Einen Leckerbissen der ganz besonderen Art hat Berlin am 15.08.2013 zu bieten: Der Filmsalon Charlottenburg zeigt um 20 Uhr Yasujiro Ozus Komödie Tokyo Chorus aus dem Jahr 1931, eines der ältesten vollständig erhaltenen Werke des großen Meisterregisseurs.
Der Film zeigt, wie der gutmütige Versicherungsmakler Okajima und seine Familie sehnsüchtig dem Zahltag des Jahresbonus entgegenfiebern, schließlich soll Spielzeug für die Kinder her. Doch statt dem Geldregen kommt es zum bösen Erwachen: Okajima wird gefeuert, die Familie muss um ihre Existenz kämpfen.
Tokyo Chorus wird gezeigt in der Sammlung Scharf-Gerstenberg:
19.00 – Kostenlose Kurz-Führung durch die Ausstellung der Sammlung
20.00 – Beginn der Vorstellung mit einer kurzen Einführung
Eintritt 8/4 Euro
Und wer sich jetzt gleich hier in den Kommentaren meldet und dabei seine Email hinterlässt, kann 2 Eintrittskarten gewinnen!
Wäre das doch nur an einem Wochenende, dann würde ich selber hinfahren 🙁
Original: Nagayaka shinshiroku (1947) von Yasujiro Ozu
Der Wahrsager Tashiro (Chishu Ryu) bringt eines Abends einen kleinen Jungen mit nach Hause, der sich scheinbar verlaufen hat. Doch niemand in der armen Nachbarschaft mag sich um den Kleinen kümmern und ihn für die Nacht aufnehmen. Schließlich lässt Tashiro ihn einfach bei der griesgrämigen Witwe Tane (Choko Iida), die den Jungen widerwillig aufnimmt.
Am nächsten Morgen bringt sie ihn zu seinem Zuhause und es stellt sich heraus, dass sein Vater verschwunden ist – offenbar wurde der Junge ausgesetzt. Genau das versucht nun auch Tane, doch der Kleine will sich nicht abschütteln lassen und folgt ihr bis nach Hause. Mit seiner stoischen, aufrechten Art bringt er die alte Witwe nach und nach dazu, ihre harte Schale abzulegen und so dauert es nur ein paar Tage, bis sie ihn in ihr Herz geschlossen hat und sich darüber selbst verwandelt. So wird der Junge, den sie zunächst als Bürde abgelehnt hat, zu ihrer geliebten Familie, bis plötzlich sein Vater in der Tür steht.
Die Charaktere des Films leben mitten in einer zertrümmerten Stadtlandschaft und in einfachsten Verhältnissen. Sie halten sich mit Tauschgeschäften, Lebensmittelrationen und kleinen Dienstleistungen über Wasser. Damit dürften sie kurz nach Kriegsende die Realität der allermeisten Japaner wiederspiegeln und vor diesem Hintergrund ist die Botschaft des Films eine eindeutige: Gerade wenn man es schwer hat und scheinbar nichts zu teilen, dann sind Hilfsbereitschaft und Großzügigkeit besonders wichtig. All die Sorgen, die Tanes Alltag anfangs bestimmen, treten zum Ende hin völlig in den Hintergrund und statt über günstige Kartoffeln und geklaute Süßigkeiten zu grübeln genießt sie das Leben zusammen mit dem Jungen.
Hier muss ich übrigens kurz die Darstellung der Tane durch Choko Iida hervorheben, die wirklich ganz vorzüglich spielt und Tane mit vielen kleinen Macken und ihren Wandel sehr glaubhaft verkörpert – allein die Grimassen, die sie manchmal zieht, sind köstlich! Dabei scheint Iida 1947 bereits auf eine lange Karriere zurückblicken zu können, ihr Debut gab sie offenbar bereits 1924. Ein echtes Urgestein des japanischen Kinos also!
In Ozus Werk sehe ich Record of a tenement gentleman insofern in einer Sonderrolle, als es zwar um Familienbande geht, aber hier ganz die Entdeckung der schönen, sinnstiftenden Aspekte der Familie im Zentrum stehen. Im Vergleich dazu sind die meisten seiner anderen Filme (jedenfalls der Bekannteren) sehr viel zweideutiger im Umgang mit Familie und beleuchten meist die Konflikte und Themen wie Entfremdung oder unerfüllte Hoffnungen.
Davon abgesehen wird sich jeder, der schon den einen oder anderen Ozu gesehen hat, hier gleich wie zuhause fühlen. Ästhetisch wie thematisch (und auch was einige bekannte Gesichter angeht) ist diese kleine aber feine Tragikomödie unverkennbar ein Ozu, aber im Vergleich zu einigen seiner nachfolgenden Filme sehr viel leichter zugänglich. Ein Einsteiger-Ozu gewissermaßen.
12 Apr
Original: Chichi ariki (1942) von Yasujiro Ozu
Der alleinstehende Lehrer Shuhei (Chishu Ryu) kümmert sich liebevoll um seinen Sohn Ryohei. Nach einem tragischen Unfall bei einem Schulausflug gibt Shuhei seinen Beruf auf und kehrt in seine Heimatstadt Ueno zurück, wo der kleine Ryohei zu seinem Entsetzen in einem Internat eingeschult wird. Die Entfremdung der beiden beginnt und wird beschleunigt, als Shuhei nach Tokyo zurückkehrt um mit der Arbeit in einer Fabrik das Geld für die Ausbildung seines Sohnes zu verdienen.
Die Jahre vergehen, Ryohei hat seine Ausbildung abgeschlossen und ist nun wie sein Vater einst selbst Lehrer mit einer Anstellung in Akita. Bei einem gemeinsamen Urlaub nähern sich die beiden wieder an und Ryohei schlägt seinem Vater vor, wieder als Familie zusammen zu leben. Doch Shuheis tiefsitzendes Verantwortungsgefühl lässt dies nicht zu, bis es schließlich zu spät ist.
Die Vater-Sohn-Geschichte dümpelt die meiste Zeit gemütlich vor sich hin und wird zudem durchbrochen von einigen Episoden, in denen Shuhei einen alten Kollegen trifft und sich mit dessen Familie anfreundet, sowie einer Wiedersehensfeier mit seinen alten Schülern. Diese Abschweifungen lassen die Beziehung von Vater und Sohn phasenweise fast zur Nebensache werden. Auch in den Momenten des Wiedersehens von Vater und Sohn will kein wirkliches Gefühl der Verbundenheit aufkommen, da sie kaum einmal über den Austausch von Belanglosigkeiten hinaus kommen. Ryohei ist seinem Vater vor allem durch Dankbarkeit und ein Gefühl der Verpflichtung verbunden.
Auch wenn Es war einmal ein Vater klassische Ozu-Themen wie familiäre Werte und den Umgang mit den Beschwernissen des Lebens aufgreift, war er doch ein Propagandafilm, der von den amerikanischen Zensoren um einiges gekürzt wurde. Die Feier mit den ehemaligen Schülern Shuheis beispielsweise soll von patriotisch-nationalistischen Ansprachen und Gesängen durchsetzt gewesen sein, von denen heute nichts mehr erhalten ist.
So ist der in der Hochphase des Zweiten Weltkriegs entstandene Film vor allem eine doppelte Hymne auf ein wohlmeinendes Patriarchat (und als solche wurde der Film von der Militärregierung auch verstanden): Auf der einen Seite der selbstlose Vater, der sein ganzes Leben ohne Rücksicht auf sein eigenes Wohl schuftet, um seinem Sohn eine Ausbildung und ein gutes Leben zu ermöglichen, und der selbst noch am Sterbebett dessen Hochzeit mit der Tochter eines Freundes arrangiert; auf der anderen Seite der brave Sohn, der sich der Weisheit und den Wünschen des Vaters unterordnet, obwohl er nichts anderes will als mit seinem Vater zusammen zu leben.
Der Film zeigt aber immer wieder auch die Schmerzen und die Enttäuschung Ryoheis, so dass man durchaus versteckte Kritik an einem Ideal erkennen kann, das Verpflichtung und Selbstaufopferung über soziale und familiäre Bindungen, Gefühle und menschliche Nähe stellt. Diese zweischneidige Interpretationsmöglichkeit verleiht dem Film aus meiner Sicht eine gewisse Würze, die ihn – neben dem Umstand, dass Chishu Ryu von Ozu erstmals in einer Hauptrolle eingesetzt wurde – erst so richtig interessant macht. Denn ansonsten zählt der Film nicht gerade zu denjenigen Werken Ozus, die man unbedingt gesehen haben muss.
2 Dez
Original: Higanbana (1958) von Yasujiro Ozu
Der für seine in familiären Angelegenheit gelassene, recht moderne Haltung bekannte Wataru Hirayama (Shin Saburi) ist bei Freunden und deren Familien ein häufig aufgesuchter Ratgeber in Sachen Verheiratung der Töchter. Gerne rät er seinen Freunden, gelassen mit ihren Töchtern umzugehen und nicht auf eine arrangierte Hochzeit zu drängen, und die Töchter bestärkt er darin, sich bei der Suche nach dem richtigen Ehemann Zeit zu lassen.
Als er jedoch plötzlich von dem jungen Taniguchi (Keiji Sada) um die Hand seiner Tochter Setsuko (Ineko Arima) gebeten wird, schaltet Wataru auf stur und untersagt zum Entsetzen seiner Familie die Hochzeit. Alle Tricks der Freundinnen von Setsuko und die Überredungskunst der Mutter scheinen zunächst fruchtlos. Doch langsam beginnt Watarus Widerstand zu bröckeln, nicht zuletzt als er in der Familienkrise eines alten Schulfreunds zu vermitteln beginnt, der sich mit seiner Tochter über deren Heiratspläne überworfen hatte.
Wieder einmal nimmt sich Ozu des Verhältnisses von Vater und Tochter und besonders des mit der Hochzeit der Tochter verbundenen Loslassens an. Equinox Flower wirft dabei ein besonderes Schlaglicht auf das durch die gesellschaftliche Modernisierung Japans in den 50er Jahren in grundlegender Veränderung begriffene Heiratsverhalten und die Abkehr von der arrangierten Hochzeit hin zur Liebeshochzeit. Zwar bekommt dabei vor allem der sturköpfige Wataru, der den Töchtern seiner Freunde gegenüber den liberalen und verständnisvollen Modernisten gibt und – als es dann um seine eigene Tochter geht – plötzlich zum traditionellen Patriarchen mutiert, den Spiegel vorgehalten.
Aber Ozu kritisiert auch die junge Generation, der es an Verständnis für ihre Eltern fehlt, die auf ihre Art ja nur das beste für ihre Töchter wollen. So scheint der Anlass für Watarus Verärgerung und Ablehnung Taniguchis auch weniger der Fakt, dass Setsuko einen anderen Mann heiraten will als den von ihm „auserwählten“, sondern dass sie die Eltern nicht in diese Entscheidung einbezogen hatte.
In der zweiten Hälfte des Films wirkt der anfangs noch so sichere und mit sich und der Welt zufriedene Wataru zunehmend nachdenklich und zutiefst verunsichert, eine logische Folge der inneren Widersprüche seiner Haltung gegenüber seiner Tochter im Vergleich zu seiner zuvor propagierten Einstellung. Aber diese Verunsicherung scheint noch tiefer zu gehen und etwas zu sein, das er mit seinen alten Freunden teilt, die nämlich alle Töchter im heiratsfähigen Alter haben. Für sie alle heisst es, einerseits Abschied von einem durch die eigenen Kinder geprägten Lebensabschnitt zu nehmen, aber auch von der ihnen vertrauten Gesellschaftsordnung, die ihr ganzes Leben und ihre eigene Ehe geprägt hatte.
Ein Stück der Verunsicherung könnte allerdings auch aus den schon fast unverschämten Streichen folgen, die Wataru von einer Freundin seiner Tochter gespielt werden. Sie führt ihm einerseits vor Augen, wie sehr er mit zweierlei Maß misst und andererseits, wie leicht angesichts des Selbstbewusstseins, des Willens und der Chuzpe der jungen Generation seine Autorität zerbröckelt. Damit es schließlich doch noch zu einem Happy End kommt, muss er gleich mehrfach über seinen Schatten springen, lässt sich dazu aber durch die Liebe zu seiner Tochter antreiben.
Verglichen mit Später Frühling, in dem Ozu ein Jahrzehnt zuvor das Abschiednehmen von Vater und Tochter eindringlich und herzergreifend dargestellt hatte, hat Equinox Flower einige kräftige komödiantische Elemente und kommt sehr viel leichtfüßiger daher. Möglicherweise ein Nebeneffekt des erstmals von Ozu verwendeten Farbfilms? Tatsächlich machen dieser Hauch Komödie und die Farben Equinox Flower zu einem direkt unterhaltsamen Film – in dem Sinne, dass man ihn auch auf einer Ebene konsumieren kann, wie es bei den ersten, thematisch meist recht schweren Nachkriegsfilmen Ozus undenkbar war. Das macht den Film in meinen Augen zu einem sehr guten Einstieg in das nicht immer ganz leicht zugängliche Werk des Meisters.
21 Okt
Original: Dekigokoro (1933), von Yasujiro Ozu
Im Zentrum dieser feinen Tragikomödie stehen der einfache Fabrikarbeiter Kihachi (Takeshi Sakamoto) und sein Sohn Tomio (Tomio Aoki, in den 30ern von Ozu regelmäßig in verschiedenen Kinderrollen eingesetzt). Kihachi ist von ziemlich einfachem Gemüt und ein rechter Tunichtgut, und so ist es an dem achtjährigen Tomio, sich für seinen Vater um den Ernst des Lebens zu kümmern.
Die beiden haben sich in dieser ungewöhnlichen Rollenaufteilung gut eingefunden. Diese gerät jedoch etwas durcheinander, als Kihachi sich für die in Nachbarschaft gekommene Harue (Nobuko Fushimi) zu interessieren beginnt. Auch seine Freundschaft mit dem Nachbarn und Kollegen Jiro wird dadurch auf eine ernste Probe gestellt. Doch als Tomio erkrankt, rücken alle zusammen und Kihachi erkennt schließlich, was er an dem Jungen hat.
Passing Fancy beginnt zunächst als stimmungsvolle Komödie, welche die merkwürdige Beziehung zwischen Kihachi und Tomio mit einfachen aber sehr effektiven Mitteln auf den Punkt bringt. Tomio spielt seinem Vater Streiche und kümmert sich zugleich darum, dass dieser seiner Pflicht nachkommt und zur Arbeit geht, sei es zur Not auch durch einen wohlgezielten Schlag gegen das Schienbein des schlafenden Faulenzers.
Aber dann nimmt die Handlung eine überraschende Wendung ins Dramatische, was von Ozu genauso meisterlich gehandhabt wird wie die anfängliche Leichtigkeit. Emotionaler Höhepunkt des Films ist eine Szene, in der Tomio, der wegen seines ungebildeten, einfältigen Vaters von seinen Mitschülern gehänselt und verprügelt wurde, seiner Frustration freien Lauf lässt und selbst auf Kihachi einzuschlagen beginnt. Dieser wehrt sich zunächst, lässt die Schläge seines kleinen Sohnes dann aber widerstandslos über sich ergehen.
Der Rollentausch zwischen Vater und Sohn wird hier wie nirgends sonst im Film verdeutlicht und auch von Kihachi selbst akzeptiert. Ihm ist bewusst, dass er genauso – vielleicht sogar noch mehr – auf Tomio angewiesen ist als der auf ihn. Und natürlich weiss er auch, dass er alles andere als ein vorbildlicher Vater ist. In dieser Szene beweist er, dass er nicht nur ein durch und durch liebenswerter, großherziger und bei all seinen Schwächen ein schlicht guter Mensch ist, sondern dass er auch die Größe hat, für seine Schwächen geradezustehen. Und sei es einem Achtjährigen gegenüber.
Diese menschliche Größe stellt er zudem unter Beweis, als er erfährt, dass Harue in Jiro verliebt ist. Nicht nur stellt er seine eigenen Interessen hintenan, er erklärt sich sogar bereit, bei Jiro für eine Ehe mit Harue zu werben. Mit Kihachi schuf Ozu hier einen Charakter, der – von Takeshi Sakamoto großartig verkörpert – sofort das Herz des Zuschauers stiehlt und später noch in zwei weiteren Filmen Ozus wiederkehrte, wenn auch ohne direkten Bezug auf Passing Fancy.
Die Wende vom komödiantischen ins dramatische (und wieder zurück zur Komödie ganz am Ende) könnte auch zusammenfassend für Ozus Karriere als Ganzes stehen. Denn in seinen darauffolgenden Filmen verließ er mehr und mehr sein angestammtes Terrain der Komödien um einfache Leute und machte sich auf, das Wesen der Familie im Allgemeinen und den Wandel der japanischen Familie im Besonderen zu ergründen.
Auf diesem Weg entwickelte er dann auch seinen weltberühmt gewordenen Stil, der sich hier in manchen Elementen bereits andeutet, etwa in der ihm eigenen Art, den Hauptinhalt des Bildes in die obere Bildhälfte zu verlagern, woraus dann die bekannte „Sitzende Kamera“ entstand. Auch einige weitere Markenzeichen sind bereits vorhanden, aber noch nicht so weit ausgearbeitet und gefestigt, wie es schon im Jahr darauf in A Story of Floating Weeds der Fall war.
Somit ist Passing Fancy ein weiteres Puzzleteil, an dem man die Entwicklung Ozus und seiner Themen, Motive und Stilelemente nachvollziehen kann. Aber auch für sich allein ist der Film ein großes Puzzle aus Komödie, Familiendrama, einem schlitzohrig-bezaubernden Hauptcharakter und einer ungewöhnlichen Vater-Sohn Geschichte, bei dem Ozu es irgendwie schafft, dass alles zusammenpasst und alle Teile sich zu einem gelungenen Ganzen fügen.
Yasujiro Ozu wurde nicht zuletzt wegen seines außergewöhnlichen, unverkennbaren Stils zu einer Ikone der japanischen Filmgeschichte. Nach eingen recht simplen wiederkehrenden Motiven geht es heute um eine Grundfeste seines Stils, an der jeder seiner Filme schon nach wenigen Augenblicken erkennbar ist: Die niedrige Kameraposition.
Das klassische Beispiel dafür sind die vielen, in traditionellen japanischen Häusern spielenden Szenen, in denen sich die Darsteller auf dem Boden sitzend unterhalten und sich die Kamera in einer Position knapp über dem Boden befindet. Weil diese Szenen einen so großen Anteil an den Filmen Ozus haben, wird dies oft als eine sitzende Position der Kamera interpretiert, die den Zuschauer in die Rolle einer an der Konversation teilnehmenden, ebenfalls auf den Tatami sitzenden Person versetzen solle. Auch die Meinung, dass es sich um die Sicht eines Kindes handele, ist immer wieder zu lesen.
Um aus diesen niedrigen Positionen filmen zu können, nutzte Ozu ein spezielles Stativ, das so niedrig war, dass der Kameramann während des Drehens teilweise auf dem Boden liegen musste.
Doch Ozu verwendete die niedrige Kameraposition nicht nur in geschlossenen Räumen, sondern auch im Freien, mithin also in Situationen, in denen die „teilhabende Kameraperson“ normalerweise eben nicht sitzen würde. Beispiele dafür finden sich reichlich, ein sehr schönes Beispiel wäre etwa die Großstadtszene aus Später Frühling, in der sich die Kamera etwa auf Höhe des Gebäudesockels befindet und in der kein Beobachter je auf die Idee käme, sich auf den Boden zu setzen:
Gegen die These, dass Ozu die Kamera und damit den Zuschauer in die Position eines sitzenden Beobachters oder eines Kindes versetzen wollte, spricht sich besonders David Bordwell vehement aus. Er zeigt auf, dass die Kameraposition keineswegs in einer bestimmten Höhe fixiert ist sondern vielmehr sehr stark variiert, in Abhängigkeit vom Motiv (bei sitzenden Personen befindet sie sich knapp über dem Boden, bei stehenden etwas höher und bei Gebäuden oder Landschaftsaufnahmen sogar in der Vogelperspektive).
Er legt vielmehr Wert darauf, die Effekte dieses Stilmittel auf den Zuschauer und für die Wahrnehmung des Bildes ins Auge zu fassen. Ein solcher Effekt ist die im obigen Screenshot gut zu beobachtende Betonung vertikaler Elemente und von Objekten, die sich in der Nähe der Kamera befinden. Die eigentlich im Zentrum der Aufmerksamkeit stehenden Objekte und Charaktere werden dagegen in die obere Hälfte des Bildes und somit gewissermaßen in die Peripherie gedrängt, wie auch in dieser Szene aus A Story of floating weeds…
Der Zuschauer stolpert ständig über diese ungewohnte Bildsprache, ganz im Sinne des Brechtschen Konzepts, den Zuschauer dazu zu bringen, den Sinn zu hinterfragen, eine kritische Auseinandersetzung anzustoßen, vertraute, alltägliche Dinge aus einem ungewohnten Blickwinkel zu betrachten und ihn so zum Nachdenken über sie statt zur Identifikation mit ihnen zu veranlassen. Die Kamera sollte eben nicht den natürlichen Standpunkt eines Menschen einnehmen, sondern durch die ungewöhnliche Position einen Verfremdungseffekt erzielen.
Dass Ozu aber nicht immer auf die ungewöhnliche Perspektive setzt sondern manchmal auch ganz klassische Kompositionen entwickelt, belegt eine der wohl berühmtesten Szenen seines ganzen Werks, nämlich Tomi und Shukichi auf der Hafenmauer in Tokyo Story:
Damit wird die niedrige Kameraposition zu einem integralen Bestandteil des künstlerischen Schaffens von Ozu, welcher ihn nicht nur als äußerst innovativen und konsequenten Filmemacher bestätigt, sondern auch erste Rückschlüsse auf seine Anspruchshaltung und seine Ziele zulässt.
Weitere Markenzeichen Ozus:
Teil I – Sackleinen
Teil II – Trocknende Wäsche
Teil III – Zugfahrten
Yasujiro Ozu wurde nicht zuletzt wegen seines außergewöhnlichen, unverkennbaren Stils zu einer Ikone der japanischen Filmgeschichte. Gerne genannt werden etwa die niedrig positionierte Kamera, die Beschäftigung mit der (japanischen) Familie oder die besondere Nutzung des Raums welche im Widerspruch mit Hollywood-Konventionen steht. Zu diesen Markenzeichen gehören jedoch auch ganz simple, wiederkehrende Motive, von denen ich heute ein Weiteres vorstellen möchte.
Zugfahrten spielen in fast allen Filmen Ozus eine mehr oder weniger große Rolle. In Story of Floating Weeds werden Züge und Zugfahrten zu einem sehr zentralen Element: Der Film beginnt mit der Ankunft von Kihachis Theatertruppe am Bahnhof, dort werden die wichtigen Figuren eingeführt. Am Ende steht wieder eine Zugfahrt, diesmal Kihachis Abreise und die Versöhnung mit seiner Geliebten Otaka im Zugabteil. Die Mobilität symbolisierende Zugfahrt wird so zum Ort geistig-emotionaler Mobilität. Doch mit diesem Versprechen der Mobilität sind auch Sehnsüchte und Hoffnungen verbunden, auf die in einer anderen Szene angespielt wird, nämlich als ein heimliches Liebespaar die Unmöglichkeit der Beziehung beklagt und dann sehnsüchtig einem vorbeifahrenden Zug hinterhersieht, der ihnen als einziger Ausweg erscheinen mag.
In Tokyo Story sind Shukichi und Tomi ständig mit Zügen unterwegs und es wird dauernd über Zugfahrten geredet, man sieht die beiden aber nur einmal am Bahnhof. Erst ganz am Ende des Films, als Noriko nach Tomis Beerdigung wieder nach Tokyo zurückfährt, sieht man tatsächlich einen Zug und wie sie darin – eine Taschenuhr in den Händen – mutmaßlich über die Vergänglichkeit der Dinge nachdenkt und darüber, wie die Zeit die Menschen und ihr Leben verändert.
Verschiedene Formen der Fortbewegung und Mobilität spielen in Flavor of Green Tea over Rice eine ganz zentrale Rolle. Gleich in der Auftaktszene sehen wir die beiden Hauptdarstellerinnen gemeinsam bei einer Taxifahrt und wie die Stadt an ihnen vorbeihuscht. Gegen Ende des Films werden dann der Flughafen und ein Flug nach Uruguay zu wichtigen Handlungselementen. Dazwischen steht die Zugfahrt von Taeko, als sie aus Frustration angesichts ihrer Ehekrise Hals über Kopf aus Tokyo abreist.
In anderen Filmen dagegen sind Zugfahrten normaler Bestandteil des alltäglichen Lebens, häufig etwa beim Pendeln zur Arbeit. Ein Beispiel dafür wäre Später Frühling, in dem Shukichi mit dem Vorortzug in die Stadt zur Arbeit fährt. Da er dabei manchmal auch von seiner Tochter begleitet wird, nutzt Ozu diese gemeinsamen Fahrten, um das innige Verhältnis der beiden zueinander zu beleuchten.
Das Pendler-Szenario wird manchmal aber gar nicht durch die Zugfahrten selbst visualisiert sondern etwa mittels der Bahnhöfe, wartender Pendler oder von Gleisanlagen. Ein Beispiel dafür findet sich beispielsweise in Early Spring:
Züge und Zugfahrten stehen kulturhistorisch symbolhaft für vielerlei in Filmen: Das Reisefieber, die Sehnsucht nach der Ferne, Kraft und Veränderungen (man denke an Once Upon a Time in the West), Flucht oder Selbstfindung (siehe The Darjeeling Limited). Ozu machte in seinen Filmen sehr unterschiedlichen Gebrauch von Zügen und nutzte dabei all die verschiedenen Assoziationen und Hintergründe gleichermaßen, wie es nur ein Meister seines Fachs kann.
Weitere Markenzeichen Ozus:
Teil I – Sackleinen
Teil II – Trocknende Wäsche
Original: Ochazuke no aji (1952) von Yasujiro Ozu
Zwischen den „Großen Drei“ seiner Noriko-Trilogie, deren dominierendes Thema die Abkopplung der Kinder von den Eltern ist, drehte Ozu zwei Filme, die sich mit den Problemen von Ehepaaren beschäftigen. Der erste, The Munekata Sisters, ist wohl eines der am wenigsten bekannten Werke Ozus, ob zu Recht kann ich nicht beurteilen. Den zweiten, unmittelbar vor Tokyo Story gedrehten, will ich heute vorstellen.
Taeko (Michiyo Kogure) ist wohlhabend, reichlich versnobt und mit ihrer Ehe unzufrieden. Ihren Mann Mokichi (Shin Sabure) verspottet sie vor ihren Freundinnen, gibt ihm lächerliche Spitznamen und vergleicht ihn mit einem trägen, dümmlichen Karpfen. Mokichi, dem der Zustand seiner Ehe durchaus bewusst ist, ist aber viel zu gutmütig, um sie in die Schranken zu verweisen. Auch gegenüber seiner Nichte Setsuko (Keiko Tsushima) ist er sehr nachgiebig und erlaubt ihr, ihn zum Fahrradrennen zu begleiten, obwohl sie eigentlich einen potenziellen Bräutigam treffen sollte.
Für Setsuko ist die Ehe von Taeko und Mokichi ein abschreckendes Beispiel, sie will auf keinen Fall einen Mann heiraten, den ihre Familie für sie aussucht, sondern einen den sie wirklich liebt. Mit ihrem aufsässigen Verhalten sorgt sie jedoch unbewusst für eine weitere Zuspitzung in der Ehekrise der beiden, in der es schließlich wegen einer alltäglichen Kleinigkeit zum offenen Konflikt kommt: Taeko verreist für einige Tage.
Genau zu diesem Zeitpunkt erfährt Mokichi von seiner umgehenden Versetzung nach Uruguay. Taeko kehrt erst nach seinem Abflug zurück und wie sie allein in dem großen Haus sitzt, wird ihr klar, wie sehr Mokichi ihr fehlt. Da steht er plötzlich in der Tür – das Flugzeug musste wegen technischer Probleme umkehren – und die beiden essen gemeinsamen mitten in der Nacht eine schnell improvisierte Portion Reis mit grünem Tee und Taeko verliebt sich nach all den Jahren Ehe endlich in ihren Mann.
Ozu verlagert den Schwerpunkt immer wieder geschickt zwischen den beiden zentralen Konflikten des Films, der Ehekrise auf der einen und Setsukos Streben nach Selbstbestimmung auf der anderen Seite. So werden beide Varianten, die traditionelle, arrangierte Ehe und die unkonventionelle Liebesheirat beleuchtet. Lange sind dabei die Sympathien klar verteilt, bis sich Mokichi und Taeko überraschend versöhnen und in der letzten Szene mit Setsuko und ihrem „Auserwählten“ Noboru vorsichtig angedeutet wird, dass auch Liebesehen nicht vor Krisen und Streit gefeit sind.
Damit hätte Flavor of Green Tea over Rice über weite Strecken auch gut von einem Mikio Naruse sein können (wenn dieser wohl auch eher Taeko statt Mokichi in die „Opferrolle“ gesteckt hätte), aber das versöhnliche Ende und die Rehabilitation der traditionellen, arrangierten Ehe ist dann doch ganz Ozu. Besonders wie dieses inszeniert ist, ist typisch für den Meister: Zuerst sehen wir Taeko allein in dem Zimmer, in dem ihr Mokichi wenige Tage zuvor noch zu erklären versucht hatte, warum er manche Dinge ganz anders sieht als sie. So entsteht eine ausgeprägte Parallele, die ihre völlig unterschiedlichen Gemütsauffassungen und die daraus folgende Erkenntnis betonen. Im oberen Screenshot ist sie ganz die eingebildete, sture und von ihrer Überlegenheit überzeugte Frau, später fühlt sie sich einsam, allein und verunsichert.
Dass die eigentliche Versöhnung dann über einem Nachtmahl mit dem aus Tee und Reis bestehenden Armeleute-Essen Ochazuke erfolgt, das mit seinen Basiszutaten Reis und grünem Tee wie kaum ein anderes symbolhaft für die japanische Kultur und Tradition steht, betont natürlich die Sympathie, die trotz allem der traditionellen Ehe entgegengebracht wird. Zudem hatte Ozu bereits in Später Frühling sehr stark mit Symbolen gearbeitet (Noh, Teezeremonie, shintoistische Hochzeit), und damit einen Kontrapunkt zur rasanten Modernisierung nach dem Krieg gesetzt.
Man kann die symbolhafte Verwendung von Ochazuke aber auch anders deuten: Dass Ozu es nämlich auf die Parallele zum Eheleben abgesehen hat, das genauso fad und eintönig sei wie Reis mit grünem Tee, eine Aussage, die sich in ähnlicher Form immer wieder in seinen Filmen findet. Was besonders vor dem Hintergrund, dass Ozu nie verheiratet war, besonders interessant ist. Also durch und durch ein typischer Ozu, dessen Happy End aber vielleicht ein bisschen zu harmonisch und optimistisch geraten ist.