2 Mai
Gerade habe ich Ozus Good Morning gesehen, eine Art Remake seines eigenen Klassikers I was born but… aus dem Jahre 1932. Und ich wurde im Lauf des sehr amüsanten Films doch ein bisschen ungeduldig. Denn die Handlung, in der es einige Verwirrungen um den Kauf einer Waschmaschine gibt und in der ein Junge mit Durchfall ständig frische Unterwäsche braucht, bietet reichlich Anknüpfungsmöglichkeiten für die übliche trocknende Wäsche. Dass die zu einem Ozu-Film gehört wie Tore zum Fußball, hatten wir neulich schon festgestellt.
Tja, und dann sitze ich da und warte und warte aber keine Wäsche, nirgends! Der Film ist übrigens recht „vulgär“, jedenfalls verglichen mit den sonst so traditionsbewussten und vornehmen Werken Ozus. Da gibts ein paar Jungs, die Furzwettbewerbe zelebrieren und überhaupt ziemlich aufsässig sind, weil sie keinen Fernseher bekommen. Am Ende ist die Glotze dann doch da, die Herkunft der Waschmaschine ist geklärt und der unter Montezumas Rache leidende Junge steht mal wieder ohne Unterhose da… und dann ist der Film eigentlich schon vorbei, und in der allerletzten Einstellung ist sie endlich da, in ihrer ganzen Pracht, die Wäsche:
12 Mrz
Original: Banshun (1949), von Yasujiro Ozu
In seinem dritten Nachkriegsfilm, dem Auftakt der sogenannten Noriko-Trilogie, lässt Ozu die Kriegsereignisse (die seine beiden vorherigen Filme sehr stark geprägt hatten) hinter sich und legte den Grundstein für alle seine weiteren Werke.
Die 27jährige Noriko (Setsuko Hara) und ihr verwitweter Vater Shukichi (Chishu Ryu) leben harmonisch zusammen und haben eine sehr enge Bindung. Doch Shukichi ist sich bewusst, dass es für Noriko an der Zeit ist, zu heiraten. Die will davon aber nichts wissen, teils weil sie ihren Vater nicht allein lassen will, teils auf Grund abschreckender Beispiele wie ihrer geschiedenen Freundin Aya (Yumeji Tsukioka). Erst als Shukichi sanften Druck ausübt und beginnt, für sich selbst eine erneute Ehe in Betracht zu ziehen, kann er Noriko von einer Heirat überzeugen.
Der entscheidende Moment des Films ist ein Gespräch zwischen den beiden auf ihrer Abschiedsreise nach Kyoto. Obwohl Noriko der Hochzeit bereits zugestimmt hat, bekommt sie während der Reise Zweifel daran, ob sie in einer Ehe ähnlich glücklich sein könnte wie im Leben mit ihrem Vater und will ihre Entscheidung zurücknehmen. In einem langen Monolog (wie ich ihn selten bei Ozu gesehen habe) macht Shukichi deutlich, dass Glücklichsein einem nicht gegeben wird, sondern dass man es sich erarbeiten muss, gerade in einer Ehe. Denn in deren Zentrum stünde nicht das Glück, sondern der Neubeginn eines gemeinsamen Lebens, über das man dann den Weg zum Glück finden könne.
Damit bringt er eine der zentralen Botschaften des Films auf den Punkt, nämlich die, welche sich mit dem großen Thema Ehe befasst. Ozu beleuchtet dieses in Später Frühling aus einer Reihe von Perspektiven: Vorneweg natürlich Noriko, die eine Hochzeit zwar vage mit Glück assoziiert, aber andererseits auch vor der dadurch hervorgerufenen Veränderung in ihrem Leben zurückschreckt. Dann ihre Freundin Aya, die ein sehr pragmatisch-modernes Verhältnis zur Ehe hat und Noriko rät, sich einfach scheiden zu lassen, wenn ihr Mann nicht spurt.
Shukichi sieht die Ehe dagegen als eine schlichte Notwendigkeit um sicherzustellen, dass Noriko für den Fall seines Todes gut versorgt ist. In seiner traditionellen Sicht geht er davon aus, dass Mann und Frau sich zusammenraufen und sich das Glück erarbeiten. Alle diese Ansichten stehen gleichberechtigt nebeneinander, auch wenn am Ende Noriko in eine traditionell arrangierte Ehe einwilligt, die für sie die richtige Variante sein mag, womit sich aber keine universelle Wertung verbindet.
Das zweite große Thema des Films ist die Loslösung der Kinder von ihren Eltern, in diesem Fall der Tochter vom Vater. Die Hochzeit von Noriko ist trotz der damit für sie verbundenen Selbstüberwindung im Kern positiv, da ein Aufbruch zu etwas Neuem. Dem Abschied der Kinder dagegen haftet nichts positives an: Die traurig-melancholische Schlussszene des Films, in der Shukichi erschöpft in das nun leere Haus heimkehrt, allein am Tisch sitzend einen Apfel schält und dann stumm in sich zusammensinkt, bevor der Film mit einem Bild der Meeresbrandung endet, ist einfach herzzerreissend!
Typisch für Ozu, aber so auffallend wie in kaum einem anderen seiner Filme, sind die Auslassungen entscheidender Handlungselemente. Das beginnt mit dem arrangierten Date, bei dem Noriko ihren Zukünftigen kennenlernen soll, das Thema vieler Gespräche ist, sich aber off-screen ereignet. Der ganze Rest des Films läuft dann auf Norikos Hochzeit als Höhepunkt zu, aber als diese dann bevorsteht und Noriko sich im Hochzeitskleid von ihrem Vater verabschiedet, schneidet Ozu statt zu der Zeremonie in eine Bar, in der sich Shukichi und Aya anschließend unterhalten. So haben wir Norikos Bräutigam im ganzen Film nicht ein einziges Mal zu Gesicht bekommen, obwohl die ganze Zeit über ihn geredet wird!
Dazu passt natürlich Ozus anekdotischer Erzählstil, der sich weniger an einem roten Handlungsfaden orientiert als vielmehr an für die Charakterausformung entscheidenden einzelnen Gesprächen und kleinen, alltäglichen Ereignissen. Ebenfalls typisch sind die kaum vorhandenen zeitlichen Bezüge, was es dem Zuschauer nahezu unmöglich macht, die Dauer der Handlung einzuschätzen (es könnten ein paar Monate, genausogut aber auch nur 14 Tage sein).
Auch die weiteren bekannten Elemente seiner Filme sind alle vorhanden, von der niedrigen Kamera über die ungewöhnliche Nutzung des Raums, die überleitenden Stillleben, die familienbezogene Thematik bis zu der Verengung des Bildes und den altbekannten Mitwirkenden – nicht zu vergessen die trocknende Wäsche. Wobei Setsuko Hara hier eine ungewöhnlich lebendige, fast jugendlich-naive Noriko gibt, im Gegensatz zu den eher gereiften Frauenrollen die sie sonst bei Ozu übernahm. Etwas ungewöhnlich erschienen mir auch einige Szenen im Freien (ein Spaziergang und ein Fahrradausflug), in denen für Ozu ungewöhnliche Kamerafahrten zum Einsatz kamen.
Und dann gibt es in Später Frühling noch ein Motiv, das sich durch den ganzen Film zieht: japanische Traditionen und Zeremonien. Gleich die Eröffnungssequenz beginnt mit einer Teezeremonie (siehe den obigen Screenshot), später besuchen Noriko und Shukichi eine Noh-Vorstellung, die ausführlichst gezeigt wird. Dann die Reise nach Kyoto, bei der Vater und Tochter japanische Wahrzeichen wie den Kiyomizu-Tempel und den berühmten Steingarten von Ryoan-ji besuchen und natürlich am Ende die traditionelle Hochzeit.
So ganz weiß ich nicht, wie ich das einordnen soll, dazu kenne ich mich mit der Bedeutung dieser Zeremonien und besonders des Noh-Stückes nicht aus. Aber ich könnte mir denken, dass Ozu damit vier Jahre nach Kriegsende und nach Filmen, die einen starken Bezug zum Krieg und seinen Folgen hatten, symbolisch wieder in die „japanische“ Normalität zurückkehren und die Bedeutung japanischer Traditionen angesichts des raschen gesellschaftlichen Wandels unter der amerikanischen Besatzung herausstreichen wollte. Somit sehe ich den Film in einem Subtext auch als politisches Statement.
Überhaupt ist Später Frühling für mich persönlich der Film aus Ozus Werk, der mich bisher am tiefsten berührt hat. Zusammen mit all den anderen bereits angesprochenen Punkten macht ihn das für mich definitiv zu einem seiner herausragendsten Werke neben Tokyo Story.
Yasujiro Ozu wurde nicht zuletzt wegen seines außergewöhnlichen, unverkennbaren Stils zu einer Ikone der japanischen Filmgeschichte. Gerne genannt werden etwa die niedrig positionierte Kamera, die Beschäftigung mit der (japanischen) Familie oder die besondere Nutzung des Raums welche im Widerspruch mit Hollywood-Konventionen steht. Zu diesen Markenzeichen gehören jedoch auch ganz simple, wiederkehrende Motive, und eines davon möchte ich heute vorstellen.
So gut wie jeder Film Ozus enthält eine Ansicht von zum Trocknen aufgehängter Wäsche. Bereits in seinen frühen Filmen der 30er Jahre, wie etwa in A Story of floating Weeds aus dem Jahr 1934, taucht die trocknende Wäsche auf, hier noch eingebunden in den Kontext der Handlung (die Schauspieltruppe hat Waschtag und plaudert nebenbei über Glück und Unglück):
Auch in Record of a tenement gentleman von 1947 besteht noch ein Bezug des im Wind trocknenden Futons zur Handlung, in der ein bettnässender Junge von einer älteren Frau aufgenommen wird.
In den späteren Filmen dienen die Ansichten der trocknenden Wäsche dann ausschließlich als überleitende, Kontext etablierende sowie Stimmung und Atmosphäre vermittelnde Einschübe. Beispiele wären…
Tokyo Story (1953):
Early Spring (1956):
An Autumn Afternoon (1962):
Wie diese Abfolge an Screenshots zeigt, nutzt Ozu dieses wiederkehrende Element seiner Filme, um auf den Wandel Japans hinzuweisen und die Veränderungen im Leben der Menschen anzudeuten bzw. zu unterstreichen. In den frühen Filmen, vor dem japanischen Wirtschaftswunder, werden fast immer auf hölzernen Gerüsten hängende, einfache weiße Unterwäsche oder Yukatas in diesen Ansichten gezeigt. Diese werden zum Ausdruck der einfachen Lebensweise der Charaktere und der Zuschauer gleichermaßen.
In seinen späteren Filmen dagegen greift er den gewachsenen Wohlstand auf (beispielsweise auch, indem seine Charaktere plötzlich Golf spielen). Entsprechend verlagert Ozu in An Autumn Afternoon, dem letzten Film vor seinem Tod, die Wäsche auf Hochhausbalkone. Sie hängt jetzt auch nicht mehr auf Holzgerüsten sondern auf Plastikstangen und bildet ein buntes Durcheinander aus allerlei Tüchern, Hemden, Unterwäsche.
Es handelt sich also nicht nur um eine witzige Marotte (wie etwa die kurzen Auftritte Hitchcocks in seinen eigenen Filmen), die keinen tieferen Zweck verfolgt, sondern um ein Motiv, das sich im Lauf der Zeit mit den Filmen verändert und damit auch die Entwicklung der Gesellschaft und ganz Japans aufgreift und transportiert.
Weitere Markenzeichen Ozus:
Teil I – Sackleinen
Teil III – Zugfahrten
Wieder einmal bietet Criterion mit seiner Eclipse Series einen Überblick über eine bestimmte Schaffensphase eines japanischen Regisseurs: Nach Postwar Kurosawa und Late Ozu folgt demnächst, am 22. April, eine neue Ausgabe mit Stummfilmen Yasujiro Ozus: Silent Ozu, bestehend aus drei Werken, mit denen Ozu wesentlich zur Ausformung und Etablierung des Shomingeki-Genres beitrug.
Die Edition enthält Tokyo Chorus (1931), I was born but… (1932) und Passing Fancy (1933), für die jeweils komplett neue musikalische Begleitung von Donald Sosin komponiert wurde. Es handelt sich dabei um einige der bekanntesten Filme aus Ozus früher Schaffensphase, in der er zwischen Komödie, Romanze und Familiendrama schwankte und in der sich langsam sein filmischer Ansatz herauskristallisierte, der dann mit A Story of Floating Weeds erstmals konkrete Gestalt annahm.
Ein wahres Juwel also, das einen wichtigen Einblick in die Entwicklung des Regisseurs geben sollte. Für 33,69 US-Dollar kann das Set bei Amazon jetzt schon vorbestellen, was sogar günstiger als im Criterion Shop selbst ist (da Criterion nur in Nordamerika ausliefert, fällt diese Option für unsereiner aber sowieso weg). Für den Ozu-Aficionado ein absolutes Muss!
4 Feb
Original: Tokyo monogatari (1953), von Yasujiro Ozu
Tomi (Chieko Hagashiyama) und Shukishi (Chishu Ryu), ein älteres Ehepaar, reisen aus der Provinz nach Tokyo, um ihre Kinder und Enkelkinder zu besuchen. Nach der anfänglichen Freude und Begeisterung anlässlich des Wiedersehens müssen die beiden bald erfahren, dass ihre Kinder angesichts der Arbeit und ihrer eigenen Familien kaum Zeit und Geduld haben, sich mit den beiden Alten abzugeben. Nur ihre verwitwete Schwiegertochter Noriko (Setsuko Hara) ist sehr bemüht und kümmert sich rührend um die Besucher.
Nach dem Besuch eines Seebads, wo Tomi einen Schwächeanfall erleidet, machen sich die beiden wieder auf die Heimreise, die sie jedoch in Osaka bei ihrem jüngsten Sohn wegen eines erneuten Anfalls unterbrechen müssen. Kaum sind sie zuhause angelangt, fällt Tomi ins Koma und stirbt wenig später. Die Familie kommt erneut zusammen, um von der Mutter Abschied zu nehmen.
Für einen Film mit 135 Minuten Lauflänge ist das eine, na sagen wir, nicht gerade dicht gedrängte Handlung. Doch die Handlung ist für Yasujiro Ozu nicht das zentrale Organisationsprinzip seiner Filme, was Tokyo Story idealtypisch aufzeigt. In fast allen seiner Filme geschehen oberflächlich gesehen völlig alltägliche und normale Dinge, die bei genauer Betrachtung aber an tiefe Gefühle rühren. So auch hier: Ein Familientreffen; kleinere Streitigkeiten unter Verwandten; Kinder, die sich von ihren Eltern entfremden; Eltern, die genau darüber enttäuscht sind; Trauer und Umgang mit dem Verlust eines geliebten Menschen. Der Lauf des Lebens eben.
Doch schon so mancher Regisseur ist daran gescheitert, den Lauf des Lebens in 135 Minuten zusammenzufassen. Und Ozu zeigt diesen nicht nur aus der Perspektive der beiden Alten. Er setzt sich auch mit der Gefühlswelt der trauernden Noriko, der nahegelegt wird, wieder zu heiraten, den Nöten der Kinder und der Enttäuschung der noch bei den Eltern lebenden jüngsten Tochter Kyoko (Kyoko Kagawa) angesichts ihrer nach dem Tod der Mutter rasch in den Alltag zurückkehrenden älteren Geschwister auseinander.
Dabei wahrt Ozu immer die Distanz, wird nie wertend oder schwingt lehrerhaft den Zeigefinger. Jede Generation hat ihre eigenen Bedürfnisse, Nöte und Herausforderungen und muss ihren eigenen Weg finden und gehen. Daran ist nichts Gutes oder Schlechtes, es ist einfach der Lauf des Lebens, und sich darüber zu grämen oder zu jammern ist sinnlos und verursacht nur Magengeschwüre. Für diese Einsicht stehen besonders Shukishi und Noriko.
Am Anfang des Films sehen wir ihn mit seiner Frau Tomi beim Packen, eine Nachbarin schaut vorbei und wünscht eine gute Reise. Dieses Bild Shukichis, vor einem Fenster sitzend, wird später im Film wiederholt auftauchen. Zunächst wieder zusammen mit Tomi, doch dann er allein, während sie draußen mit ihrem Enkel spielt und dabei über ihren Tod sinniert. Damit deutet Ozu vorsichtig bereits die letzten Szenen des Films an, als Shukichi wieder zuhause vor dem Fenster sitzt, nach Tomis Tod, für immer allein. Wieder schaut die Nachbarin vorbei, diesmal, um ihr Beileid auszudrücken.
So verlassen wir Shukichi in fast exakt derselben Szene, in der wir ihm zuerst begegnet sind, nur dass er nun dem Rest seines Lebens allein entgegen sehen muss. Doch er trägt dieses Schicksal mit Fassung, fast stoisch, und nutzt die Gelegenheit der Trauerfeier, um der angereisten Noriko noch einmal nahezulegen, wieder zu heiraten und den Kreis des Lebens erneut in Gang zu setzen.
Noch deutlicher bringt Noriko es auf den Punkt. Auf Kyokos Enttäuschung über die älteren Geschwister, die sich nach der Trauerfeier rasch auf den Rückweg nach Tokyo machten, erwidert sie dieser, dass diese nunmal ihr eigenes Leben hätten und es nur logisch wäre, dass für sie daher die Eltern nicht mehr im Zentrum stünden. Auf Kyokos verärgerten Ausruf „Ist das Leben nicht enttäuschend!?“ antwortet Noriko lächelnd: „Ja, das ist es.“ Dieser Ausdruck der Erkenntnis und fast freudiger Akzeptanz des Schicksals ist nicht zuletzt dank Setsuko Hara der Höhepunkt des Films, und eine der eindringlichsten Szenen in einem Ozu-Film überhaupt.
Wie nebenbei erreichte Ozu mit Tokyo Story auch noch den Höhepunkt (Achtung, ich kenne noch lange nicht alle seine Filme, aber die bekannteren) seines im Weltkino wohl einzigartigen, in sich geschlossenen und stringenten Stils, der sich keineswegs in ästhetischen Aspekten erschöpft, auch wenn diese eine wichtige Rolle spielen, siehe seine Kameraführung, sondern konzeptionell sehr viel breiter aufgestellt ist. Dazu gehören insbesondere sein außergewöhnlicher Umgang mit Raum und Zeit.
Dass er auf Kontinuität der dargestellten Handlung nicht allzuviel Wert legt, wird in Tokyo Story gleich mehrfach deutlich: Die Reise nach Tokyo selbst, inklusive eines Zwischenstops in Osaka sowie die Erkrankung Tomis auf der Rückreise werden komplett ausgeklammert. Die Bedeutung der Narration als ordnendes Element eines Films schwächt er weiter ab durch fehlende zeitliche Bezüge: Außer bei der Organisation der Trauerfeier gibt es für uns Zuschauer kaum eine Möglichkeit, einzuschätzen, wieviel Zeit verstreicht.
Als ob dies nicht verwirrend genug wäre, spielt Ozu permanent mit räumlichen Verhältnissen. Ein Mittel sind die überleitenden Stilleben, die er zum einen nutzt, um Orte der Handlung zu etablieren, aber auch, um mit geweckten Erwartungen zu spielen. Bestes Beispiel dafür ist die beschriebene Eingangsszene, in der Tomi und Shukichi sich über den Verlauf ihrer Reise unterhalten und den Zwischenstop in Osaka erwähnen. Nach dem Gespräch sehen wir verschiedene Szenen einer Großstadt und ihrer Vororte und erwarten logischerweise, dass Osaka nun der Handlungsort ist. Stattdessen sind wir schon in Tokyo, die Reise wurde übersprungen und die doppeldeutigen Stillleben verstärken unsere Überraschung noch zusätzlich.
Die auffälligste Art der Raumbehandlung bei Ozu ist jedoch seine Verwendung eines 360-Grad Raums statt des sonst üblichen 180-Grad Raums. Er bewegt die Kamera ohne die sonst üblichen Kontinuitäts-Einschränkungen (die dafür sorgen sollen, dass der Zuschauer sich leicht orientieren und problemlos der Handlung folgen kann) frei im Raum. Die untere Zusammenstellung von neun direkt aufeinanderfolgenden Einstellungen bzw. Schnitten innerhalb einer Szene macht dies deutlich (Ablauf in Zeilen wie beim Lesen).
Wir sehen Noriko und die sie besuchenden Schwiegereltern, Blick auf Noriko. Der normale Ablauf wäre nun, immer einen oder zwei über die uns zugewendete Schulter der jeweils anderen Person zu zeigen, damit die Sitzpositionen, Blickrichtungen und der Hintergrund derselbe bleiben und der Zuschauer nicht verwirrt wird. Doch Ozu springt unvermittelt auf die gegenüberliegende Seite des Raums, wir sehen nun Noriko von hinten und Tomi und Shukichi „tauschen“ die Plätze und der Hintergrund ist komplett ausgetauscht. Im Verlauf des Gesprächs sehen wir die Darsteller jeweils frontal, und am Ende springen wir noch zweimal auf die andere Seite des Raums. Jedes der neun Einzelbilder könnte für sich genommen einer komplett anderen Szene zugehören, es gibt für den unbedarften Betrachter kaum eine Möglichkeit, diese zueinander in Bezug zu setzen.
Neben der sensiblen Auseinandersetzung mit dem Verfall familiärer Beziehungen, dem Umgang mit dem Alter, Tod und Verlust bietet Tokyo Story also auch noch ein filmisches Selbstverständnis, das regelrecht als alternativer Ansatz zu den gängigen Konventionen verstanden werden kann. Nicht umsonst wird Tokyo Story seit Jahrzehnten von Filmkritikern und -theoretikern mit schöner Regelmäßigkeit zu den besten Filmen in der Geschichte des Kinos gerechnet.
14 Jan
Original: Ukigusa monogatari (1934), von Yasujiro Ozu
Eine wandernde Theatertruppe unter Leitung des alternden Schauspielers Kihachi (Takeshi Sakamoto) kommt in eine kleine Stadt auf dem Lande. Dort lebt seine frühere Geliebte Otsune (Chouko Iida) mit ihrem gemeinsamen Sohn Shinkichi (Koji Mitsue), mit denen Kihachi nun viel Zeit verbringt. Die beiden verschweigen Shinkichi jedoch die Identität seines Vaters und machen ihn glauben, dieser wäre schon lange tot.
Als Kihachis derzeitige Geliebte Otaka (Rieko Yagumo), Schauspielerin und Mitglied der Truppe, von Kihachi „Familie“ erfährt, wird sie eifersüchtig. Es kommt zum Streit mit Kihachi und aus Ärger über ihn bezahlt sie ihre Kollegin Otoki (Yoshiko Tsubouchi), Shinkichi zu verführen. Die beiden verlieben sich jedoch auf Anhieb ineinander, der Konflikt mit Kihachi, der sich für seinen Sohn eine bessere Zukunft als das Leben eines fahrenden Schauspielers wünscht, wird unausweichlich.
Besonders ins Auge gestochen ist mir Takeshi Sakamoto, der zuvor bereits in einigen Filmen Ozus mitgewirkt hatte und bis Ende der 40er Jahre zu dessen festem Stamm an Schauspielern gehörte, in der Rolle des Kihachi. Wie er dessen Charakter zum Leben erweckt und ausformt, ist wirklich ganz wunderbar! Angesichts dessen, dass es sich um einen Stummfilm handelt, bediente er sich dabei einer Reihe von kleiner Gesten und Manierismen, etwa, dass Kihachi sich ständig kratzt, mal im Gesicht, am Rücken, am Hintern oder wie hier im Screenshot am Oberschenkel. Auch dieses Tuch auf seinem Kopf trägt er ständig mit sich herum, reibt sich damit den Schweiß aus dem Gesicht oder fächelt sich Luft zu.
So entsteht ein sehr lebendiges Bild eines einfachen Mannes, der sich im Umgang mit Menschen oft etwas unwohl fühlt, wozu auch seine Rückgriffe auf Gewalt passen, denn er ohrfeigt Otaka mehrfach heftig für ihre Intrigen, und auch Otoki und Shinkichi bekommen seine Hand zu spüren. Sein gutes Herz und die väterliche Liebe zu Shinkichi veranlassen ihn dann aber doch dazu, den jungen Leuten ihren Willen zu lassen. So gibt er Otoki und Shinkichi seinen Segen, bevor er sich – gemeinsam mit Okata, mit der er sich versöhnt – wieder auf die Wanderschaft macht, um die kleine Familie nicht zu belasten.
Seine eigene Sehnsucht nach einer Familie und dem Zusammensein mit seinem Sohn bleibt dabei tragisch unerfüllt, er bleibt im Leben des ewigen Vagabunden gefangen. Dies verdeutlicht besonders die letzte Szene des Films: Kihachi und Okata sitzen im Zug und begießen mit einem Glas Sake ihre Versöhnung. Kihachi gegenüber schläft ein kleiner Junge, den er lange und sehnsüchtig anstarrt. Doch er ist nicht für eine feste Familie geschaffen, sein Schicksal ist es, wie das Gras im Titel ziellos im Strom des Lebens zu treiben.
Ozus komödiantische Wurzeln sind in A Story of Floating Weeds unübersehrbar und lockern die Handlung sehr viel stärker auf, als ich dies aus seinen berühmten Nachkriegsfilmen wie Tokyo Story kenne. Obwohl sein unverkennbarer Stil natürlich noch lange nicht voll entwickelt ist sind fast alle Elemente dennoch bereits vorhanden, wenn auch noch nicht so klar herausgearbeitet und konsequent eingesetzt.
Ein Beispiel wäre die Verwendung der Kamera, die einerseits meist die typische niedrige Position einnimmt, aber andererseits bei weitem noch nicht so statisch wirkt wie in den späteren Filmen. So gibt es einige Kamerafahrten, etwa durch die Zuschauer bei einer Theatervorstellung, und auch die Schnitte erfolgen für einen Film der dreißiger Jahre sehr schnell, was dem Film einerseits Dynamik verleiht und ihn andererseits für 1934 sehr modern erscheinen lässt.
Charakteristisch für Ozu – wenn hier auch nur ansatzweise vorhanden – ist die Verwendung von Ellipsen, bei denen eine angekündigte Handlung nicht im Bild gezeigt wird. Das wohl prominteste Beispiel dafür wäre die Szene, in der Otaka von Kihachis „familiären Verpflichtungen“ erfährt und sie dem Schauspieler, der diese versehentlich erwähnte, Geld für weitere Auskünfte bietet. Ozu schneidet hier von der den Geldbeutel zückenden Otaka direkt in das Gasthaus, in dem Kihachi mit seinem Sohn Schach spielt und wo gleich darauf Otaka auftaucht.
Allgegenwärtig sind jedoch bereits die überleitenden Schnitte mit Ansichten von Alltagsgegenständen, Gebäudeansichten oder Landschaften, die sehr an Stillleben erinnern und die Ozu regelmäßig nutzt, um zwei Szenen zu verbinden, einen Ortswechsel einzuleiten oder das Vergehen der Zeit anzudeuten. In Story of Floating Weeds nutzt er dazu besonders häufig Shinkichis Fahrrad, das im Lauf des Films regelrecht zu einem Platzhalter für Shinkichis Gegenwart wird.
Letztlich endet der Film, wie er begann: Am Bahnhof, mit einer Zugfahrt, einer Reise. So umrahmt Ozu diese kleine aber feine Familiengeschichte, die voller Parallelen, vieler Details und liebevoll gestalteter Charakter steckt. Die 2004 extra für die Criterion DVD eingespielte, die Handlung wunderbar einfühlsam und lebendig begleitende Klaviermusik tut ihr übriges, um dieses Juwel aus der Findungsphase des großen Meisters voll und ganz zur Geltung kommen zu lassen.
Viele Kritiker und Cineasten schätzen Yasujiro Ozu als außergewöhnlichsten und herausragendsten japanischen Regisseur überhaupt. Eine wichtige Rolle spielt dabei sein unverkennbarer, nicht nur an ästhetischen Merkmalen orientierter sondern auch konzeptionell und thematisch einzigartiger Stil. Gerne genannt werden etwa die niedrig positionierte Kamera, die Beschäftigung mit der (japanischen) Familie, die besondere Nutzung des Raums welche im Widerspruch mit Hollywood-Konventionen steht und vieles mehr. David Bordwell bezeichnet Ozus Filme gar als einen kompletten Gegenentwurf zum „klassischen“ Hollywood-Kino.
So ist es vielleicht verständlich, dass ich einen Heidenrespekt vor seinen Filmen hatte und diese bisher nicht gebloggt habe, auch wenn Tokyo Story neben Rashomon und den Miyazaki-Filmen das Feuer meiner Faszination für japanische Filme ursprünglich mit angefacht hat. Als Einstieg in das Thema Ozu und um an einem ganz simplen Beispiel einen ersten Eindruck zu vermitteln, was seine Filme so einzigartig macht, möchte ich heute die Titelsequenzen heranziehen.
Der Screenshot zeigt den Titel des 1934 entstandenen Films A Story of Floating Weeds, im Original Ukigusa monogatari. Die gesamten Credits der Beteiligten werden genau wie der Titel vor dem Hintergrund eines simplen Stückes Sackleinenstoff gezeigt. In seinen zuvor gedrehten Filmen wie Passing Fancy oder I was born, but… dienten jedoch comic-hafte Zeichnungen als Hintergründe für die Titel. Ozu schafft hier also einen starken Gegensatz und hebt den Film von Anfang an allein durch die Titelsequenz schon von seinen früheren Filmen ab.
Da A Story of Floating Weeds in einer ländlichen Kleinstadt spielt, unterstreicht er durch diesen Gegensatz zunächst wunderbar die Atmosphäre des Films. Insofern könnte man das Sackleinentuch einfach als konsequentes Mittel zur Abrundung und Ergänzung des Erscheinungsbilds dieses speziellen Films abtun. Aber Ozu machte diesen Auftakt zu einem festen Bestandteil für seine nachfolgenden Filme und somit zu einem Markenzeichen für sein Werk ganz generell!
Record of a tenement Gentleman (1947):
Tokyo Story (1953):
Early Spring (1956):
Floating Weeds (1959):
Die Umstellung auf Farbfilme brachte nur eine kleine Veränderung, nämlich dass manche Schriftzeichen in Rot gefasst wurden. Am schlichten Erscheinungsbild und Auftakt der Filme änderte sich sonst nichts. Bis zu seinen letzten Filmen kurz vor seinem Tod im Jahr 1963, behielt Ozu das Motiv des Sackleinenstoffes bei, und das, obwohl zu dieser Zeit seine Filme schon lange nicht mehr die einfache Atmosphäre des Landlebens wiedergaben, sondern meist im mittelständischen Milieu von Großstädten spielten.
Daher wird der mit A Story of Floating Weeds vollzogene Wechsel zum Sackleinen heute oft als ein Signal Ozus interpretiert, dass er mit diesem Film „sein“ Kino gefunden hatte, dem er dann bis zum Schluss treu blieb. So findet sich auch in seinem vorletzten Film The End of Summer (1961) das wohlbekannte Titelbild:
Das nenne ich Konsequenz!
Weitere Markenzeichen Ozus:
Teil II – Trocknende Wäsche
Teil III – Zugfahrten
In der Blogschau hatte ich neulich Criterion Confessions vorgestellt, jetzt stellt Autor Jamie an anderer Stelle die Eclipse Series 3 „Late Ozu“ aus dem Hause Criterion vor. Für mich ist dies die zum einen die Gelegenheit, noch einen Kauftipp für Weihnachten zu geben und zum anderen endlich meine Ozu-Kategorie einzuweihen, in der schon bald regelmäßig Beiträge kommen sollen.
Aber zurück zu „Late Ozu“: Das DVD-Set aus der Eclipse-Reihe, die in Klein-Retrospektiven jeweils Werke bestimmter Schaffensphasen von Regisseuren zusammenfasst, besteht aus 5 Filmen aus den letzten Jahren des 1963 verstorbenen Meisterregisseurs Yasujiro Ozu. Im Einzelnen handelt es sich um:
Jeden der Filme fasst Jamie in seiner Rezension der DVD-Box kurz zusammen und beurteilt auch die Qualität von Bild und Sound der DVDs, die durchweg gute bis sehr gute Noten bekommen (etwas anderes war von Criterion auch kaum zu erwarten). Wie bei allen anderen Boxen aus der Eclipse-Reihe fehlen aber jegliche Extras. Jamies Fazit:
Picking five thematically linked movies from the last years of Yasujiro Ozu’s career, they have created a primer of the great Japanese director’s work. These dramas about the bonds of family and the struggle between the generations as traditions pass away and social expectations change are all captivating, thoughtful creations. In a parallel line to the narrative themes, we see a change in style and skill as the veteran filmmaker also transitions from black-and-white to color. While some my gripe at the unadorned presentations, Late Ozu fulfills the Eclipse manifesto of creating a mini retrospective of films that might otherwise languish in the vaults waiting for a bigger release. Highly Recommended.
Das DVD-Set gibt es beispielsweise bei Amazon.com, dort für den Preis von 41,99 Dollar, was beim gegenwärtigen Umrechnungskurs fast geschenkt ist! Allerdings könnte es dann mit der rechtzeitigen Lieferung doch etwas eng werden…