Original: Onna ga kaidan wo agaru toki, (1960) von Mikio Naruse
1960 war ein sehr produktives Jahr für Naruse, nicht weniger als vier Filme brachte er auf die Leinwand. Bei zwei dieser Filme bietet sich ein direkter Vergleich an, um das Spannungsfeld, in dem Naruse arbeitete, zu verdeutlichen. Los geht’s mit When a woman ascends the stairs, seinem wahrscheinlich bekanntesten Werk überhaupt, der zweite Teil ist dann die Rezension zu Daughters, wives and a mother.
Keiko (Hideko Takamine), eine junge Witwe, arbeitet als Barhostess in Ginza. Jeden Tag steigt sie die Stufen zur Bar hinauf und überwindet sich, den verhassten Job zu tun. Sie ist gut, sehr gut, aber ihre etwas konservativen Ansichten und die Weigerung, mit Kunden intim zu werden, verhindern größeren finanziellen Erfolg. Doch genau diese Distanziertheit, um nicht zu sagen „Unbeflecktheit“, macht auch einen Teil ihrer Anziehungskraft aus und bringt ihr bei ihren Kolleginnen, Kunden und dem Barmanager Komatsu (Tatsuya Nakadai) Respekt und Anerkennung. Ihre einzigen möglichen Auswege aus dem verhassten Hostessen-Leben wären die Ehe oder eine eigene Bar, doch die Versuche, das Geld für die Bar zusammen zu bekommen, scheitern an ihrer Weigerung, reichen Kunden zu Willen zu sein – und daran, dass sie nebenbei auch noch ihre Familie unterstützt.
Dann ergibt sich plötzlich die lang ersehnte Gelegenheit: Ein Kunde, mit dem sie sich gut versteht, hält um ihre Hand an. Doch Keikos Freude ist kurz: Sie muss erfahren, dass ihr Ehemann in spe ein verheirateter, mittelloser Schwindler ist, der ständig anderen Frauen Heiratsanträge macht. Für Keiko bricht eine Welt zusammen, sie fühlt sich gedemütigt, die Situation ist hoffnungsloser als je zuvor. In ihrer Verzweiflung betrinkt sie sich und öffnet Fujisaki (Masayuki Mori), einem alten Kunden den sie wirklich liebt, ihr Herz. Auch er gesteht ihr seine Liebe und entgegen all ihrer Prinzipien verbringt sie die Nacht mit ihm.
Doch der nächste Nackenschlag folgt postwendend: Fujisaki erklärt Keiko, dass er am nächsten Tag nach Osaka versetzt wird und dass er nicht den Mut hat, seine Familie ihr zuliebe aufzugeben. Nun ist sie völlig alleingelassen, hat noch dazu ihre Überzeugungen und Prinzipien aufgegeben und dadurch auch den Respekt und die Wertschätzung von Komatsu verspielt, der sie bei ihren Plänen immer unterstützt hatte. Schließlich fügt sie sich in ihr Schicksal: Sie verabschiedet sich am Bahnhof respektvoll und höflich von Fujisaki, und steigt die Stufen zur Bar hinauf, wo sie lächelnd die Kunden begrüßt.
When a Woman Ascends the Stairs ist neben Mother der beste Naruse, den ich bisher gesehen habe. Neben der vertrauten Thematik einer Frau, die versucht, ihrem Schicksal zu entrinnen, aber von sozialer Verantwortung (für ihre Familie), ausbeuterischen Systemen (der geldeintreibenden Barbesitzerin) und ihren eigenen Gefühlen (die von Männern ausgenutzt werden) daran gehindert wird, finden sich auch hier wieder großartig gezeichnete, absolut glaubhafte Charaktere. Trotz der Art, wie Keiko von den Männern und ihrer eigenen Familie behandelt wird, kann man ihnen nie wirklich böse sein, weil sie selbst nicht aus Bösartigkeit heraus handeln sondern selbst Gefesselte sind, die aus einer situationsgebundenen Notwendigkeit heraus das tun, was von ihnen erwartet wird.
Stellvertretend dafür steht ihre Familie, die nur das nach außen hin luxuriöse Leben sieht, das Keiko führt, und nicht begreifen will, dass dies zum einen hart erarbeitet ist, und sie zum andern darauf überhaupt nichts gibt. Statt Unterstützung und Verständnis hört sie von ihrer Familie nur Vorwürfe und Aufforderungen, zu helfen, etwa bei der notwendigen Operation ihres an Polio erkrankten Neffen. Und selbstverständlich gibt sie dem Drängen nach, ordnet ihre eigenen Pläne und ihr individuelles Streben nach Glück den Bedürfnissen der Familie unter.
Dieses Gefangensein in gesellschaftlichen Zwängen, persönlichen Erwartungen und zwischenmenschlichen Rollen ist das große Thema Naruses, und in keinem anderen seiner Filme hat er dies so kristallklar auf den Punkt gebracht, gerade auch visuell. Denn in vielen seiner Filme werden seine Charaktere in enge Gassen und dunkle Korridore gezwängt, doch das Bild der langsam die Treppe hinaufsteigenden Keiko erinnert wie kein anderes an ein düsteres Gefängnis, ja, an den Aufstieg zum Schafott.
Damit sind wir auch schon bei einem der Faktoren, die When a woman ascends the stairs zu einem selbst für Naruse herausragenden Film machen. Die meisten seiner Filme sind nämlich relativ „unscheinbar“ in dem Sinne, dass sie nicht durch eine spektakuläre, bemerkenswerte Bildsprache gekennzeichnet sind. Hier dagegen nutzen Naruse und sein Kameramann Masao Tamai das Widescreen-Format für brillante Kompositionen und beeindruckende Bilder, von denen sich mir einige unauslöschlich ins Gedächtnis eingebrannt haben.
Ein weiteres Beispiel dafür wäre die Szene, in der Keiko durch die Frau ihres „Bräutigams“ von dem Heiratsschwindel erfährt, dem sie aufgesessen ist. Zunächst sehen wir die beiden sich unterhaltenden Frauen in der Halbtotalen, dann Keiko in Großaufnahme, wie sie realisiert, dass sie gedemütigt wurde, dass alle Hoffnungen und ihre Freude auf Lügen basierten. Schnitt auf eine Totale, die beiden Frauen mitten in einer kargen Industriebrache, rauchende Schornsteine im Hintergrund: Symbol für Keikos Isolation, Einsamkeit, Verzweiflung und die Ausweglosigkeit ihrer Situation. Ein echter Gänsehaut-Moment!
Gleiches gilt natürlich die Schlussszene, als Keiko wie unter einem tonnenschweren Gewicht leidend die Treppenstufen zur Bar und damit zurück in ihr altes, verhasstes Leben hinaufsteigt, die Tür öffnet und aus dem Nichts das bezauberndste Lächeln aufsetzt, das man sich vorstellen kann.
[Hinweis: Dies ist die überarbeitete und erweiterte Fassung eines Artikels, der ursprünglich am 9. März 2007 gepostet wurde.]
21 Okt
Original: Dekigokoro (1933), von Yasujiro Ozu
Im Zentrum dieser feinen Tragikomödie stehen der einfache Fabrikarbeiter Kihachi (Takeshi Sakamoto) und sein Sohn Tomio (Tomio Aoki, in den 30ern von Ozu regelmäßig in verschiedenen Kinderrollen eingesetzt). Kihachi ist von ziemlich einfachem Gemüt und ein rechter Tunichtgut, und so ist es an dem achtjährigen Tomio, sich für seinen Vater um den Ernst des Lebens zu kümmern.
Die beiden haben sich in dieser ungewöhnlichen Rollenaufteilung gut eingefunden. Diese gerät jedoch etwas durcheinander, als Kihachi sich für die in Nachbarschaft gekommene Harue (Nobuko Fushimi) zu interessieren beginnt. Auch seine Freundschaft mit dem Nachbarn und Kollegen Jiro wird dadurch auf eine ernste Probe gestellt. Doch als Tomio erkrankt, rücken alle zusammen und Kihachi erkennt schließlich, was er an dem Jungen hat.
Passing Fancy beginnt zunächst als stimmungsvolle Komödie, welche die merkwürdige Beziehung zwischen Kihachi und Tomio mit einfachen aber sehr effektiven Mitteln auf den Punkt bringt. Tomio spielt seinem Vater Streiche und kümmert sich zugleich darum, dass dieser seiner Pflicht nachkommt und zur Arbeit geht, sei es zur Not auch durch einen wohlgezielten Schlag gegen das Schienbein des schlafenden Faulenzers.
Aber dann nimmt die Handlung eine überraschende Wendung ins Dramatische, was von Ozu genauso meisterlich gehandhabt wird wie die anfängliche Leichtigkeit. Emotionaler Höhepunkt des Films ist eine Szene, in der Tomio, der wegen seines ungebildeten, einfältigen Vaters von seinen Mitschülern gehänselt und verprügelt wurde, seiner Frustration freien Lauf lässt und selbst auf Kihachi einzuschlagen beginnt. Dieser wehrt sich zunächst, lässt die Schläge seines kleinen Sohnes dann aber widerstandslos über sich ergehen.
Der Rollentausch zwischen Vater und Sohn wird hier wie nirgends sonst im Film verdeutlicht und auch von Kihachi selbst akzeptiert. Ihm ist bewusst, dass er genauso – vielleicht sogar noch mehr – auf Tomio angewiesen ist als der auf ihn. Und natürlich weiss er auch, dass er alles andere als ein vorbildlicher Vater ist. In dieser Szene beweist er, dass er nicht nur ein durch und durch liebenswerter, großherziger und bei all seinen Schwächen ein schlicht guter Mensch ist, sondern dass er auch die Größe hat, für seine Schwächen geradezustehen. Und sei es einem Achtjährigen gegenüber.
Diese menschliche Größe stellt er zudem unter Beweis, als er erfährt, dass Harue in Jiro verliebt ist. Nicht nur stellt er seine eigenen Interessen hintenan, er erklärt sich sogar bereit, bei Jiro für eine Ehe mit Harue zu werben. Mit Kihachi schuf Ozu hier einen Charakter, der – von Takeshi Sakamoto großartig verkörpert – sofort das Herz des Zuschauers stiehlt und später noch in zwei weiteren Filmen Ozus wiederkehrte, wenn auch ohne direkten Bezug auf Passing Fancy.
Die Wende vom komödiantischen ins dramatische (und wieder zurück zur Komödie ganz am Ende) könnte auch zusammenfassend für Ozus Karriere als Ganzes stehen. Denn in seinen darauffolgenden Filmen verließ er mehr und mehr sein angestammtes Terrain der Komödien um einfache Leute und machte sich auf, das Wesen der Familie im Allgemeinen und den Wandel der japanischen Familie im Besonderen zu ergründen.
Auf diesem Weg entwickelte er dann auch seinen weltberühmt gewordenen Stil, der sich hier in manchen Elementen bereits andeutet, etwa in der ihm eigenen Art, den Hauptinhalt des Bildes in die obere Bildhälfte zu verlagern, woraus dann die bekannte „Sitzende Kamera“ entstand. Auch einige weitere Markenzeichen sind bereits vorhanden, aber noch nicht so weit ausgearbeitet und gefestigt, wie es schon im Jahr darauf in A Story of Floating Weeds der Fall war.
Somit ist Passing Fancy ein weiteres Puzzleteil, an dem man die Entwicklung Ozus und seiner Themen, Motive und Stilelemente nachvollziehen kann. Aber auch für sich allein ist der Film ein großes Puzzle aus Komödie, Familiendrama, einem schlitzohrig-bezaubernden Hauptcharakter und einer ungewöhnlichen Vater-Sohn Geschichte, bei dem Ozu es irgendwie schafft, dass alles zusammenpasst und alle Teile sich zu einem gelungenen Ganzen fügen.
4 Feb
Original: Tokyo monogatari (1953), von Yasujiro Ozu
Tomi (Chieko Hagashiyama) und Shukishi (Chishu Ryu), ein älteres Ehepaar, reisen aus der Provinz nach Tokyo, um ihre Kinder und Enkelkinder zu besuchen. Nach der anfänglichen Freude und Begeisterung anlässlich des Wiedersehens müssen die beiden bald erfahren, dass ihre Kinder angesichts der Arbeit und ihrer eigenen Familien kaum Zeit und Geduld haben, sich mit den beiden Alten abzugeben. Nur ihre verwitwete Schwiegertochter Noriko (Setsuko Hara) ist sehr bemüht und kümmert sich rührend um die Besucher.
Nach dem Besuch eines Seebads, wo Tomi einen Schwächeanfall erleidet, machen sich die beiden wieder auf die Heimreise, die sie jedoch in Osaka bei ihrem jüngsten Sohn wegen eines erneuten Anfalls unterbrechen müssen. Kaum sind sie zuhause angelangt, fällt Tomi ins Koma und stirbt wenig später. Die Familie kommt erneut zusammen, um von der Mutter Abschied zu nehmen.
Für einen Film mit 135 Minuten Lauflänge ist das eine, na sagen wir, nicht gerade dicht gedrängte Handlung. Doch die Handlung ist für Yasujiro Ozu nicht das zentrale Organisationsprinzip seiner Filme, was Tokyo Story idealtypisch aufzeigt. In fast allen seiner Filme geschehen oberflächlich gesehen völlig alltägliche und normale Dinge, die bei genauer Betrachtung aber an tiefe Gefühle rühren. So auch hier: Ein Familientreffen; kleinere Streitigkeiten unter Verwandten; Kinder, die sich von ihren Eltern entfremden; Eltern, die genau darüber enttäuscht sind; Trauer und Umgang mit dem Verlust eines geliebten Menschen. Der Lauf des Lebens eben.
Doch schon so mancher Regisseur ist daran gescheitert, den Lauf des Lebens in 135 Minuten zusammenzufassen. Und Ozu zeigt diesen nicht nur aus der Perspektive der beiden Alten. Er setzt sich auch mit der Gefühlswelt der trauernden Noriko, der nahegelegt wird, wieder zu heiraten, den Nöten der Kinder und der Enttäuschung der noch bei den Eltern lebenden jüngsten Tochter Kyoko (Kyoko Kagawa) angesichts ihrer nach dem Tod der Mutter rasch in den Alltag zurückkehrenden älteren Geschwister auseinander.
Dabei wahrt Ozu immer die Distanz, wird nie wertend oder schwingt lehrerhaft den Zeigefinger. Jede Generation hat ihre eigenen Bedürfnisse, Nöte und Herausforderungen und muss ihren eigenen Weg finden und gehen. Daran ist nichts Gutes oder Schlechtes, es ist einfach der Lauf des Lebens, und sich darüber zu grämen oder zu jammern ist sinnlos und verursacht nur Magengeschwüre. Für diese Einsicht stehen besonders Shukishi und Noriko.
Am Anfang des Films sehen wir ihn mit seiner Frau Tomi beim Packen, eine Nachbarin schaut vorbei und wünscht eine gute Reise. Dieses Bild Shukichis, vor einem Fenster sitzend, wird später im Film wiederholt auftauchen. Zunächst wieder zusammen mit Tomi, doch dann er allein, während sie draußen mit ihrem Enkel spielt und dabei über ihren Tod sinniert. Damit deutet Ozu vorsichtig bereits die letzten Szenen des Films an, als Shukichi wieder zuhause vor dem Fenster sitzt, nach Tomis Tod, für immer allein. Wieder schaut die Nachbarin vorbei, diesmal, um ihr Beileid auszudrücken.
So verlassen wir Shukichi in fast exakt derselben Szene, in der wir ihm zuerst begegnet sind, nur dass er nun dem Rest seines Lebens allein entgegen sehen muss. Doch er trägt dieses Schicksal mit Fassung, fast stoisch, und nutzt die Gelegenheit der Trauerfeier, um der angereisten Noriko noch einmal nahezulegen, wieder zu heiraten und den Kreis des Lebens erneut in Gang zu setzen.
Noch deutlicher bringt Noriko es auf den Punkt. Auf Kyokos Enttäuschung über die älteren Geschwister, die sich nach der Trauerfeier rasch auf den Rückweg nach Tokyo machten, erwidert sie dieser, dass diese nunmal ihr eigenes Leben hätten und es nur logisch wäre, dass für sie daher die Eltern nicht mehr im Zentrum stünden. Auf Kyokos verärgerten Ausruf „Ist das Leben nicht enttäuschend!?“ antwortet Noriko lächelnd: „Ja, das ist es.“ Dieser Ausdruck der Erkenntnis und fast freudiger Akzeptanz des Schicksals ist nicht zuletzt dank Setsuko Hara der Höhepunkt des Films, und eine der eindringlichsten Szenen in einem Ozu-Film überhaupt.
Wie nebenbei erreichte Ozu mit Tokyo Story auch noch den Höhepunkt (Achtung, ich kenne noch lange nicht alle seine Filme, aber die bekannteren) seines im Weltkino wohl einzigartigen, in sich geschlossenen und stringenten Stils, der sich keineswegs in ästhetischen Aspekten erschöpft, auch wenn diese eine wichtige Rolle spielen, siehe seine Kameraführung, sondern konzeptionell sehr viel breiter aufgestellt ist. Dazu gehören insbesondere sein außergewöhnlicher Umgang mit Raum und Zeit.
Dass er auf Kontinuität der dargestellten Handlung nicht allzuviel Wert legt, wird in Tokyo Story gleich mehrfach deutlich: Die Reise nach Tokyo selbst, inklusive eines Zwischenstops in Osaka sowie die Erkrankung Tomis auf der Rückreise werden komplett ausgeklammert. Die Bedeutung der Narration als ordnendes Element eines Films schwächt er weiter ab durch fehlende zeitliche Bezüge: Außer bei der Organisation der Trauerfeier gibt es für uns Zuschauer kaum eine Möglichkeit, einzuschätzen, wieviel Zeit verstreicht.
Als ob dies nicht verwirrend genug wäre, spielt Ozu permanent mit räumlichen Verhältnissen. Ein Mittel sind die überleitenden Stilleben, die er zum einen nutzt, um Orte der Handlung zu etablieren, aber auch, um mit geweckten Erwartungen zu spielen. Bestes Beispiel dafür ist die beschriebene Eingangsszene, in der Tomi und Shukichi sich über den Verlauf ihrer Reise unterhalten und den Zwischenstop in Osaka erwähnen. Nach dem Gespräch sehen wir verschiedene Szenen einer Großstadt und ihrer Vororte und erwarten logischerweise, dass Osaka nun der Handlungsort ist. Stattdessen sind wir schon in Tokyo, die Reise wurde übersprungen und die doppeldeutigen Stillleben verstärken unsere Überraschung noch zusätzlich.
Die auffälligste Art der Raumbehandlung bei Ozu ist jedoch seine Verwendung eines 360-Grad Raums statt des sonst üblichen 180-Grad Raums. Er bewegt die Kamera ohne die sonst üblichen Kontinuitäts-Einschränkungen (die dafür sorgen sollen, dass der Zuschauer sich leicht orientieren und problemlos der Handlung folgen kann) frei im Raum. Die untere Zusammenstellung von neun direkt aufeinanderfolgenden Einstellungen bzw. Schnitten innerhalb einer Szene macht dies deutlich (Ablauf in Zeilen wie beim Lesen).
Wir sehen Noriko und die sie besuchenden Schwiegereltern, Blick auf Noriko. Der normale Ablauf wäre nun, immer einen oder zwei über die uns zugewendete Schulter der jeweils anderen Person zu zeigen, damit die Sitzpositionen, Blickrichtungen und der Hintergrund derselbe bleiben und der Zuschauer nicht verwirrt wird. Doch Ozu springt unvermittelt auf die gegenüberliegende Seite des Raums, wir sehen nun Noriko von hinten und Tomi und Shukichi „tauschen“ die Plätze und der Hintergrund ist komplett ausgetauscht. Im Verlauf des Gesprächs sehen wir die Darsteller jeweils frontal, und am Ende springen wir noch zweimal auf die andere Seite des Raums. Jedes der neun Einzelbilder könnte für sich genommen einer komplett anderen Szene zugehören, es gibt für den unbedarften Betrachter kaum eine Möglichkeit, diese zueinander in Bezug zu setzen.
Neben der sensiblen Auseinandersetzung mit dem Verfall familiärer Beziehungen, dem Umgang mit dem Alter, Tod und Verlust bietet Tokyo Story also auch noch ein filmisches Selbstverständnis, das regelrecht als alternativer Ansatz zu den gängigen Konventionen verstanden werden kann. Nicht umsonst wird Tokyo Story seit Jahrzehnten von Filmkritikern und -theoretikern mit schöner Regelmäßigkeit zu den besten Filmen in der Geschichte des Kinos gerechnet.
14 Jan
Original: Ukigusa monogatari (1934), von Yasujiro Ozu
Eine wandernde Theatertruppe unter Leitung des alternden Schauspielers Kihachi (Takeshi Sakamoto) kommt in eine kleine Stadt auf dem Lande. Dort lebt seine frühere Geliebte Otsune (Chouko Iida) mit ihrem gemeinsamen Sohn Shinkichi (Koji Mitsue), mit denen Kihachi nun viel Zeit verbringt. Die beiden verschweigen Shinkichi jedoch die Identität seines Vaters und machen ihn glauben, dieser wäre schon lange tot.
Als Kihachis derzeitige Geliebte Otaka (Rieko Yagumo), Schauspielerin und Mitglied der Truppe, von Kihachi „Familie“ erfährt, wird sie eifersüchtig. Es kommt zum Streit mit Kihachi und aus Ärger über ihn bezahlt sie ihre Kollegin Otoki (Yoshiko Tsubouchi), Shinkichi zu verführen. Die beiden verlieben sich jedoch auf Anhieb ineinander, der Konflikt mit Kihachi, der sich für seinen Sohn eine bessere Zukunft als das Leben eines fahrenden Schauspielers wünscht, wird unausweichlich.
Besonders ins Auge gestochen ist mir Takeshi Sakamoto, der zuvor bereits in einigen Filmen Ozus mitgewirkt hatte und bis Ende der 40er Jahre zu dessen festem Stamm an Schauspielern gehörte, in der Rolle des Kihachi. Wie er dessen Charakter zum Leben erweckt und ausformt, ist wirklich ganz wunderbar! Angesichts dessen, dass es sich um einen Stummfilm handelt, bediente er sich dabei einer Reihe von kleiner Gesten und Manierismen, etwa, dass Kihachi sich ständig kratzt, mal im Gesicht, am Rücken, am Hintern oder wie hier im Screenshot am Oberschenkel. Auch dieses Tuch auf seinem Kopf trägt er ständig mit sich herum, reibt sich damit den Schweiß aus dem Gesicht oder fächelt sich Luft zu.
So entsteht ein sehr lebendiges Bild eines einfachen Mannes, der sich im Umgang mit Menschen oft etwas unwohl fühlt, wozu auch seine Rückgriffe auf Gewalt passen, denn er ohrfeigt Otaka mehrfach heftig für ihre Intrigen, und auch Otoki und Shinkichi bekommen seine Hand zu spüren. Sein gutes Herz und die väterliche Liebe zu Shinkichi veranlassen ihn dann aber doch dazu, den jungen Leuten ihren Willen zu lassen. So gibt er Otoki und Shinkichi seinen Segen, bevor er sich – gemeinsam mit Okata, mit der er sich versöhnt – wieder auf die Wanderschaft macht, um die kleine Familie nicht zu belasten.
Seine eigene Sehnsucht nach einer Familie und dem Zusammensein mit seinem Sohn bleibt dabei tragisch unerfüllt, er bleibt im Leben des ewigen Vagabunden gefangen. Dies verdeutlicht besonders die letzte Szene des Films: Kihachi und Okata sitzen im Zug und begießen mit einem Glas Sake ihre Versöhnung. Kihachi gegenüber schläft ein kleiner Junge, den er lange und sehnsüchtig anstarrt. Doch er ist nicht für eine feste Familie geschaffen, sein Schicksal ist es, wie das Gras im Titel ziellos im Strom des Lebens zu treiben.
Ozus komödiantische Wurzeln sind in A Story of Floating Weeds unübersehrbar und lockern die Handlung sehr viel stärker auf, als ich dies aus seinen berühmten Nachkriegsfilmen wie Tokyo Story kenne. Obwohl sein unverkennbarer Stil natürlich noch lange nicht voll entwickelt ist sind fast alle Elemente dennoch bereits vorhanden, wenn auch noch nicht so klar herausgearbeitet und konsequent eingesetzt.
Ein Beispiel wäre die Verwendung der Kamera, die einerseits meist die typische niedrige Position einnimmt, aber andererseits bei weitem noch nicht so statisch wirkt wie in den späteren Filmen. So gibt es einige Kamerafahrten, etwa durch die Zuschauer bei einer Theatervorstellung, und auch die Schnitte erfolgen für einen Film der dreißiger Jahre sehr schnell, was dem Film einerseits Dynamik verleiht und ihn andererseits für 1934 sehr modern erscheinen lässt.
Charakteristisch für Ozu – wenn hier auch nur ansatzweise vorhanden – ist die Verwendung von Ellipsen, bei denen eine angekündigte Handlung nicht im Bild gezeigt wird. Das wohl prominteste Beispiel dafür wäre die Szene, in der Otaka von Kihachis „familiären Verpflichtungen“ erfährt und sie dem Schauspieler, der diese versehentlich erwähnte, Geld für weitere Auskünfte bietet. Ozu schneidet hier von der den Geldbeutel zückenden Otaka direkt in das Gasthaus, in dem Kihachi mit seinem Sohn Schach spielt und wo gleich darauf Otaka auftaucht.
Allgegenwärtig sind jedoch bereits die überleitenden Schnitte mit Ansichten von Alltagsgegenständen, Gebäudeansichten oder Landschaften, die sehr an Stillleben erinnern und die Ozu regelmäßig nutzt, um zwei Szenen zu verbinden, einen Ortswechsel einzuleiten oder das Vergehen der Zeit anzudeuten. In Story of Floating Weeds nutzt er dazu besonders häufig Shinkichis Fahrrad, das im Lauf des Films regelrecht zu einem Platzhalter für Shinkichis Gegenwart wird.
Letztlich endet der Film, wie er begann: Am Bahnhof, mit einer Zugfahrt, einer Reise. So umrahmt Ozu diese kleine aber feine Familiengeschichte, die voller Parallelen, vieler Details und liebevoll gestalteter Charakter steckt. Die 2004 extra für die Criterion DVD eingespielte, die Handlung wunderbar einfühlsam und lebendig begleitende Klaviermusik tut ihr übriges, um dieses Juwel aus der Findungsphase des großen Meisters voll und ganz zur Geltung kommen zu lassen.
8 Sep
Original: Tsuma yo bara no yo ni (1935) von Mikio Naruse
Nicht nur, dass Wife! Be like a rose! der erste von insgesamt fünf (!) Filmen war, die der junge Naruse im Jahr 1935 drehte, er war auch der erste japanische Film überhaupt, der in den USA aufgeführt wurde. Naruse und seine Hauptdarstellerin Sachiko Chiba wurden später übrigens auch privat ein Paar.
Sie spielt Kimiko, eine junge Büroangestellte, die mit ihrer Mutter, einer Dichterin, zusammen wohnt und gern ihren Freund heiraten möchte. Zur Anbahnung der Hochzeit müsste jedoch Kimikos Vater Shunsaku (Sadao Murayama) die Eltern des Bräutigams treffen. Doch Shunsaku lebt bereits seit langer Zeit mit einer ehemaligen Geisha zusammen auf dem Land, worunter Kimikos Mutter, immerhin seine angetraute Ehefrau, sehr leidet. So entschließt sich Kimiko, ihren Vater zu besuchen und zur Rückkehr nach Tokyo und zu seiner „wahren“ Familie zu überreden.
Vor Ort muss sie jedoch erfahren, dass die Dinge in Wirklichkeit ganz anders sind, als sie aus der Ferne wirkten. Die ehemalige Geisha nutzt keineswegs Shunsakus Großzügigkeit auf Kosten seiner „eigentlichen“ Familie aus. Ganz im Gegenteil, sie arbeitet hart, um den erfolglosen Goldschürfer zu unterstützen und bietet ihm genau das einfache, ursprüngliche Familienleben, das ihm seine intellektuelle, zur Trübsal neigende erste Frau nicht bieten konnte. Dennoch erklärt er sich bereit, Kimiko nach Tokyo zu begleiten, um ihre Hochzeit in die Wege zu leiten. Für eine kurze Zeit scheint es Kimiko, als würde ihr Traum von Familienglück nun wahr werden. Doch sie muss erkennen, dass ihre Eltern einfach nicht zusammenpassen.
Wie gewohnt zeichnet Naruse seine Charaktere mit viel Liebe zum Detail und schafft es ganz ohne plakative Effekte, den Zwiespalt, in dem sowohl Kimiko als auch ihr Vater gefangen sind, glaubhaft und eindringlich zu inszenieren. Dabei erweist dich die junge Kimiko nicht nur als sehr moderne Frau (wie auch der ganze Film sehr modern wirkt), sondern auch als reife Persönlichkeit, die erkennt und versteht, dass es für ihren Vater kein Zurück mehr gibt.
Die letzte Einstellung zeigt Kimikos allein und verlassen zurückbleibende Mutter, die tragische Figur des Films. Sie ist nunmal wer und was sie ist, und kann allein deshalb Sunsaku nicht das geben, was er zum Glücklichsein braucht. So ist sie zum Leiden verdammt, ohne dass sie oder sonst jemand etwas dafür könnte. Das Leben ist manchmal einfach grausam.
Wife! Be like a rose! ist der erste Vorkriegsfilm Naruses, den ich bisher gesehen habe. Einige typische Elemente seiner späteren Filme sind sofort wiederzuerkennen: Die Szenen mit von Häusern eingefassten Straßenzügen, die Kontrastierung von Stadt und Land, der Enge und der Weite, sowie kurze Großaufnahmen von Objekten, etwa um eine bestimmte Stimmung zu transportieren.
Als ungewöhnlich fielen mir dagegen zahlreiche Einstellungen auf, in denen der Blick auf die Personen durch Objekte im Vordergrund teilweise verdeckt ist. Ich interpretiere dies als eine Anknüpfung an die Botschaft des Films, nämlich dass man Personen nicht auf Grund von Hörensagen und Vermutungen basierend aus der Ferne beurteilen kann, sondern dass dazu immer das direkte, persönliche Erleben, also quasi der unverstellte Blick, gehören.
Bemerkenswert außerdem die häufig niedrig positionierte Kamera, so dass wir als Zuschauer oft regelrecht an den Personen hinaufschauen müssen. In manchen, in geschlossenen Räumen spielenden Szenen erinnert dies stark an Ozus typischen Stil der sitzenden Perspektive. Doch Naruse verwendet sie auch in einigen anderen Szenen. Am auffallendsten ist dies bei der Begegnung von Kimiko und ihrem Vater. Auf offenem Felde stehend unterhalten sich die beiden, wobei wir sie in einer klassischen shot-reverse-shot Konstellation zu sehen bekommen. Allerdings scheint der Kameramann seine Kamera dabei unter dem Arm gehalten zu haben.
Dadurch, dass wir zur freudestrahlenden Kimiko und ihrem ebenfalls überglücklichen Vater aufsehen, beide Personen gegen den Himmel gezeigt werden, entsteht ein regelrecht erhebendes Gefühl. Das Wiedersehen von Vater und Tochter, der emotionale Höhepunkt des Films, wird so auch visuell unterstrichen.
Anscheinend war der junge Naruse recht experimentierfreudig und versuchte sich an verschiedenen Stilmitteln. Ob die genannten sowie weitere Mittel in seiner frühen Schaffensphase häufig eingesetzt wurden, werde ich schon bald etwas genauer einschätzen können. Als nächstes steht nämlich Street without end auf meiner Liste, der unmittelbar vor Wife! Be like a rose! entstand.
2 Sep
Original: Meshi (1951) von Mikio Naruse
Diese Verfilmung einer Vorlage von Fumiko Hayashi, Naruses Lieblings- schriftstellerin, an deren Drehbuch auch der spätere Literaturnobelpreisträger Yasunari Kawabata mitwirkte, war Naruses erster großer Nachkriegserfolg. Garant dafür dürfte nicht zuletzt Hauptdarstellerin Setsuko Hara gewesen sein.
Hara spielt die ursprünglich aus Tokyo stammende Hausfrau Michiyo, die nun mit ihrem Ehemann Hatsunosuke (Ken Uehara), einem unterbezahlten Wertpapierhändler, in Osaka lebt. Eines Tages kommt Hatsunosukes Nichte Satoko (Yukiko Shimazaki) zu Besuch, die von Michiyo zunächst herzlich aufgenommen wird. Das junge, ungebundene Mädchen, das noch nichts über Verantwortung und die Härten des Lebens weiß und das Leben so gut es geht genießt, führt Michiyo jedoch bald die Eintönigkeit ihres Hausfrauendaseins und ihrer Ehe eindrücklich vor Augen.
Dazu kommt die große Aufmerksamkeit, die ihr Ehemann seiner hübschen Nichte zukommen lässt, so dass Michiyo zunehmend eifersüchtig wird, ihr Leben als unerfüllt und vergeudet wahrnimmt und sich in einer Sackgasse sieht. Schließlich packt Michiyo ihre Sachen und reist nach Tokyo zu ihrer Familie, begleitet von Satoko. Hatsunosuke, der von all dem völlig überrumpelt wird, bleibt verständnislos im schnell im Chaos versinkenden Haus zurück. Michiyo ist unterdessen hin- und hergerissen zwischen der Möglichkeit, in Tokyo zu bleiben und dort eine Arbeit zu suchen, oder zu ihrem Mann in ihr altes Leben zurückzukehren.
Schließlich sind es wieder Satoko und ihr zielloses, sprunghaftes Verhalten sowie der daraus erwachsende Ärger mit ihren Eltern, die Michiyo ins Grübeln bringen und eine Entscheidung in ihr reifen lassen. Ihr wird klar, dass sie im Gegensatz zu dem jungen Mädchen ihren Platz im Leben gefunden hat und nicht noch einmal von vorn beginnen will. Wie häufig in Naruses Filmen wird dieser entscheidende Moment unter freiem Himmel in einer offenen Landschaft inszeniert und steht somit im starken Kontrast zum eingeengten Alltag der Protagonistin.
Als dann auch noch Hatsunosuke nach Tokyo kommt, vorgeblich wegen einer Geschäftsreise, und die beiden sich nach längerer Zeit wieder begegnen, löst sich die angesammelte Spannung zwischen den Eheleuten schnell und sie finden sogar ein Stück des ursprünglichen gemeinsamen Glücks wieder.
Symbolisiert wird dies durch einen gemeinsamen Besuch in einer Bar, bei dem die beiden das erste Mal im Film überhaupt gemeinsam lachend zu sehen sind. Dabei etabliert Naruse eine auffällige Parallele zu einer ganz ähnlichen früheren Szene, in der Michiyo von einem an ihr interessierten entfernten Verwandten zum Essen eingeladen wurde, zu einer Zeit, als sie noch mit dem Gedanken spielte, auf der Suche nach Glück ein neues Leben zu beginnen.
Überhaupt arbeitet Naruse in Repast sehr häufig mit parallelen Szenen, die durch mehr oder weniger subtile Abweichungen und Änderungen die sich wandelnde Stimmung der Charaktere und ihr Verhältnis zueinander unterstreichen. Sehr typisch dafür wäre etwa die Eröffnungssequenz, in der (ein Markenzeichen Naruses) die engen Straßen und kleinen Häuser des Viertels in Osaka zu sehen sind, die am Anfang sehr sympathisch, freundlich und liebenswert erscheinen. Eine spätere fast exakte Wiederholung transportiert dann aber eine komplett andere Stimmung und trägt damit zur Charakterisierung von Michiyos Leben als eintönig, freudlos und ausweglos bei.
Neben der außergewöhnlichen Fähigkeit Naruses, seinen Filmen durch die besondere Aufmerksamkeit für kleine Details eine sehr dichte Atmosphäre zu verleihen, ist es besonders die großartige Setsuko Hara, die Repast zum Leben erweckt. Indem sie die zweifelnde, am Scheideweg ihres Lebens stehende Hausfrau nicht nur glaubwürdig sondern sehr nuanciert spielt und ihr mittels ihres unnachahmlichen Lächelns in vielen Szenen etwas zutiefst rätselhaftes verleiht, wird der gesamte Film sehr wahrhaftig und unaufgesetzt.
Aus heutiger Sicht mag jedoch die durch den Schluss scheinbar vermittelte Botschaft des Films („Vielleicht liegt das Glück einer Frau ja darin, sich für ihren Mann aufzuopfern“) vielen – und da nehme ich mich nicht aus – übel aufstoßen. Allerdings bin ich mit Naruses Werken vertraut und weiß sehr wohl, dass ihm Frauenschicksale und die Frauen angetane Ungerechtigkeit sehr am Herzen liegen, weshalb ich Repast unter etwas anderen Gesichtspunkten betrachte.
Im Gegensatz zu vielen anderen Protagonistinnen Naruses ist Michiyo nämlich in der glücklichen Lage, ihr Schicksal selbst bestimmen zu können. Sie wird nicht wie die Bardame Keiko in When a Woman ascends the stairs oder wie die Witwe Yae in Summer Clouds durch äußeren Druck seitens der Familie, finanzielle Nöte oder gesellschaftliche Zwänge am Ausbrechen aus ihrem festgefahrenen Leben gehindert. Ganz im Gegenteil, Michiyos Familie ist sehr verständnisvoll und geduldig, und dass sie und ihr Mann ein eher karges Leben führen spielt keine Rolle bei ihrer Entscheidung. Sie folgt einfach ihren Gefühlen, tut das was ihr als richtig erscheint und genießt damit eine Freiheit, die fast allen anderen Frauenfiguren Naruses verwehrt blieb.
16 Feb
Original: Midareru, (1964) von Mikio Naruse
Der Film beginnt mit einer großartigen Szene, in der Naruse gleichermaßen den Rahmen für die Handlung setzt und die Veränderungen im Japan der 60er Jahre thematisiert: Ein Werbewagen fährt durch eine Kleinstadt und kündigt Sonderangebote eines neuen Supermarkts an. Dabei fährt er auch am Lebensmittelladen von Reiko (Hideko Takamine) vorbei, wo die Geschäfte immer schlechter laufen. Reiko lebt bei der Familie ihres verstorbenen Ehemanns, dessen Mutter und Schwestern sie überreden wollen, wieder zu heiraten. Aber sie fühlt sich ihrem Mann, dessen Familie und dem kleinen Laden, den sie nach dem Krieg aufgebaut hat, tief verbunden.
Die Situation wird zusätzlich belastet, als ihr ihr Schwager Koji (Yuzo Kayama), vorgeblich ein Taugenichts und Glücksspieler, seine Liebe beichtet. Es wird offensichtlich, dass sein früheres Verhalten Versuche der Ablenkung waren. Nachdem die Wahrheit heraus ist, beginnt er im Laden mitzuhelfen (was aber immer wieder zu peinlichen Situationen mit Reiko führt) und ändert seinen Lebenswandel vollständig. Er plant sogar, den kleinen Laden abzureißen und einen Supermarkt zu eröffnen, den er gemeinsam mit Reiko führen will. Seine Familie lehnt Reikos Beteiligung aus finanziellen Erwägungen aber ab. Koji betrachtet den Laden jedoch als Reikos Lebensinhalt und will diesen auf keinen Fall zerstören. Als Reiko erfährt, dass sie einer Verbesserung der Situation der Familie im Wege steht, kündigt sie überraschend an, in ihre Heimat zurückzukehren und zu heiraten. Koji glaubt ihr nicht und begleitet sie auf der Fahrt nach Norden, bei der sich die beiden langsam näher kommen. Sie unterbrechen die Reise und Reiko dankt Koji für seine Liebe und Zuneigung, teilt ihm aber mit, dass sie sich an ihren Ehemann gebunden fühlt. Sie bittet ihn, am nächsten Morgen abzureisen, worauf Koji davon stürmt, sich betrinkt und in eine Schlucht stürzt.
Naruse greift in Yearning bereits bekannte Themen auf: Die eheliche Bindung, die Abhängigkeit der Ehefrau – besonders der Witwe – von der Familie ihres Ehemanns, unerfüllbare Liebe und finanzielle Nöte (deren Ursachen dieses Mal aber mit den rapiden Veränderungen von Wirtschaft und Gesellschaft klar benannt werden). Er geht dabei allerdings noch einen Schritt weiter als in den früheren Filmen. Die Bindung Reikos an ihren Ehemann bestimmt sogar noch lange nach dessen Tod ihr Schicksal und grenzt sie in ihrer individuellen Freiheit ein, hat damit letztlich Konsequenzen über die unmittelbar Betroffenen hinaus und verursacht indirekt sogar den Tod Kojis.
Betrachtet man die Liebe Kojis als Reikos Chance auf ein neues Leben, bekommt die Schlussszene, in der Reiko völlig außer sich hinter der Bahre mit Kojis Leiche, die sich aber immer weiter entfernt, herläuft, eine zusätzliche Bedeutung: Denn Reiko vergießt keine Tränen, in ihrem Gesicht spiegeln sich nicht nur Bestürzung und Trauer, sondern auch ein bisschen Erleichterung darüber, dass ihre Treue zu ihrem Ehemann nicht weiter getestet wird. Damit sind die Grenzen für Reikos Glück letztlich auch von ihr selbst errichtet.
Die grausamste Szene des Films bleibt für mich aber, als Reiko ihrer angeheirateten Familie gegenübersitzt und den Lebensmittelladen, ihr Zuhause, alles, wofür sie gelebt und gearbeitet hat, ihren gesamten Lebensinhalt, ohne mit der Wimper zu zucken aufgibt. Und das, um Menschen zu helfen, die sich kaum für ihr Schicksal interessieren. Ein Moment, in dem Naruse seine Heldin sehr nah an Kenji Mizoguchis sich selbst aufopfernde, tragisch leidende Frauenschicksale heranrückt.
14 Feb
Original: Fūfu (1953), von Mikio Naruse
Kikuko (Yoko Sugi) lebt mit ihrem Mann Isaku (Ken Uehara) bei ihren Eltern, wo die beiden aber wegen der bevorstehenden Hochzeit ihres Bruders nicht bleiben können. Nach langer Suche überredet Isaku seinen Kollegen Nakamura (Rentaro Mikuni), dessen Frau kürzlich gestorben ist, ihnen einen unbewohnten Raum seines Hauses zu überlassen. Nakamura, angesichts des Todes seiner Frau ein totales Wrack, beginnt durch Kikukos Gegenwart, die Freude am Leben wieder zu entdecken.
Das gute wechselseitige Verständnis der beiden erweckt Isakus Verdacht, worauf er selbst mit einer Kollegin auszugehen beginnt. Eine Kleinigkeit führt schließlich zum offenen Streit, Kikuko fährt zu ihrer Familie und hinterfragt offen die Ehe. Schließlich kehrt sie aber überraschend gut gelaunt zu Isaku zurück. Die beiden finden kurz darauf eine andere, schönere Wohnung. Doch Kikuko wird schwanger und Isaku fordert von ihr, das Kind abzutreiben, da er mit seinem kleinen Gehalt keine Familie ernähren könne. Gemeinsam gehen sie zur gynäkologischen Klinik, aus der Kikuko sogleich weinend herausstürmt. Sie setzen sich auf eine Parkbank, zwischen ihnen hindurch sind im Hintergrund spielende Kinder zu sehen. Schließlich steht Isaku auf, umarmt Kikuko und sagt €žLass uns nach Hause gehen€œ.
Husband and Wife wird oft in einer Reihe gesehen mit dem sehr viel bekannteren Repast, in dem sich Naruse mit der Unmöglichkeit beiderseitigen Glücks in der Ehe beschäftigt. Gemeinsam ist den beiden Filme in der Tat das Thema der lebenslangen Bindung zweier Menschen aneinander, die gleichsam zu einer Fessel werden kann. Mit der positiv stimmenden Schlussszene deutet Naruse aber auch eine andere, optimistischere Option an, die über das reine Fügen in das eheliche Schicksal hinausgeht: Gegenseitiges Verständnis, Empfindsamkeit und Aufgeschlossenheit für die Bedürfnisse des Partners können verhindern, dass die aus der Bindung eine Last wird.
Dies verdeutlicht auch eine frühere Schlüsselszene, nämlich der Besuch von Kikukos Bruder und dessen Braut bei Isaku und Kikuko, kurz nachdem diese ihren Streit überwunden haben. Das ältere und streiterprobte Paar gibt darin Erfahrungen und Lehren aus sieben Jahren Eheleben weiter und demonstriert großes Verständnis füreinander. Probleme und Konflikte seien im Zusammenleben eben unumgänglich, müssten aber überwunden werden, denn eine Ehe sei wie eine Schere: Sie funktioniert nur, solange beide Klingen zusammen sind. In dieser Szene, in der die beiden Paare Tee trinkend beisammen sitzen und unabänderliche Lebensweisheiten austauschen, habe ich mich fast wie in einem Ozu gefühlt!
Der wunderbarste Moment des Films (neben der Schlussszene) war aber eine ganz kurze Einstellung, in der Naruse seine ganze Brillanz sowohl in der Charakterisierung seiner Figuren als auch im Einfangen von Stimmung demonstriert: Nakamura liegt auf dem Bauch inmitten seines chaotischen Zimmers, gammelt vor sich hin und reißt sich ein Nasenhaar aus! Die Einstellung dauerte vielleicht drei oder vier Sekunden, und hat doch die ganze Langeweile, Trübsal und Aussichtslosigkeit von Nakamuras Leben nach dem Tod seiner Frau eingefangen. Einfach großartig!