21 Jan
In schöner Regelmäßigkeit bekomme ich E-Mails, in denen ich nach einem bestimmten japanischen Film gefragt werde, den man vor Jahren mal gesehen hat, supertoll fand aber dann leider inzwischen den Titel vergessen hat. Oft sind das Klassiker wie Rashomon, Die Sieben Samurai oder Die Frau in den Dünen, bei denen ich gleich weiß, welcher der gesuchte Film ist.
Vor ein paar Tagen hat mir nun allerdings Andre geschrieben. Er sucht einen Film über einen Koch im Ruhestand, der seine drei Töchter einmal im Jahr zu einem Festessen einlädt. Die wissen das aber nicht besonders zu schätzen, nur die Enkelin ist von den Kochkünsten ihres Großvaters begeistert.
Als ich Andres Beschreibung gelesen habe, hatte ich zuerst an Eat Drink Man Woman gedacht, aber die Enkelin passt da nicht rein, außerdem ist das ja kein japanischer Film. Hat sonst jemand eine Idee und kann Andre helfen?
19 Jan
Original: Orizuru Osen (1935) von Kenji Mizoguchi
An einem Bahnsteig auf den Zug wartend erinnert sich der wohlhabende Arzt Sokichi (Daijiro Natsukawa), wie er im Alter von 17 Jahren von der ihm völlig fremden Osen (Isuzu Yamada) vom Selbstmord abgehalten wurde. Osen gehörte zu einer Bande von Betrügern, die sie und ihre Schönheit als Lockvogel einsetzten; Sokichi wird als Dienstbote in die Bande aufgenommen und fortan von deren Mitgliedern permanent beleidigt, ausgebeutet und misshandelt. Angewidert von den immer skrupelloseren Plänen der Betrüger, die sogar vor Mönchen nicht halt machen, und hingezogen zu dem still leidenden Sokichi beginnt Osen, sich gegen die Bande aufzulehnen. Eines Tages nutzen die beiden eine Gelegenheit und verraten die Verbrecher an die Polizei.
Doch die Wende zum Guten ist trügerisch: Sokichi kann nun zwar endlich seinem Medizinstudium nachgehen, doch Osen, die für sein Studium und ein Dach über dem Kopf aufkommen muss, sieht keinen Ausweg als sich heimlich zu prostituieren. Als ein Freier Uhr und Geldbörse bei ihr vergisst und ihr vorwirft, diese gestohlen zu haben, wird sie verhaftet und von Sokichi getrennt, der in genau diesem Moment von einem Hilferuf aus seinen Gedanken zurück in die Realität auf dem Bahnsteig gerissen wird. Eine alte Prostitutierte ist ohnmächtig geworden – Sokichi erkennt sie sofort, es ist Osen!
Die Vergleiche zum 17 Jahre später entstandenen Das Leben der Frau Oharu, einem der ganz großen Meisterwerke Mizoguchis und des japanischen Kinos überhaupt, drängen sich förmlich auf. Dabei ist die ähnlich angelegte Story vom Abstieg einer Frau bei weitem nicht die einzige Parallele zwischen den Filmen, auch die auf Flashbacks basierende Erzählstruktur findet sich in beiden Werken.
Zudem gibt es einige Szenen, die fast wie Probeläufe für das spätere Meisterwerk wirken. So etwa die Einführung Osens: Wir sehen sie, wie sie sich auf der Flucht vor einem Bordellbesitzer (an den Sie von der Betrügerbande zum Schein verkauft wurde) hinter einem Baum versteckt und sich das Kopftuch zurecht rückt; eine fast identische Szene taucht auch in Oharu auf (man vergleiche den letzten Screenshot in der oben verlinkten Rezension mit dem unten abgebildeten).
Überhaupt ist in Osen mit den Papierkranichen der berühmte Mizoguchi-Stil unverkennbar. Die visuelle und konzeptionelle Entwicklung, die er und besonders seine beühmten Jidaigeki-Filme noch nehmen sollten, ist hier ganz klar vorgezeichnet und sein „one take – one scene“-Ansatz schon sehr weit entwickelt. Oft sind es allein die im Stummfilm notwendigen Zwischentitel, die eine Szene unterbrechen.
Schnitte versucht er so weit wie möglich zu vermeiden, sei es mittels Kameraschwenks die so schnell sind, dass sie fast wie Schnitte wirken (aber eben keine sind) oder seiner berühmten Kamerafahrten, die hier noch etwas wackelig sind, aber für die damalige Zeit wahrscheinlich überaus aufwändig und technisch anspruchsvoll waren. Sehr häufig wird auch innerhalb einer Szene die Hauptaufmerksamkeit durch Rearrangements der Charaktere oder Rahmung in kleinen Einheiten auf einen anderen Teil des Bildes verlagert – teilweise auch kombiniert mit Kamerabewegungen.
Was sich dagegen mit seinem späteren distanzierten Stil nicht verträgt und offenbar noch ein Kennzeichen des jungen Mizoguchi ist, sind die Großaufnahmen, speziell von Osen aber auch von Sokichi. Auch die dramatisch-ergreifende Schlusssequenz würde sich mit ihren visuellen Effekten nur schwer mit seinen späteren Filmen vertragen: Nachdem Sokichi die bewusstlose Osen vom Bahnsteig in ein Krankenhaus brachte, erfährt er, dass sie den Verstand verloren hat. Plötzlich springt sie vom Krankenbett auf und beginnt wahnhaft, den geliebten Sokichi ihrer Jugend gegen die Betrügerbande zu verteidigen und rettet ihn in ihrer Vorstellung auch erneut vor dem Selbstmord.
Wenn auch ungewöhnlich im Vergleich zu dem, was ich bisher von Mizoguchi gesehen habe, so ist dieser Einsatz von Spezialeffekten doch äußerst effizient und bringt die Botschaft des Films klar auf den Punkt: Osen hat ihr Leben so sehr der Aufopferung für Sokichi gewidmet, dass selbst in ihrer vom Wahnsinn geprägten Gedanken- und Traumwelt sich alles um ihn dreht und sie seine ewige Beschützerin ist. Sokichi dagegen sitzt beschämt daneben, war er doch nur dank Osens Opfer zu einem wohlhabenden Arzt geworden, ohne auch nur einmal den Versuch unternommen zu haben, ihr etwas zurück zu geben.
Osen mit den Papierkranichen ist in nahezu jeder Hinsicht – inhaltlich, stilistisch – ein direkter Vorläufer der großen Klassiker Mizoguchis aus den 1950ern über Frauen, die sich aus Liebe zu einem Mann in ein Leben voller Leiden und Entbehrung stürzen und ganz und gar aufopfern. Auch wenn hier vieles noch etwas ungelenk und unfertig wirkt und die Geschichte um die Betrügerbande etwas zu dominant dargestellt wird, hier liegen unübersehbar die Wurzeln eines der herausragendsten Regisseure des 20. Jahrhunderts!
17 Jan
Vor ein paar Wochen erst habe ich von meinen Sorgen über die Zukunft japanischer bzw. asiatischer Filmfestivals geschrieben, Anlass war damals die Info über das Aus für ein Filmfests in Lyon. Im Hinterkopf hatte ich außerdem schon das Barcelona Asian Filmfest (BAFF), über dessen 2010-Ausgabe es lange keine Neuigkeiten gab. Erst pünktlich zu Weihnachten kam dann die Nachricht, dass es vom 30. April bis 9. Mai stattfinden wird. Letztes Jahr hatte das BAFF eine beeindruckende Reihe japanischer Filme im Programm und ich hoffe, dass das auch in diesem Jahr wieder so sein wird, denn ich habe vor, hinzufliegen. 🙂
Außerdem habe ich gerade von Mustafa Görgün erfahren, dass dieses Wochenende (vom 15. bis 17. Januar) in Istanbul zum sechsten oder siebten Mal ein kleines japanisches Filmfest stattfindet. Organisiert wird es wohl von einer japanischen Kulturbehörde, der Eintritt ist sogar kostenlos! Die Macher scheinen sich an der Devise „klein aber fein“ zu orientieren, folgende sieben hochkarätigen Filme sind im Programm:
Es besteht also doch noch Hoffnung für die Filmfeste!
10 Jan
Die Blogschauen hab ich in 2009 etwas stiefmütterlich behandelt, das soll sich ändern! Denn Blogs über Filme, Japan und japanische Filme gibt es in den unendlichen Weiten des Internets immer wieder zu entdecken und regelmäßig sind echte Perlen darunter. Um dem Vorsatz gerecht zu werden, lege ich auch sofort los.
Die erste Blogempfehlung im neuen Jahr ist denn gleich ein ganz besonderes Projekt, sozusagen ein Konzeptblog: Alex, der auch hier ab und zu kommentiert, stellt unter dreams from the toho vault alle Godzilla-Filme vor! Er geht dabei streng chronologisch vor und orientiert sich – wie es auch bei der Serie üblich ist – an der japanischen Zeitrechnung der Kaiserepochen. Aktuell ist Alex, ausgehend vom Original-Godzilla von 1954, im Jahr 1967 und damit bei Son of Godzilla angekommen. Die Rezensionen sind ganz wunderbar zu lesen und machen richtig Spaß, auch wenn man mit den Monsterfilmen (wie ich) eher weniger anfangen kann. Der Blog enthält bisher ausschließlich Filmrezensionen sowie eine kleine Übersicht der Monster – ich persönlich würde mir wünschen, auch ein bisschen was über die Hintergründe zu erfahren. Vielleicht kommt das ja noch…
Beim zweiten Blog für heute handelt es sich ein bisschen auch um Eigenwerbung. Denn das Japanische Filmfest Hamburg, bei dem ich selbst mitwirke, hat seit Weihnachten einen eigenen Blog. Im JFFHblog wird das Filmfest-Team Einblicke in seine Arbeit geben, Neuigkeiten rund ums Filmfest bekanntmachen und Hintergrundinfos liefern. Neben dem JFFH selbst wollen wir aber auch japanische Kultur allgemein beleuchten sowie uns einfach von unserer persönlichen Seite zeigen. Aktuelles Highlight: Gerade eben habe ich zwei Mitschnitte einer Gesprächsrunde mit Sadao Nakajima vom vergangenen Jahr veröffentlicht. Unbedingt angucken! 😉
4 Jan
Original: Tokyo koshinkyoku (1929) von Kenji Mizoguchi
Nur 20 Minuten (von 80 bzw. 102 Minuten, je nach Quelle) sind noch von diesem Film erhalten – der angeblich der erste Tonfilm Japans werden sollte, was dann aber wegen technischen Problemen nicht umzusetzen war – was die Wiedergabe der Story etwas erschwert. So sind beispielsweise alle Szenen, in denen die von Takako Irie gespielte Sayuriko auftritt, verloren. Heute ist von dem Film noch die folgende Handlung nachvollziehbar.
Im hektischen Tokyo schlägt sich Michiyo (Shizue Natsukawa) grade so durch – sie lebt bei ihrem Onkel, ihre Mutter verstarb als Michiyo noch ein Kind war. Noch am Sterbebett hatte die Geisha ihre Tochter gewarnt, sich zu verlieben und nahm das Geheimnis um Michiyos Vater mit ins Grab. Eines Tages wird Yoshiki (Koji Shima), Sohn aus gutem Hause, auf Michiyo aufmerksam, verliebt sich vom Fleck weg in sie und schwört sich, sie aus ihrem harten Leben zu befreien. Doch er findet Michiyo nicht mehr, sie wurde als Geisha verkauft und trägt nun den Namen Orie.
Erst Monate später begegnet sie ihm erneut, als Orie unterhält sie Gäste auf einer Party. Die beiden sehen sich wieder und verlieben sich ineinander. Doch nicht nur Yoshiki fällt Orie auf, auch sein Kollege Sakuma interessiert sich für die Schönheit – und sein eigener Vater. Dieser ist nämlich zugleich der Vater Michiyos, dessen Identität ihre Mutter so gut verborgen hatte. So heiratet Michiyo schließlich Sakuma, während Yoshiki sich von den beiden Richtung Amerika verabschiedet.
Der Literatur zufolge spielten in Tokyo March ursprünglich Kritik an Standesunterschieden und den Lebensverhältnissen von Reich und Arm eine wichtige Rolle, davon ist in den heute noch erhaltenen Fragmenten wenig übrig geblieben. Allein zu Beginn des Films, als Michiyos ärmliche Verhältnisse geschildert und dem reichen, Tennis spielenden Yoshiki gegenübergestellt werden, ist diese Thematik präsent. Da mit Takako Irie eine weitere weibliche Hauptrolle existierte, die offenbar eine piekfeine Dame spielte, kann ich mir aber sehr gut vorstellen, dass Mizoguchi zwischen diesem Charakter und der verarmten, als Geisha verkauften Michiyo einen starken Kontrast aufgebaut und damit Kritik an den gesellschaftlichen Verhältnissen inszeniert haben könnte.
Die heute verbliebenen Fragmente zeigen hauptsächlich eine tragische Liebesgeschichte, eingerahmt von Bildern Tokyos aus den 1920er Jahren. Von den berühmten langen Einstellungen und Kamerafahrten aus Mizoguchis späteren Werken ist hier noch wenig zu sehen, kein Wunder, mussten in dem Stummfilm ja die Zwischentitel untergebracht werden, so dass ständige Schnitte notwendig waren. Auch die große Distanz, die Mizoguchi später zu den Darstellern halten würde, fehlt hier ganz, Nahaufnahmen werden häufig genutzt. Dafür wartet der Film mit einigen intelligenten Effekten und Perspektiven auf. Die oben bereits geschilderte erste Begegnung Michiyos mit dem Tennis spielenden Yoshiki wäre ein Beispiel dafür ebenso wie die Sterbeszene von Michiyos Mutter, mit dem Schatten der jungen Michiyo im Hintergrund.
Gerade sechs Jahre nach dem Beginn seiner Regiekarriere hatte Mizoguchi bereits mehr als 40 Filme geschaffen, Tokyo March ist der zweitälteste, von dem noch Fragmente erhalten sind. Wegen dieses fragmentarischen Charakters fällt es mir zwar schwer, den Film einzuordnen. Aber allein das schiere Alter und der allgegenwärtige Vergleich mit den späteren Meisterwerken Mizoguchis machen Tokyo March doch zu einem interessanten und faszinierenden Seherlebnis.
2 Jan
Prost Neujahr! Das hat sich wohl auch Amazon UK gedacht und haut gleich mal haufenweise japanische Filme günstig raus. Wie üblich gibt es leider keine Angebots-Überblicksseite oder derartiges, man muss einfach stöbern. Einige Beispiele, die mir untergekommen sind wären:
Wer ein bisschen sucht, findet bestimmt noch andere reduzierte Titel! Ob die entsprechenden DVDs auch qualitativ empfehlenswert sind, kann ich (außer für Humanity and Paper Balloons aus der MoC-Reihe) aber nicht versprechen.
Das Jahr 2009 neigt sich dem Ende zu, es ist Hochsaison für Rückblicke, Fazits und Resummes. Mit meinem Jahresrückblick warte ich noch bis die endgültigen BoxOffice-Daten vorliegen. Statt dessen presche ich schonmal vor mit meiner Liste der besten Filme dieses morgen ebenfalls zu Ende gehenden Jahrzehnts. Auch wenn der Schwerpunkt meines Interesses eher auf den Klassikern liegt und ich viele gute und besonders sehenswerte Filme der letzten 10 Jahre wahrscheinlich noch gar nicht kenne (daher bitte ich um Nachsicht, wenn ein Meisterwerk in der Liste fehlt). Aber die Gelegenheit für so ein Ranking kann ich mir einfach nicht entgehen lassen, Best-of-Listen bringen einfach so viel Traffic machen nunmal so viel Spaß 😉
Also ab gehts, hier sind sie, die meiner Meinung nach 10 besten Filme des ersten Jahrzehnts im dritten Jahrtausend:
Die Reihenfolge soll übrigens keine Rangfolge darstellen. Außerdem fällt mir auf, dass ich tatsächlich vier drei dieser großartigen Filme hier noch gar vorgestellt habe! Noch ein Vorsatz fürs neue Jahr 😉
Original: Musume, tsuma, haha (1960) von Mikio Naruse
Unmittelbar nach When a woman ascends the stairs erschien Naruses zweite große Studioproduktion des Jahres 1960. Offenbar wollte Toho nichts anbrennen lassen und schickte ein Star-Aufgebot ins Rennen, das sich wie ein Who is who liest: Setsuko Hara, Hideko Takamine, Tatsuya Nakadai, Masayuki Mori, Reiko Dan, Ken Uehara, Haruko Sugimura, Daisuke Kato und in einer kleinen Nebenrolle auch noch Chishu Ryu bevölkern Daughters, Wives and a mother mit einer außergewöhnlichen Ansammlung von Talenten.
Diese großen Namen sind alle in einer Familiengeschichte untergebracht, die ein bisschen wirkt als wäre Dallas ins Japan der Nachkriegszeit versetzt worden: Nach dem Tod ihres Mannes kehrt Sanae (Setsuko Hara) in ihr Elternhaus zurück, in dem jetzt €“ wie es in Japan Tradition ist €“ ihr ältester Bruder Yuichi (Masayuki Mori) das Sagen hat. Er, seine Frau Kazuko (Hideko Takamine), die Kinder und die verwitwete Großmutter nehmen die Tante gerne auf, nicht zuletzt weil sie dank der Lebensversicherung ihres Mannes auf einer Million Yen sitzt. Und an dieses Geld wollen sie alle ran: Vorneweg Yuichi selbst, der viel Geld in die Firma des Patenonkels seiner Frau steckte und dafür mehrere Hypotheken aufnehmen musste. Auch Sanaes jüngere Schwester Kaoru bittet um ein Darlehen, um endlich ein Apartment kaufen und aus dem Haus ihrer verhassten Schwiegermutter ausziehen zu können.
Nebenbei versucht die Familie auch noch mit vereinten Kräften, Sanae bald wieder unter die Haube zu bringen. Bei einem Ausflug mit ihren jüngeren Geschwistern lernt sie den Winzer Shingo (Tatsuya Nakadai) kennen, der sich vom Fleck weg in Sanae verliebt, obwohl er deutlich jünger ist als sie. Außerdem gibt es noch einen etwas reiferen Anwärter aus einer reichen Familie aus Kyoto. Als plötzlich jedoch die Firma, in die Yuichi sein ganzes Geld gesteckt hat, pleite geht, dreht sich wieder alles ums Geld: Das Familienanwesen muss verkauft werden €“ und nun wollen auch die jüngeren Geschwister Haruko (Reiko Dan) und Reiji (Akira Takarada) ihren Anteil einstreichen. Nur wer kümmert sich dann um Oma? Und wird Sanae den jungen, attraktiven Shingo heiraten? Oder doch den silberhaarigen, reifen Herrn aus Kyoto?
Wer Naruses Filme kennt, kann sich das Ende vom Lied sicher ohne große Schwierigkeiten denken; der Film besticht nicht gerade durch überraschende Wendungen. Die mit Abstand interessanteste Idee ist die Affäre zwischen der 40jährigen Hara und dem 12 Jahre jüngeren, aufsteigenden Superstar Nakadai (eine kurze Kussszene der beiden scheint auch das zentrale Marketingvehikel des Films gewesen zu sein). Eigentlich entspricht die Sanae ziemlich genau der typischen Hara-Rolle: Alleinstehende, gutmütige Frau, die eingebettet in die Familie ihr Schicksal erträgt. Nur, dass sich dieses Mal eine Alternative bietet und sie diese sogar ein kleines bisschen auskostet, bevor sie sich letztlich für den €žangemessenen€œ Weg entscheidet.
Da es neben Sanae noch sage und schreibe 15 (!) weitere Haupt- und Nebencharaktere gibt, bleiben neben der Handlung auch die meisten der Figuren berechenbar und erreichen bei weitem nicht die Tiefe, die man sonst von Naruse gewohnt ist. Der Vergleich mit When a woman ascends the stairs drängt sich auf, in dem sich alles auf Hideko Takamine in der Rolle der Bardame Keiko und deren Verhältnis zu drei, vier Männern konzentriert: Hier schafft Naruse einen außergewöhnlichen, faszinierenden und vielschichtigen Charakter. In Daughters, Wives and a mother dagegen bleibt ihm die meiste Zeit nicht viel anderes übrig, als Schablonen vor der Kamera hin und her zu schieben.
Auch in anderer Hinsicht sind die Unterschiede zwischen diesen beiden unmittelbar nach einander entstandenen Filmen frappierend. Daughters, Wives and a mother ist ein stark von Braun- und Grüntönen dominierter Farbfilm, der sich überwiegend zwischen Küche und Esstisch abspielt. When a woman ascends the stairs drehte Naruse dagegen in kontrastreichem Schwarzweiss und zeigt darin mit den lauten, turbulenten Nachtclubs eine völlig andere Welt.
Dass er sich dazu auch jeweils anderer visueller Stile bedient, verdeutlichen schon die Eröffnungstitel: Auf der einen Seite klassisch-melodramatische Orchestermusik sowie ein mit Sackleinen bezogener Hintergrund, bei dem man glatt glaubt, in einem Ozu gelandet zu sein und auf der anderen eine von swingender Barmusik hinterlegte moderne Collage. Naruse legt mit diesen beiden Filmen also einen veritablen Spagat hin: Daughters, Wives and a mother ist in fast jeder Hinsicht das Gegenteil von When a woman ascends the stairs, was für mich die Flexibilität und Vielseitigkeit des Regisseurs belegt.
Denn Daughters, Wives and a mother (wie oft habe ich den Filmtitel eigentlich schon genannt?) ist beileibe kein schlechter Film. Auch wenn Handlung und Charaktere nicht kaum über Mittelmaß hinauskommen und wenig inspiriert wirken, so hat er bei allen Gegensätzlichkeiten doch eines mit When a woman ascends the stairs gemein, nämlich den Charakter einer Studie. Hier allerdings steht nicht ein einzelner Hauptcharakter im Mittelpunkt sondern Naruse erweitert den Fokus gleich auf eine ganze japanische Großfamilie, die zunächst ganz dem Ideal zu entsprechen scheint. Mit seiner gewohnten Aufmerksamkeit für die kleinen Alltagskonflikte um Geld, familiäre Zwänge und menschliche Schwächen zeigt er dann in einer außergewöhnlichen Studie den Zerfall dieses Ideals einer generationenübergreifenden Gemeinschaft.
Besonders das Schicksal der beiden Großmütter, die nicht mehr in das moderne, eigenständige Leben ihrer Kinder passen, bekommt zum Ende des Films hin viel Raum, inklusive eines Besuchs in einem Seniorenheim. Schlussendlich bleibt das Schicksal der beiden aber im Unklaren, es wird nicht aufgelöst, ob die Kinder sich der Eltern €žentledigen€œ oder ihrer traditionellen Verantwortung gerecht werden. Auch ob sich die Kinder in den finanziellen Fragen doch noch einigen konnten, oder ob der Zusammenhalt der Familie daran zerbricht, bleibt offen.
Davon abgesehen bietet der Film natürlich auch einige exzellente darstellerische Leistungen, ist ja auch kein Wunder bei der Masse an Talent, das hier gecastet wurde. Besonders Haruko Sugimura hat mich mal wieder komplett von den Socken gerissen €“ sie ist einfach brilliant als Schwiegermutter-Drache, der der Schwiegertochter das Leben zur Hölle macht! Wie sie mit heruntergezogenen Mundwinkeln, missbilligendem Blick und nörgelndem Tonfall innerhalb von Sekunden einen Charakter ausformt, ist einfach der Hammer!
Für das Verständnis von Naruses Themen und Anliegen ist Daughters, Wives and a mother zweifellos ein wichtiger Film. Zugleich belegt dieser auch die vielseitigen Fähigkeiten des Regisseurs gerade unter erschwerten Bedingungen (ich sage nur 16 Charaktere, die meisten gespielt von etablierten Stars!). Aber dem Film fehlt der Drive, die Spannung und auch die Laufzeit von mehr als zwei Stunden können nicht darüber hinwegtäuschen, dass er ist einfach überladen ist.