19 Sep
Original: Kanzashi (1941) von Hiroshi Shimizu
Der Soldat Nanmura (Chishu Ryu) verbringt seinen Sommerurlaub in einem Gasthaus in den Bergen. Eines Tages tritt er beim Baden in eine Haarnadel und verletzt sich, so dass er seinen Aufenthalt verlängern muss. Als die bereits abgereiste Besitzerin der Haarnadel, die Geisha Emi (Kinuyo Tanaka), von dem Unglück erfährt, kehrt sie umgehend zurück. Dabei ahnt sie genauso wenig wie Nanmura, dass dessen Zimmernachbarn bereits einen Plan aushecken, um die beiden zu verkuppeln.
Während Emi Nanmura bei seinen Laufübungen hilft, freunden sich die beiden schnell an und so entsteht um die beiden und einige weitere Gäste, besonders zwei kleine Jungs, eine Art Familiengefühl. Das und die idyllische Landschaft lassen Emi fast ihr tristes, in Abhängigkeit von einem Patron geführtes Leben in Tokyo vergessen und den Wunsch in ihr reifen, dieses Leben hinter sich zu lassen. Doch Nanmuras Heilung kommt gut voran und der Sommer nähert sich unweigerlich seinem Ende…
Über weite Strecken ist Ornamental Hairpin eine ziemlich seichte, wenn auch sympathische Komödie mit einigen recht stereotypen Figuren. So etwa der grantige Professor, der anfangs ständig am nörgeln ist und jeden mit seinen eloquent vorgetragenen Meinungen einschüchtert, aber eigentlich ein gutes Herz hat. Oder das Paar, bei dem der Mann sich kaum traut, etwas zu sagen, ohne seine Frau zu fragen. Die Gäste beharken sich gegenseitig, nur um sich gleich wieder zu vertragen. Dazwischen eingestreut sind ein paar running gags, wie die ständig ausgebuchten Masseure.
Die spannendste und zentrale Figur ist ganz ohne Zweifel Emi. Das verdeutlicht schon die Eingangsszene, in der sie uns auf dem Weg zum Gasthaus vorgestellt wird. Die Szene besteht fast ausschließlich aus einer Art walk and talk-Sequenz, in der sie und eine Freundin sich frontal auf die zurückweichende Kamera zu bewegen (siehe Screenshot oben). Danach tritt Emi für einige Zeit in den Hintergrund, aber nach ihrer Rückkehr dreht sich der Film in seiner zweiten Hälfte mehr und mehr um ihre verzwickte Situation, die dem Film am Ende ihren Stempel aufprägt.
Als zentrales Motiv nutzt Shimizu dabei genialerweise die Laufübungen des verletzten Nanmura, die dieser angetrieben von zwei kleinen Jungs als Wettbewerbe aufzieht. Schnell lässt sich auch Emi von der Begeisterung der Jungs anstecken, so dass die Übungen zunächst ein wesentliches Vehikel für die zart angedeutete romantischen Gefühle zwischen den beiden abgeben. Als Nanmura bei einer dieser Übungen von einem Steg fällt, trägt Emi ihn sogar zurück ans Ufer, eine recht intime Geste in der damaligen japanischen Gesellschaft. Überhaupt bleiben Emotionen zwischen den beiden immer unausgesprochen und beschränken sich auf Gesten und Blicke.
Die heitere Stimmung kippt plötzlich bei Nanmuras letzter Übung, einer Treppe, deren erfolgreiches Erklimmen bedeutet, dass er gesund genug ist, um nach Tokyo zurückzukehren. Schlagartig wird Emi bewusst, dass die schönen Wochen vorüber sind, das Urlaubs- und Familienidyll nichts als eine kurze, romantische Illusion war und sie jetzt wieder von ihrem alten Leben und den überfälligen, schweren Entscheidungen eingeholt wird. In den letzten Szenen des Films sehen wir Emi, nach der Abreise der anderen Gäste allein zurückgeblieben, durch den nun herbstlichen Wald die Treppe hinaufgehen.
Diese tragische Wendung in den letzten Minuten des Films wandelt dessen gesamten Charakter. Sie nimmt zugleich Bezug auf eine Episode vom Anfang des Films, als der Professor Nanmura „romantische Illusionen“ über die – zu diesem Zeitpunkt noch unbekannte – Besitzerin der Haarnadel unterstellt und sich sorgt, was das Platzen dieser Illusion für den verletzten Soldaten bedeuten könnte. Am Ende ist es dann jedoch Emi, die jäh aus ihrer Illusion gerissen wird und nun niemanden mehr hat, der ihr beisteht. Dieses Finale wirkt umso stärker, weil es in solch krassem Gegensatz zu den belanglosen Scherzen und familiären Kabbeleien steht, die den Film die meiste Zeit über prägten.
Damit lässt sich der Film auch als Kommentar auf die damalige Situation der Filmemacher in Japan interpretieren, die sich einer zunehmend strengen Zensur unterwerfen mussten. Filme wurden genau geprüft und durften nur realisiert und gezeigt werden, wenn sie eine positive Stimmung förderten und zum Bild des Zusammenhalts und der Kraft des japanischen Volkes beitrugen. Das führte natürlich dazu, dass viele flache, beschönigende und eskapistische Komödien in die Kinos kamen, wie Ornamental Hairpin es über weite Strecken auch eine ist. Nur, dass Shimizu in den letzten Minuten des Films diese Illusion auf geniale Weise platzen lässt.
Mich hat dieser Film sehr beeindruckt. Kinuyo Tanaka ist großartig und harmoniert exzellent mit dem im Vergleich dazu etwas eindimensional angelegten Chishu Ryu. Ich halte Ornamental Hairpin, der einer der letzten Filme Shimizus vor Kriegsende war, angesichts der Vorgaben der Zensoren und wie er mit diesen spielt, für einen kleinen Geniestreich.
24 Apr
Original: Arigatou san (1936) von Hiroshi Shimizu
Der Film, dessen Drehbuch vom späteren Nobelpreisträger Yasunari Kawabata stammt, folgt einer Busfahrt im ländlichen Japan und hat keine eigentliche Handlung aufzuweisen. Vielmehr führt er eine Gruppe von Menschen in dem Bus zusammen, dessen junger Busfahrer (Ken Uehara) alle nur „Arigatou-san“ (Mr. Thankyou) nennen, weil er sich bei jedem Überholmanöver artig bedankt.
Zu den Passagieren gehören ein junges Mädchen, das immer niedergeschlagen dreinblickend ganz hinten im Bus neben seiner Mutter sitzt und schon bald im Zentrum des Interesses steht: In einigen Andeutungen wird klar, dass es in die Prostitution verkauft wird, um seiner Familie das Überleben zu ermöglichen. Eine kokette junge Frau setzt sich direkt hinter Arigatou-san und macht ihm schöne Augen, ein eingebildeter Geschäftsmann streicht seinen falschen Bart und nervt die anderen Passagiere. So entsteht ein Geflecht an Beziehungen innerhalb des Busses, das durch zwischenzeitlich ein- und aussteigende Passagiere und Arigatou-sans Begegnungen mit Passanten, für die er Botendienste und kleine Besorgungen erledigt, aufgelockert und ergänzt wird.
Die Charaktere des Films sind sehr lebendig gezeichnet und die sich rasch herausbildenden Eigenheiten sorgen für reichlich Reibungspunkte, die voller Situationskomik stecken. So macht der Film einfach Spaß! Wie aber bereits die Geschichte des jungen Mädchens andeutet, steckt Mr. Thankyou auch voller menschlicher Schicksale: Die arbeitslosen Schausteller, die sich das Busticket nicht leisten können; junge Frauen, die in der Hoffnung auf Arbeit nach Tokyo fahren; der Arzt, der zu spät zu einer Geburt kommt; so entsteht nach und nach das Porträt einer Gesellschaft mitten in der Weltwirtschaftskrise, einer Gesellschaft im Umbruch.
Dass Shimizu dabei auch vor kontroversen Themen nicht zurückschreckt, belegt eine Episode, in der Arigatou-san sich mit einer jungen Koreanerin unterhält, die mit ihrer Familie am Bau der Straße arbeitet, auf welcher sich der Bus durch die Berge windet. Sie beklagt, dass sie immer von einer Baustelle zur nächsten weiterziehen müssen, und keine Chance auf ein richtiges Leben und ein Zuhause haben. Vor dem Hintergrund, dass Korea damals von Japan besetzt war und viele Koreaner in Japan unter unwürdigen Bedingungen niedere Arbeiten verrichten mussten, ist dies eine erstaunliche Kritik an der Politik Japans.
Aber der Film liefert nicht nur ein Porträt von Menschen und der größeren Gesellschaft, in der sie leben. Die Fahrt des Busses führt auch durch die ländlichen Gegenden der Halbinsel Izu, die einerseits vom Meer, glitzernden Sandstränden und in der Sonne schaukelnden Fischerbooten, andererseits von steilen Bergen und engen Tälern geprägt ist. Und Shimizus Kamera zeigt uns immer wieder den Blick der Passagiere aus den Fenstern des Busses auf die vorbei huschende Landschaft, die heute wahrscheinlich längst unter Autobahnen verschwunden ist. So dokumentiert Mr. Thankyou auch das ländliche Japan, wie es zum Anfang des 20. Jahrhunderts, an der Schwelle zur Moderne, aussah.
Alles in allem ein ganz wunderbarer Film voll liebenswerter Charaktere, der zum Nachdenken und zum Lachen gleichermaßen anregt und mit einem überraschenden Ende aufwartet, der erstaunliche Tiefe bietet und einen Blick auf ein Japan, das es schon lange nicht mehr gibt. Absolut zu empfehlen!