen Selbstmord, dem Seppuku. Diese einfachen Hintergründe erfahren wir mittels einer Schriftrolle, denn Patriotism ist ein Stummfilm, begleitet allein vom „Liebestod“ aus Richard Wagners Tristan und Isolde.
Yukio Mishima drehte diesen 30-minütigen Kurzfilm in zwei Tagen auf Basis seiner eigenen, vier Jahre zuvor verfassten Kurzgeschichte und spielt dabei auch gleich selbst die Rolle des Leutnants. Wobei „spielen“ schon fast zuviel gesagt ist, denn eigentlich besteht sein Auftritt hauptsächlich darin, auf einer Noh-Bühne sitzend sich den Magen aufzuschlitzen. Darstellerisch wird der Film vor allem von seiner Frau Reiko (Yoshiko Tsuruoka) getragen.
Tony Rayns vertritt die Auffassung, dass Mishima mit Patriotism vor allem seine Bekanntheit in Europa und den USA steigern wollte, weshalb der Film seine Premiere auch nicht in Japan sondern in Paris hatte. Diese These lässt sich durch eine ganze Reihe von Besonderheiten des Films und der Situation Mishimas untermauern. Zunächst zur Person Mishimas: In Japan gehörte er seit den 50er Jahren zu den bekanntesten Schriftstellern, er galt sogar als Kandidat für den Literaturnobelpreis. Doch er betrachtete sich offenbar als Gesamtkunstwerk und arbeitete stetig an seinem Ruf des schillernden, absonderlichen Genies und bediente sich dazu der verschiedensten Gags bis hin zu sadomasochistischen Nacktaufnahmen. Doch dieser Ruf war vorwiegend auf Japan beschränkt.
Ein in seiner Radikalität aufsehenerregender Kurzfilm wie Patriotism passte da als „Werbeclip“ in eigener Sache natürlich bestens ins Konzept. Mishima schrieb sogar selbst die englischen, französischen und deutschen Fassungen der erläuternden Schriftrollen und verzichtete in der filmischen Umsetzung seiner Kurzgeschichte auch auf deren ausgeprägten Realismus. Statt dessen verlegte er das Setting in den hochgradig stilisierten Rahmen einer Noh-Bühne. Auch die Verwendung von Wagners „Liebestod“ als Soundtrack deutet darauf hin, dass der Film für ein westliches Publikum möglichst einfach zugänglich sein sollte.
Diese einfache Zugänglichkeit soll jedoch vor allem den Weg bereiten für die einerseits schockierende Darstellung des Selbstmords, bei dem natürlich das Blut in Strömen fließt und auch die Gedärme nicht fehlen dürfen, der andererseits aber zugleich moralisch überhöht und idealisiert wird. Reikos Tränen angesichts ihres sterbenden Mannes könnten sowohl Tränen der Trauer wie der Rührung oder des Stolzes sein.
Patriotism könnte man als harmlosen und nicht weiter beachtenswerten Marketinggag eines Egomanen abtun, wären da nicht die grandios fotografierten Schwarzweissbilder und die bedenkliche reaktionär-nationalistische Botschaft. Denn ganz im Gegensatz zum wenige Jahre zuvor gedrehten Meisterwerk Harakiri von Masaki Kobayashi, in dem die eigentliche Bedeutung, der tiefere Sinn des rituellen Selbstmords im Kontrast zu dessen Instrumentalisierung durch die Mächtigen betrachtet wird, sieht Mishima den Akt an sich als Statement, und zwar vor allem als eines im Dienst des Kaisers. Dazu passt auch die Inszenierung seines eigenen, wirklichen Selbstmords, den er 1970 nach der gescheiterten Besetzung des Hauptquarties der japanischen Armee verübte, und der bis heute von rechtsextremen Gruppierungen als Heldentat verehrt wird.
Patriotism sorgte für erhebliches Aufsehen, nicht zuletzt wegen der schockierenden Darstellung des Selbstmords (bei den Aufführungen in Frankreich sollen Zuschauer in Ohnmacht gefallen sein). Insofern war der Film aus Sicht des Regisseurs sicher ein Erfolg, aus heutiger Sicht ist er aber vor allem ein Dokument des Narzissmus des Künstlers und der ideologischen Überhöhung eines grausamen Rituals.
19 Jan
Original: Orizuru Osen (1935) von Kenji Mizoguchi
An einem Bahnsteig auf den Zug wartend erinnert sich der wohlhabende Arzt Sokichi (Daijiro Natsukawa), wie er im Alter von 17 Jahren von der ihm völlig fremden Osen (Isuzu Yamada) vom Selbstmord abgehalten wurde. Osen gehörte zu einer Bande von Betrügern, die sie und ihre Schönheit als Lockvogel einsetzten; Sokichi wird als Dienstbote in die Bande aufgenommen und fortan von deren Mitgliedern permanent beleidigt, ausgebeutet und misshandelt. Angewidert von den immer skrupelloseren Plänen der Betrüger, die sogar vor Mönchen nicht halt machen, und hingezogen zu dem still leidenden Sokichi beginnt Osen, sich gegen die Bande aufzulehnen. Eines Tages nutzen die beiden eine Gelegenheit und verraten die Verbrecher an die Polizei.
Doch die Wende zum Guten ist trügerisch: Sokichi kann nun zwar endlich seinem Medizinstudium nachgehen, doch Osen, die für sein Studium und ein Dach über dem Kopf aufkommen muss, sieht keinen Ausweg als sich heimlich zu prostituieren. Als ein Freier Uhr und Geldbörse bei ihr vergisst und ihr vorwirft, diese gestohlen zu haben, wird sie verhaftet und von Sokichi getrennt, der in genau diesem Moment von einem Hilferuf aus seinen Gedanken zurück in die Realität auf dem Bahnsteig gerissen wird. Eine alte Prostitutierte ist ohnmächtig geworden – Sokichi erkennt sie sofort, es ist Osen!
Die Vergleiche zum 17 Jahre später entstandenen Das Leben der Frau Oharu, einem der ganz großen Meisterwerke Mizoguchis und des japanischen Kinos überhaupt, drängen sich förmlich auf. Dabei ist die ähnlich angelegte Story vom Abstieg einer Frau bei weitem nicht die einzige Parallele zwischen den Filmen, auch die auf Flashbacks basierende Erzählstruktur findet sich in beiden Werken.
Zudem gibt es einige Szenen, die fast wie Probeläufe für das spätere Meisterwerk wirken. So etwa die Einführung Osens: Wir sehen sie, wie sie sich auf der Flucht vor einem Bordellbesitzer (an den Sie von der Betrügerbande zum Schein verkauft wurde) hinter einem Baum versteckt und sich das Kopftuch zurecht rückt; eine fast identische Szene taucht auch in Oharu auf (man vergleiche den letzten Screenshot in der oben verlinkten Rezension mit dem unten abgebildeten).
Überhaupt ist in Osen mit den Papierkranichen der berühmte Mizoguchi-Stil unverkennbar. Die visuelle und konzeptionelle Entwicklung, die er und besonders seine beühmten Jidaigeki-Filme noch nehmen sollten, ist hier ganz klar vorgezeichnet und sein „one take – one scene“-Ansatz schon sehr weit entwickelt. Oft sind es allein die im Stummfilm notwendigen Zwischentitel, die eine Szene unterbrechen.
Schnitte versucht er so weit wie möglich zu vermeiden, sei es mittels Kameraschwenks die so schnell sind, dass sie fast wie Schnitte wirken (aber eben keine sind) oder seiner berühmten Kamerafahrten, die hier noch etwas wackelig sind, aber für die damalige Zeit wahrscheinlich überaus aufwändig und technisch anspruchsvoll waren. Sehr häufig wird auch innerhalb einer Szene die Hauptaufmerksamkeit durch Rearrangements der Charaktere oder Rahmung in kleinen Einheiten auf einen anderen Teil des Bildes verlagert – teilweise auch kombiniert mit Kamerabewegungen.
Was sich dagegen mit seinem späteren distanzierten Stil nicht verträgt und offenbar noch ein Kennzeichen des jungen Mizoguchi ist, sind die Großaufnahmen, speziell von Osen aber auch von Sokichi. Auch die dramatisch-ergreifende Schlusssequenz würde sich mit ihren visuellen Effekten nur schwer mit seinen späteren Filmen vertragen: Nachdem Sokichi die bewusstlose Osen vom Bahnsteig in ein Krankenhaus brachte, erfährt er, dass sie den Verstand verloren hat. Plötzlich springt sie vom Krankenbett auf und beginnt wahnhaft, den geliebten Sokichi ihrer Jugend gegen die Betrügerbande zu verteidigen und rettet ihn in ihrer Vorstellung auch erneut vor dem Selbstmord.
Wenn auch ungewöhnlich im Vergleich zu dem, was ich bisher von Mizoguchi gesehen habe, so ist dieser Einsatz von Spezialeffekten doch äußerst effizient und bringt die Botschaft des Films klar auf den Punkt: Osen hat ihr Leben so sehr der Aufopferung für Sokichi gewidmet, dass selbst in ihrer vom Wahnsinn geprägten Gedanken- und Traumwelt sich alles um ihn dreht und sie seine ewige Beschützerin ist. Sokichi dagegen sitzt beschämt daneben, war er doch nur dank Osens Opfer zu einem wohlhabenden Arzt geworden, ohne auch nur einmal den Versuch unternommen zu haben, ihr etwas zurück zu geben.
Osen mit den Papierkranichen ist in nahezu jeder Hinsicht – inhaltlich, stilistisch – ein direkter Vorläufer der großen Klassiker Mizoguchis aus den 1950ern über Frauen, die sich aus Liebe zu einem Mann in ein Leben voller Leiden und Entbehrung stürzen und ganz und gar aufopfern. Auch wenn hier vieles noch etwas ungelenk und unfertig wirkt und die Geschichte um die Betrügerbande etwas zu dominant dargestellt wird, hier liegen unübersehbar die Wurzeln eines der herausragendsten Regisseure des 20. Jahrhunderts!
4 Jan
Original: Tokyo koshinkyoku (1929) von Kenji Mizoguchi
Nur 20 Minuten (von 80 bzw. 102 Minuten, je nach Quelle) sind noch von diesem Film erhalten – der angeblich der erste Tonfilm Japans werden sollte, was dann aber wegen technischen Problemen nicht umzusetzen war – was die Wiedergabe der Story etwas erschwert. So sind beispielsweise alle Szenen, in denen die von Takako Irie gespielte Sayuriko auftritt, verloren. Heute ist von dem Film noch die folgende Handlung nachvollziehbar.
Im hektischen Tokyo schlägt sich Michiyo (Shizue Natsukawa) grade so durch – sie lebt bei ihrem Onkel, ihre Mutter verstarb als Michiyo noch ein Kind war. Noch am Sterbebett hatte die Geisha ihre Tochter gewarnt, sich zu verlieben und nahm das Geheimnis um Michiyos Vater mit ins Grab. Eines Tages wird Yoshiki (Koji Shima), Sohn aus gutem Hause, auf Michiyo aufmerksam, verliebt sich vom Fleck weg in sie und schwört sich, sie aus ihrem harten Leben zu befreien. Doch er findet Michiyo nicht mehr, sie wurde als Geisha verkauft und trägt nun den Namen Orie.
Erst Monate später begegnet sie ihm erneut, als Orie unterhält sie Gäste auf einer Party. Die beiden sehen sich wieder und verlieben sich ineinander. Doch nicht nur Yoshiki fällt Orie auf, auch sein Kollege Sakuma interessiert sich für die Schönheit – und sein eigener Vater. Dieser ist nämlich zugleich der Vater Michiyos, dessen Identität ihre Mutter so gut verborgen hatte. So heiratet Michiyo schließlich Sakuma, während Yoshiki sich von den beiden Richtung Amerika verabschiedet.
Der Literatur zufolge spielten in Tokyo March ursprünglich Kritik an Standesunterschieden und den Lebensverhältnissen von Reich und Arm eine wichtige Rolle, davon ist in den heute noch erhaltenen Fragmenten wenig übrig geblieben. Allein zu Beginn des Films, als Michiyos ärmliche Verhältnisse geschildert und dem reichen, Tennis spielenden Yoshiki gegenübergestellt werden, ist diese Thematik präsent. Da mit Takako Irie eine weitere weibliche Hauptrolle existierte, die offenbar eine piekfeine Dame spielte, kann ich mir aber sehr gut vorstellen, dass Mizoguchi zwischen diesem Charakter und der verarmten, als Geisha verkauften Michiyo einen starken Kontrast aufgebaut und damit Kritik an den gesellschaftlichen Verhältnissen inszeniert haben könnte.
Die heute verbliebenen Fragmente zeigen hauptsächlich eine tragische Liebesgeschichte, eingerahmt von Bildern Tokyos aus den 1920er Jahren. Von den berühmten langen Einstellungen und Kamerafahrten aus Mizoguchis späteren Werken ist hier noch wenig zu sehen, kein Wunder, mussten in dem Stummfilm ja die Zwischentitel untergebracht werden, so dass ständige Schnitte notwendig waren. Auch die große Distanz, die Mizoguchi später zu den Darstellern halten würde, fehlt hier ganz, Nahaufnahmen werden häufig genutzt. Dafür wartet der Film mit einigen intelligenten Effekten und Perspektiven auf. Die oben bereits geschilderte erste Begegnung Michiyos mit dem Tennis spielenden Yoshiki wäre ein Beispiel dafür ebenso wie die Sterbeszene von Michiyos Mutter, mit dem Schatten der jungen Michiyo im Hintergrund.
Gerade sechs Jahre nach dem Beginn seiner Regiekarriere hatte Mizoguchi bereits mehr als 40 Filme geschaffen, Tokyo March ist der zweitälteste, von dem noch Fragmente erhalten sind. Wegen dieses fragmentarischen Charakters fällt es mir zwar schwer, den Film einzuordnen. Aber allein das schiere Alter und der allgegenwärtige Vergleich mit den späteren Meisterwerken Mizoguchis machen Tokyo March doch zu einem interessanten und faszinierenden Seherlebnis.