30 Apr
Original: Jitensha toiki (1988) von Shion Sono
Keita (Masahiro Sugiyama) und Shiro (Shion Sono) sind nach dem Schulabschluss zuhause versackt und schlagen sich mit Zeitungsaustragen durch. Shiro verfolgt nebenbei die fixe Idee, einen 8mm Film zu drehen, doch Keita ist skeptisch und möchte sich lieber auf die Uni vorbereiten. Außerdem trauert er seiner großen Liebe Kyoko nach, die ausgerechnet jetzt, zum Silvesterabend, von der Uni nach Hause kommt und ihn damit völlig aus der Bahn wirft. Shiro versucht vergeblich, seinen Freund aufzurichten und gleichzeitig mit seinen eigenen Identitätsproblemen zurecht zu kommen.
Bicycle Sighs ist in vieler Hinsicht ganz anders als die Filme Shion Sonos, die ich bisher gesehen habe: Keine christliche Symbolik, keine klassische Musik, kein Blutbad, kein Ausleben sexueller Begierden, keine opulenten Bilder €“ stattdessen ganz einfach und minimalistisch gehalten und voll sehr abstrakter Metaphern, ein echter €žIndie€œ eben. Vielleicht hat er mir gerade deshalb so gut gefallen, weil er – eingezwängt zwischen die Vorführungen von Cold Fish und Strange Circus auf der Nippon Connection €“ so etwas wie eine Oase der Ruhe darstellte. Was aber keineswegs bedeuten sollte, dass Bicycle Sighs nicht verstörend wäre.
Stellvertretend für die Wirkung, die der Film wahrscheinlich auf viele Zuschauer haben dürfte, kann ich die ältere Dame heranziehen, die mit ihren beiden Freundinnen hinter mir saß. Vor dem Film hatte sie noch ganz stolz berichtet, was für tolle Filme sie auf der letzten Nippon Connection gesehen hatte, und als dann der Abspann lief waren ihre ersten Worte €žGottseidank ist es vorbei, so einen Film braucht doch kein Mensch€œ.
Die eigentlich recht simple Story von vier jungen Menschen an der Grenze zum Erwachsenwerden – das Quartett wird komplettiert von Shiros Schwester Katako – wird immer wieder in ihrem Fluss gebrochen. Zum einen durch zeitliche Sprünge und zum anderen durch Szenen aus dem unvollendeten 8mm-Film, dessen Handlungsebene immer stärker mit der Keita-Shiro-Ebene verschmilzt, was mehr als einmal für Verwirrung sorgt.
Dazu kommen dann noch die manchmal mehr manchmal weniger durchschaubaren Symbole und Metaphern. Wenn Shiros Schwester mit einer Fahne, auf die sie das Zeichen für „Ich“ gemalt hat, auf das Hausdach klettert und laut ihren Namen und Geburtstag ruft, kann man sich darauf noch einen Reim machen. Weniger offensichtlich erscheint mir dagegen die in mehreren Szenen immer weiter gezogene Begrenzungslinie des Baseballfelds aus dem 8mm-Film. Soll sie das Leben der Charaktere als ganzes symbolisieren? Oder die Grenze zwischen Realität und Imagination? Oder dass wir uns selbst Strukturen schaffen und uns darin selbst beschränken?
Ein großes Thema des Films ist jedenfalls das Aufbrechen vorgegebener Strukturen und die Selbstbehauptung des Individuums. Die bereits geschilderte Sequenz mit der „Ich“-Fahne wäre ein Beispiel dafür, ein weiteres eine großartige Einstellung in einer Schule am Ende des Films. Keita hat sich in der Ecke eines Klassenzimmers versteckt und Shiro schiebt die wie Wände wirkenden Tischreihen auseinander, bis der Blick auf Keita frei wird. Das hinter Strukturen verborgene, ja gefangene Individuum muss erst befreit werden. Eine grandiose, in ihrer Schlichtheit sehr mächtige Szene! Dass Keita kurz darauf Selbstmord begeht, lässt diese symbolische Befreiung aber sehr zwiespältig erscheinen…
Wie gesagt, ein sehr ruhiger, früher Film Sonos, der mich immer mehr begeistert, je mehr ich über ihn nachdenke. In seiner Schlichtheit ist er kaum vergleichbar mit seinen ausufernden, überbordenden Werken der letzten Jahre, weshalb ich besonders froh bin, dass ich ihn auf der Nippon Connection sehen konnte.
20 Jun
Original: Ai no mukidashi (2008) von Sion Sono
Dieses Vier-Stunden-Epos sprengt so ziemlich jeden Rahmen und ein Versuch, auch nur die wichtigsten Stränge der Handlung hier zusammenzufassen, ist eigentlich von vornherein zum Scheitern verurteilt. Deshalb an dieser Stelle ein kurzer Überblick über die wichtigsten Charaktere und wie sich ihr Zusammenspiel entwickelt.
Im Zentrum stehen Yu (Takahiro Nishijima), der unter dem Druck der Schuldgefühle seines katholischen Vaters leidet, und seine große Liebe Yoko (Hikari Mitsushima). Das Schicksal der beiden wird massiv manipuliert von Koike (Sakura Ando), Anführerin einer christlichen Sekte, die wie Yu in ihrer Kindheit unter einem religiös verblendeten Vater zu leiden hatte und von ihrer ersten Begegnung an von Yu fasziniert ist.
Zunächst sieht sie ihn als Mittel, um die katholische Gemeinde seines Vaters mit ihrer Sekte zu unterwandern. Dazu arrangiert sie die erste Begegnung zwischen ihm und Yoko, bei der er sich natürlich unsterblich verliebt, sie sorgt dafür, dass die beiden in dieselbe Schulklasse kommen, dass Yoko ihn verabscheut und dass durch diesen Konflikt die kleine Familie in die Arme ihrer Sekte getrieben wird. Yu bleibt allein zurück und kämpft verzweifelt darum, Yoko zu befreien und sie für sich zu gewinnen.
So viel dazu in aller gebotenen Kürze. Der interessanteste und vielschichtigste Charakter in diesem Trio ist für mich die Figur der Koike, deren Motivation immer nebulös bleibt. Sexualität steht sie noch zwiespältiger gegenüber als Yu oder Yoko: In ihrer Kindheit wurde sie wegen ihres „sündigen“ Körpers von ihrem Vater geprügelt und schnitt ihm später, als er einen Schlaganfall erlitt, dann den Penis ab. Auf der anderen Seite ist sie von Yus voyeuristischen Spielereien fasziniert, scheint ihre kurze lesbische Affäre mit Yoko zu genießen und versucht auch mehrfach, Yu zu verführen.
Aber vielleicht ist ihr wahres Ziel ja schlicht, Macht über Menschen auszuüben und mit ihrem Schicksal zu spielen, und Sex setzt sie dabei nur als Mittel ein? Dagegen wiederum spräche ihr Ende, als sie angesichts des verzweifelt um Yokos Liebe kämpfenden Yu Selbstmord begeht – hat sie ihn vielleicht doch geliebt und konnte es nicht ertragen, dass sie diese Gefühle nicht manipulieren konnte? Und wofür steht eigentlich der Wellensittich, der sie auf Schritt und Tritt begleitet?
Love Exposure spielt von der ersten Sekunde an mit religiösen – vor allem christlichen – Symbolen und Bildern. Tischgebete, Beichten, Taufen, das ganze Programm ist vertreten, schließlich ist Yus Vater ja auch Priester. Gleich zu Anfang wird sogar eine direkte Analogie von Yus Mutter zur Mutter Gottes gezogen und ihm die Verpflichtung auferlegt, eine Frau zu finden, die „seine“ Maria werden soll. Was natürlich nicht unwesentlich zu seinen Komplexen beiträgt.
Doch schließlich findet er sie dann in Person von Yoko. Bei dieser ersten Begegnung wird sie dann auch konsequenterweise gleich religiös aufgeladen und zu einer regelrechten Erlösungsfigur für Yu erhoben – um im nächsten Moment ungünstig in einem Windstoß zu stehen und ihren Rock hochgeblasen zu bekommen.
Das Spannungsfeld von Religiosität und Sexualität ist vor allem in der ersten Hälfte das dominierende Thema des Films: Yus Vater, der gefallene Priester, der der sexuellen Ausstrahlung einer Frau nicht widerstehen kann und aus Gewissensbissen seinen Sohn zum Beichten zwingt. Yu, der sich daraufhin verzweifelt auf die Suche nach der „Sünde“ begibt. Oder Yoko, die von den sexuellen Eskapaden ihres Vaters so angewidert ist, dass sie einen unstillbaren Hass auf alle Männer entwickelt – bis auf Kurt Cobain und Jesus.
Doch bei all der Auseinandersetzung mit Religion, Sekten und deren Stellung zu Sexualität ist Love Exposure vor allem anderen ein wahrhaft monumentaler Liebesfilm – ganz im Sinne des Titels beschäftigt er sich mit Liebe in all ihren Formen und auch Auswüchsen. Thematisiert wird die Liebe zu Gott, die Liebe der Eltern für ihr Kind und die des Kindes zu den Eltern, die auf sexueller Anziehungskraft basierende Liebe zwischen Mann und Frau (oder zwischen Personen gleichen Geschlechts), die mehr oder weniger perversen Spielarten dieser körperlichen Liebe, und natürlich die wahre, reine Liebe, um die Yu und Yoko so hart ringen. Noch nie habe ich vergleichbares gesehen!
In diesem Zusammenhang ist mir dann allerdings schon das zweite Mal nach Ghost in the Shell in einem japanischen Film der Korintherbrief untergekommen! Yoko rezitiert in einer dramatischen, windumtosten Szene am Strand die Verse 1-8 des Hohelieds der Liebe, darunter diesen Abschnitt:
Die Liebe ist langmütig, die Liebe ist gütig. Sie ereifert sich nicht, sie prahlt nicht, sie bläht sich nicht auf. Sie handelt nicht ungehörig, sucht nicht ihren Vorteil, lässt sich nicht zum Zorn reizen, trägt das Böse nicht nach. Sie freut sich nicht über das Unrecht, sondern freut sich an der Wahrheit.
Sie erträgt alles, sie glaubt alles, hofft alles, hält allem stand. Die Liebe hört niemals auf.
Unterlegt wird dieses Zitat mit dem Allegretto aus Beethovens 7. Sinfonie, das mit seinem feierlich-majestätigen Rhythmus auch in vielen anderen Szenen des Films als musikalisches Motiv für die „reine“ Liebe verwendet wird. Im Gegensatz dazu steht übrigens der sehr viel bekanntere, wildere Boléro von Ravel, der als Motiv für die Sünde immer dann eingespielt wird, wenn Yu sich auf Abwege begibt. Eine sehr faszinierende Musikauswahl, die hinter den epischen Charakter des Films nochmal das eine oder andere Ausrufezeichen setzt und echtes Gänsehautgefühl erzeugt.
Aber nicht nur religiöse Elemente werden regelmäßig aufgegriffen, Love Exposure macht immer wieder Anleihen bei anderen Filmen. Allen voran natürlich bei der Figur der Sasori (siehe Screenshot weiter oben), in deren Kostüm Yu schlüpft und in die sich Yoko verliebt – ist die männerhassende Yoko doch ein Stück weit eine Wiedergängerin der feministischen, von Männern ausgenutzten und unterdrückten Sasori aus den 70ern. Einige Szenen des Films sind regelrecht eine Hommage an den Sexploitation-Klassiker.
Dazu kommen Zitate etwa von Shinji Aoyamas Eureka (die Szenen im Bus) oder Takeshi Kitanos Dolls (als Yu und Yoko aneinandergefesselt am Strand stehen). Und wie die Indoktrinierung von Yus Familie im Hauptquartier der Sekte in Szene gesetzt ist, erinnert doch stark an Kubricks 2001.
Das soll aber keinesfalls Kritik an Love Exposure sein, ganz im Gegenteil: Jedes der genannten Zitate bringt durch die Verknüpfung mit den anderen Filmen zusätzliche Assoziationen und Bedeutungsebenen hinein und ergänzt den Film somit – weitere Interpretationsansätze bieten sich an, die mal mehr oder weniger eindeutig sind. Genial! In diesem Zusammenhang habe ich mich gefragt, ob der Nachname von Yoko vielleicht ebenfalls eine Anspielung sein soll: Ihr Charakter, der von Yu immer wieder als „seine Maria“ bezeichnet wird, heisst mit Nachnamen nämlich Ozawa – und Maria Ozawa ist eine bekannte japanische Pornodarstellerin…
Puh, so langsam muss ich mal zum Schluss kommen! Love Exposure ist, das dürfte offensichtlich geworden sein, ein extrem vielschichtiges Werk, mit dem man sich auf verschiedensten Ebenen auseinandersetzen kann. Ein grandioser Liebesfilm, bildgewaltig, mal halbdokumentarisch, mal überdreht wie eine Teenie-Komödie, den man in keine noch so große Schublade gequetscht bekommt. Definitiv ein Meisterwerk!
20 Mai
Original: Noriko no shokutaku (2005) von Sion Sono
Als etwa 20 bis 30 Minuten des Films vorüber waren, haben die ersten Zuschauer das Kino verlassen. Der Film nimmt sich nämlich gerade am Anfang sehr viel Zeit, um in die Gedankenwelt der Protagonisten einzutauchen, was überwiegend durch Erzählungen aus der Ich-Perspektive erfolgt. Diese permanente Erzählung aus dem Off wirkte schnell ermüdend, aber wer die Geduld aufbrachte und sich den Film zu Ende ansah, wurde belohnt.
Norikos Dinnertable baut auf Sion Sonos früherem Film Suicide Club auf, erzählt aber nicht eine breitere, auf eine ganze Generation gemünzte Geschichte sondern die einer einzelnen Familie: Noriko (Kazue Fukiishi) ist ein gewöhnlicher Teenager, lebt mit Vater, Mutter und ihrer Schwester Yuka (Yuriko Yoshitaka) in einer Kleinstadt in behüteten Verhältnissen, aus denen sie sehnlichst ausbrechen will. Zunächst flüchtet sie sich ins Internet, wo sie mit ähnlich denkenden Mädchen chattet und Ueno54 (Tsugumi) kennenlernt, mit der sie sich schnell anfreundet. Dieses Mädchen, Noriko nur unter seinem Chat-Pseudonym bekannt, inspiriert Noriko dazu, nach Tokyo auszureißen und Ueno54 persönlich kennenzulernen.
In Tokyo trifft sie ihre Internetbekanntschaft, die im wirklichen Leben Kumiko heisst und eine Agentur leitet, die für Kunden ein glückliches Familienleben simuliert. Auch Noriko wird für die Agentur tätig, nimmt je nach Situation verschiedene Rollen an und vergisst darüber ihre eigene Familie. Als ihre Schwester Yuka ihr nachfolgt und die Mutter sich daraufhin das Leben nimmt, begibt sich der Vater (Ken Mitsuishi) auf den Spuren seiner Töchter nach Tokyo. In einem finalen Treffen werden alle mit ihrem Versagen und ihrer Unzufriedenheit in ihren jeweiligen Rollen konfrontiert, die zerbrochene Familie findet dadurch wieder zusammen.
In dieser kurzen Zusammenfassung mag das alles ganz verständlich und nachvollziehbar klingen, aber der Film ist wirklich hartes Brot! Die Monologe aus dem Off dominieren das erste Drittel des 160 Minuten langen Films fast komplett und durch die verschiedenen Perspektiven der jeweils berichtenden Familienmitglieder ist oft unklar, welcher Version nun „geglaubt“ werden kann. Die Verquickung der Familien-Agentur mit dem Suicide Club und verschiedenen Massenselbstmorden von Teenagern, die undurchsichtige Figur der Kumiko (Ueno54) sowie die unruhige Kamera sorgen für zusätzliche Verwirrung und erschweren es, den roten Faden des Films zu erkennen. Vielleicht hätte es geholfen, wenn ich Suicide Club gekannt hätte.
Unter dem Strich ist Norikos Dinnertable jedoch eine brillante Analyse der Rollen, die es in einer Familie einzunehmen gilt, und welche Schwierigkeiten Menschen dabei haben, diesen Rollen und ihren Anforderungen zu entsprechen. Durch die Perspektivwechsel werden die Hintergründe, die Motive und die Ziele und Wünsche der Personen immer wieder neu beleuchtet. Die Familienagentur ist letztlich das Vehikel, das es den Protagonisten erlaubt, aus ihren erlernten, festgefahrenen Rollen auszubrechen, ihre Probleme endlich zu verbalisieren und sich darüber auszutauschen und dadurch letztlich die Rolle so auszufüllen, dass sie mit sich selbst und den anderen im Einklang sind. Sehr sehenswert, nicht nur für Studenten der Soziologie und Psychologie!