11 Feb
Original: Iwashigumo (1958), von Mikio Naruse
Die Witwe Yae (Chikage Awashima) berichtet dem Journalisten Okawa (Isao Kimura) vom harten Leben auf dem Land und von ihrem Bruder Wasuke (Ganjiro Nakamura), der bei Brauttauschgeschäften einen Großteil seines Vermögens verlor und nun ein ärmlicher Bauer ist. Seine Kinder aus drei Ehen wenden sich vom Landleben ab: Sein zweiter Sohn hat studiert und arbeitet und lebt in der Stadt, sein dritter Sohn will eine Mechanikerausbildung in Tokyo machen. Dabei plant Wasuke, ihn mit der Tochter eines wohlhabenden Cousins zu verheiraten, um an dessen Land zu kommen. Sein kurz vor der Hochzeit stehender ältester Sohn will als einziger den Hof fortführen.
Yae und Okawa reisen als Hochzeitsvermittler zur Familie der Braut, verbringen so einige Tage zusammen und verlieben sich ineinander. Yae blüht auf, verfolgt moderne Ideen und unterstützt die Kinder ihres Bruders bei deren Versuchen, Unabhängigkeit zu erlangen und das Landleben hinter sich zu lassen. Gemeinsam erreichen sie, dass Wasuke einwilligt, einen Teil seines Landes zu verkaufen um seinen Söhnen das erträumte Leben zu ermöglichen. Doch als Okawa nach Tokyo versetzt wird, muss Yae erkennen, dass ihrem eigenen Glück enge Grenzen gesetzt sind: Hart arbeitend bleibt sie auf ihren Feldern zurück.
Thema des Films ist die Modernisierung der Japanischen Gesellschaft nach dem Krieg, das Auseinanderdriften der Generationen: Auf der einen Seite die Elterngeneration, die in alten Denkweisen und Wertvorstellungen gefangen ist und deren Lebensinhalte von diesen abhängen, auf der anderen Seite die junge Generation, die vor allem die Chancen auf ein selbstbestimmtes Leben sieht und diese ergreifen möchte. Dabei bringt Naruse beiden Seiten großes Verständnis und Wärme entgegen und zeichnet die Charaktere mit großer Zuwendung und Liebe zum Detail.
Der Film kritisiert an Yaes Beispiel vor allem das traditionelle Familiensystem, insbesondere die Abhängigkeit einer Frau von der Familie des Ehemanns. Dies verdeutlicht vor allem Yaes Schwiegermutter, die selbstverständlich erwartet, von Yae versorgt zu werden, aber selbst nicht bereit ist, Yae oder deren Sohn zu unterstützen. Immer wieder verweist Yae in den Gesprächen mit Okawa auf die Erbschaftsregeln, die Frauen zu einer untergeordneten Rolle verdammen und ihnen keine Eigenständigkeit erlauben.
Trotz all der Kritik an überkommenen Traditionen und Yaes hartem Schicksal besticht der Film aber auch durch Szenen großen Glücks und großer Freude, etwa wenn Yae und Okawa zusammen verreisen oder als die Familie den Grundstein für das Haus der Brautleute legt, alle begeistert bei der Arbeit sind und Lieder singen.
Großartig verwebt Naruse die Handlungsstränge der verschiedenen Charaktere (drei Liebespaare, Wasuke und seine Frau sowie der jüngste Sohn) zu einem großen Ganzen. Dabei kommen auch assoziative Schnitte zum Einsatz: Als sich Yae und eine Freundin über die jugendlichen Verliebten unterhalten, schneidet Naruse aus der Konversation direkt zum Liebespaar geschnitten und anschließend wieder zurück zur Ausgangsszene, wo die Konversation unmittelbar wieder aufgegriffen wird. Das Timing ist exzellent und die Geschichte wirkt trotz der verschlungenen Familienbeziehungen zu keinem Zeitpunkt konstruiert sondern direkt aus dem Leben gegriffen.
Dabei werden Wasuke und Yae als konträre Beispiele einer dem Untergang geweihten Lebensart dargestellt: Yae würde gern einige der sich einer modernen Frau bietenden Chancen ergreifen, ist letztlich aber in der konsequenter in ihrem Traditionalismus als ihr Bruder Wasuke. Der reagiert zwar auf die Bitten seiner Familie, Felder zu verkaufen um die Mechaniker-Ausbildung seines Sohnes zu bezahlen, zunächst ablehnend (€žDas Land ist alles, was ein Bauer hat€œ). Schließlich gibt er aber nach und bleibt gebrochen zurück, während Yae ihre Bindung an das Land als die Essenz ihres Lebens sieht, und nicht bereit ist, diese aufzugeben.
In der großartigen Schlussszene beackert sie wild entschlossen und zugleich erzweifelt ihr Reisfeld mit denen sie untrennbar verbunden ist. Allein bleibt sie zurück, in den sich bis zum Horizont dehnenden Reisfeldern unter einem dräuenden Wolkenhimmel.
6 Feb
Original: Okâsan, (1952) von Mikio Naruse
Okâsan schildert den harten Kampf einer Mutter (Kinuyo Tanaka) um den Fortbestand ihrer Familie aus der Sicht ihrer ältesten Tochter Toshiko (Kyoko Kagawa).
Der Film eröffnet mit einem inneren Monolog Toshikos, in dem sie die Mitglieder ihrer Familie vorstellt. Bereits in diesen ersten Szenen war ich völlig begeistert, wie Naruse Direktheit und Eleganz verbindet. Die wenigen Worte, die Toshiko über ihren Vater, ihre Mutter und ihre Geschwister verliert, begleitet er mit so liebevollen, ausdrucksstarken und ehrlichen Bildern, dass sich sofort das Gefühl einstellt, es wäre die eigene Familie mit all ihren liebenswerten Schrulligkeiten:
Die Mutter Masako ist so klein, dass sie einen kurzen Besen zum Kehren benutzt, der kleine Neffe ist ein Bettnässer und für den Vater (den Toshiko vergöttert: €žSeht nur die Muskeln!€œ) liegt alles Glück der Welt in gebackenen Bohnen.
Eine Handlung im klassischen Sinne gibt es nicht. Naruse webt verschiedene Ereignisse und Szenen in eine Art Handlungsreigen, den Gang der Jahreszeiten verdeutlicht er anhand wechselnder Angebotsschilder eines Kiosk – im Winter Pfannkuchen, dann Eis am Stiel. Off-Screen wird Toshikos kranker Bruder ins Sanatorium eingewiesen, später erfahren wir, dass er gestorben ist. Der Vater wird krank, gerade als die Familie eine Wäscherei eröffnet, woraufhin Kimura, ein Freund der Familie, aushilft. Einige Zeit später stirbt auch der Vater und Toshiko beginnt ebenfalls, in der Wäscherei zu helfen. Doch das Geld reicht hinten und vorne nicht, weshalb ihre jüngere Schwester von einem Onkel adoptiert werden soll.
Toshiko sieht ihre Familie zerbrechen, ist verwirrt und beginnt unter der Situation zu leiden, besonders weil sie glaubt, ihre Mutter würde Kimura heiraten. Sie selbst ist zwischen Kindheit und Erwachsenensein gefangen: einerseits spielt sie noch wie ein Kind mit ihren Geschwistern und singt auf dem Stadtfest, andererseits übernimmt sie Verantwortung, unterstützt die Familie und entdeckt eine erste unschuldige Liebe zum Bäckerssohn Shinjiro (Eiji Okada).
Sie fühlt mit ihrer Mutter und fragt sich, ob diese angesichts all der Härten des Lebens, der Schicksalsschläge, überhaupt glücklich sein könne. Sie stellt sich diese Fragen stellvertretend für den Zuschauer, und Naruse beantwortet diese, indem er im Laufe des Films immer wieder kleine Momente des Glücks einstreut, sowohl auf einzelne Personen bezogen, etwa wenn der Vater in seliger Verzückung seine geliebten Bohnen kaut, oder in Gemeinschaft bei einem Ausflug in den Park.
Besonders in einer Szene, als Toshiko von ihrer Tante Noriko als Brautmodell zurechtgemacht wird und alle ihre Schönheit bewundern, zeigt Naruse mit kurzen Schnitten auf die Mutter deren geradezu mit Händen zu greifende Freude, ihren Stolz und das Glück angesichts der Schönheit ihrer heranwachsenden Tochter: der ganze Mutterstolz und die Mutterliebe werden mit wenigen Einstellungen vor Augen geführt. Das zeigt auch die Schlussszene, in der die Mutter mit dem Neffen herumtollt und sich schließlich zufrieden aber erschöpft die Haare aus dem Gesicht streicht, unterlegt mit der Stimme von Toshiko, die sich fragt, ob ihre Mutter glücklich ist.
Die tragenden Hauptrollen sind großartig gespielt von Kinuyo Tanaka und besonders auch von der jungen Kyoko Kagawa, die hier ihren ersten großen Filmauftritt hatte und eine herzerfrischende Darstellung bietet. Beide Hauptdarstellerinnen formen aus der Trauer angesichts der Todesfälle, Enttäuschung ob der Härte des Lebens und Freude im Alltag und in der Liebe so ungekünstelt und authentisch ihre Charaktere, dass nie so etwas wie Mitleid mit ihnen aufkommt, sondern echtes Mit-Fühlen.
Okâsan ist in meinen Augen eine nahezu perfekte Demonstration von Naruses Fähigkeit, das Leben so wie es ist darzustellen und den Zuschauer mitten hinein zu ziehen. Der Geschmack des Lebens besteht nun mal aus süßen und bitteren Momenten, und Naruse lässt uns beides kosten.