Yasujiro Ozu wurde nicht zuletzt wegen seines außergewöhnlichen, unverkennbaren Stils zu einer Ikone der japanischen Filmgeschichte. Nach eingen recht simplen wiederkehrenden Motiven geht es heute um eine Grundfeste seines Stils, an der jeder seiner Filme schon nach wenigen Augenblicken erkennbar ist: Die niedrige Kameraposition.
Das klassische Beispiel dafür sind die vielen, in traditionellen japanischen Häusern spielenden Szenen, in denen sich die Darsteller auf dem Boden sitzend unterhalten und sich die Kamera in einer Position knapp über dem Boden befindet. Weil diese Szenen einen so großen Anteil an den Filmen Ozus haben, wird dies oft als eine sitzende Position der Kamera interpretiert, die den Zuschauer in die Rolle einer an der Konversation teilnehmenden, ebenfalls auf den Tatami sitzenden Person versetzen solle. Auch die Meinung, dass es sich um die Sicht eines Kindes handele, ist immer wieder zu lesen.
Um aus diesen niedrigen Positionen filmen zu können, nutzte Ozu ein spezielles Stativ, das so niedrig war, dass der Kameramann während des Drehens teilweise auf dem Boden liegen musste.
Doch Ozu verwendete die niedrige Kameraposition nicht nur in geschlossenen Räumen, sondern auch im Freien, mithin also in Situationen, in denen die „teilhabende Kameraperson“ normalerweise eben nicht sitzen würde. Beispiele dafür finden sich reichlich, ein sehr schönes Beispiel wäre etwa die Großstadtszene aus Später Frühling, in der sich die Kamera etwa auf Höhe des Gebäudesockels befindet und in der kein Beobachter je auf die Idee käme, sich auf den Boden zu setzen:
Gegen die These, dass Ozu die Kamera und damit den Zuschauer in die Position eines sitzenden Beobachters oder eines Kindes versetzen wollte, spricht sich besonders David Bordwell vehement aus. Er zeigt auf, dass die Kameraposition keineswegs in einer bestimmten Höhe fixiert ist sondern vielmehr sehr stark variiert, in Abhängigkeit vom Motiv (bei sitzenden Personen befindet sie sich knapp über dem Boden, bei stehenden etwas höher und bei Gebäuden oder Landschaftsaufnahmen sogar in der Vogelperspektive).
Er legt vielmehr Wert darauf, die Effekte dieses Stilmittel auf den Zuschauer und für die Wahrnehmung des Bildes ins Auge zu fassen. Ein solcher Effekt ist die im obigen Screenshot gut zu beobachtende Betonung vertikaler Elemente und von Objekten, die sich in der Nähe der Kamera befinden. Die eigentlich im Zentrum der Aufmerksamkeit stehenden Objekte und Charaktere werden dagegen in die obere Hälfte des Bildes und somit gewissermaßen in die Peripherie gedrängt, wie auch in dieser Szene aus A Story of floating weeds…
Der Zuschauer stolpert ständig über diese ungewohnte Bildsprache, ganz im Sinne des Brechtschen Konzepts, den Zuschauer dazu zu bringen, den Sinn zu hinterfragen, eine kritische Auseinandersetzung anzustoßen, vertraute, alltägliche Dinge aus einem ungewohnten Blickwinkel zu betrachten und ihn so zum Nachdenken über sie statt zur Identifikation mit ihnen zu veranlassen. Die Kamera sollte eben nicht den natürlichen Standpunkt eines Menschen einnehmen, sondern durch die ungewöhnliche Position einen Verfremdungseffekt erzielen.
Dass Ozu aber nicht immer auf die ungewöhnliche Perspektive setzt sondern manchmal auch ganz klassische Kompositionen entwickelt, belegt eine der wohl berühmtesten Szenen seines ganzen Werks, nämlich Tomi und Shukichi auf der Hafenmauer in Tokyo Story:
Damit wird die niedrige Kameraposition zu einem integralen Bestandteil des künstlerischen Schaffens von Ozu, welcher ihn nicht nur als äußerst innovativen und konsequenten Filmemacher bestätigt, sondern auch erste Rückschlüsse auf seine Anspruchshaltung und seine Ziele zulässt.
Weitere Markenzeichen Ozus:
Teil I – Sackleinen
Teil II – Trocknende Wäsche
Teil III – Zugfahrten
17 Aug
Erst vor ein paar Tagen schrieb ich, wie wichtig es ist, sich den Unterschied zwischen Filmkritik und rein geschmacksbasierter Bewertung klar zu machen, wenn man sich mit dem Thema „Niedergang der Filmkritik“ beschäftigt. Durch Michas Kommentar dort wurde ich jetzt auf einen Artikel der Berliner Zeitung zur Bedeutung der Filmkritik aufmerksam, mit folgendem provozierendem Untertitel: Die Internet-Blogs zersetzen das informierte und unabhängige Urteil.
Dass der Autor Josef Schnelle (ehemaliger Präsident des Verbands deutscher Filmkritiker) mit diesem Pauschalurteil zunächst mal Ahnungslosigkeit oder wahlweise Ignoranz beweist, zeigen schon Thomas im filmtagebuch und Ekkehard Knörer im Perlentaucher auf. Was mir dabei besonders übel aufstößt, ist der Umstand, dass Schnelle die Blogs für etwas schilt, was ursprünglich aus dem Printbereich kommt, nämlich das – von ihm selbst auf Roger Ebert zurückgeführte – Phänomen der „Filmkritik als Warentest“, das sich in Printpublikationen wie z.B. Fernsehzeitschriften (TV Movie etc.) großer Beliebtheit erfreute und noch heute erfreut. Dort wurde und wird der Daumen gehoben bzw. gesenkt, und zwar von professionellen Journalisten. Dies machen nun eben auch die Amateure im Web, aber wenn die das machen zerstört das natürlich die Qualität der Filmkritik.
Warum greift Schnelle nicht die Übeltäter im eigenen Lager an und stürtzt sich statt dessen auf Blogs? Weil es einfacher ist, das Unbekannte und Unverständliche zu dämonisieren? Oder steckt einfach die Angst vor dem eigenen Bedeutungsverlust dahinter, wie der Don immer wieder schreibt?
11 Aug
Anlässlich dieses Artikels habe ich mich neulich über den Niedergang der Filmkritik im Journalismus unterhalten. Feuilletons werden ausgedünnt, Kultur- und Filmjournalisten entlassen. Auf der anderen Seite wird man gerade im Netz überflutet von Meinungen zu Filmen, die einem oft als Filmkritik verkauft werden: Sieht man sich eine DVD auf Amazon an, erfährt man sofort, was andere Käufer vom Film hielten; sucht man Infos auf IMDb, kommt man an den Meinungen anderer nicht vorbei. Aber sind solche Stimmen überhaupt Filmkritik?
Zweifellos sind diese von Laien und Fans verfassten Texte manchmal sehr informativ und hilfreich, aber allzu oft bestehen sie nur aus ein paar Zeilen Geschmackskundgebung. Gleiches gilt für viele Foren und Blogs, wo mal eben der zuletzt im Kino gesehene Film als „genial“ gelobt oder „stinklangweilig“ kritisiert wird. Aber zu einer Filmkritik gehört viel mehr als die Aussage, ob der Film gefällt oder nicht. Eine Filmkritik zu schreiben bedeutet, Inhalte zusammenfassen, wichtige Elemente oder Muster des Films analysieren, vielleicht Motive oder die Aussage des Films interpretieren (wenn dieser das hergibt) und dann auf dieser Basis eine Bewertung abzugeben.
Wie viele der Millionen „Kritiken“ im Netz erfüllen diese Kriterien? Wahrscheinlich nur ein winziger Bruchteil, der Rest ist rein geschmacksbasiertes Rauschen, das mir zwar durch seine schiere Masse einen Rahmen, eine Orientierung gibt (wie etwa das Ranking bei IMDb). Worauf dieser Rahmen basiert und wie ich diesen einzuschätzen habe ist für mich aber überhaupt nicht nachvollziehbar, da mein Input allein auf dem Geschmack anderer beruht und mir so die Basis für eine Auseinandersetzung fehlt. Denn ohne intersubjektive Kriterien werde ich nie wissen können, ob diese Bewertungen für mich überhaupt relevant sind oder ob vielleicht der Prozentsatz an Nacktszenen für die Beurteilung ausschlaggebend war.
Mir fällt daher das Verteilen von Sternen und das Erstellen von Rankings auch so schwer, weil dies keine qualifizierte Aussage über Filme erlaubt. Dann schreibe ich eben lieber eine Kritik, in der ich meine Gedanken zum Film für andere nachvollziehbar offen lege, anstatt nur schnell ein Statement rauszuhauen. Das ist vielleicht nicht so sexy wie ein cooler One-Liner, mit dem ich den Film in den Himmel lobe oder zerreiße, und fordert mich und den Leser mehr. Aber letztlich ist eine solche Auseinandersetzung mit einem Film um ein Vielfaches befriedigender als nur der reine, durch ein paar Sterne angestoßene Konsum. Und ich bin mir ziemlich sicher, dass die meisten meiner regelmäßigen Leser das genauso sehen. Das war übrigens auch von Anfang an einer meiner Ansprüche an den Japankino-Blog: Nicht einfach nur Filmtipps geben mit Daumen hoch oder runter, sondern sich an echter Filmkritik versuchen – wobei mir natürlich klar ist, dass ich auch nur ein Amateur bin.
Dennoch ist es jedes Mal wenn ich eine Filmkritik schreibe eine Gratwanderung: Weil ich auf der einen Seite für meine lieben „Stammleser“ schreibe, die viele der Filme – oder zumindest der Regisseure – mit denen ich mich beschäftige kennen, und zum anderen die Rezensionen auch für den Gelegenheitsbesucher, der vielleicht einfach nur über eine Google-Suche vorbeigekommen ist, noch interessant sein soll. Ausgedehnte Analysen und Interpretationen sind für diese zufälligen Besucher möglicherweise sogar kontrapduktiv und störend, weil dadurch die Spoiler-Gefahr steigt (genau deshalb versuche ich auch in meinen Zusammenfassungen das Ende der Filme nicht zu verraten). Aber wenn mir ein Punkt wichtig für meine Wahrnehmung, meine Bewertung des Films ist, dann wird der auch diskutiert, denn sonst würde ein wichtiges Element fehlen und meine Einschätzung wäre dadurch weniger nachvollziehbar.
Natürlich fehlt auch meinen „Filmkritiken“ die professionelle Basis, auch ich bin nur ein Amateur. Aber Amateur-Kritiken können gegenüber journalistischen Texten klare Vorteile haben. Amateure haben keine Verpflichtungen gegenüber Anzeigenkunden oder Sponsoren, keine Vorgesetzten die Druck machen und vor allem: sie können sich ganz den Filmen widmen, die sie interessieren. Insofern sehe ich derzeit zwar wie im eingangs erwähnten Artikel eine Krise der professionellen Filmkritik. Dafür haben nun die vielen Filmfans, die sich mit Themen und Filmen befassen, die sonst niemals Zugang zu einer Öffentlichkeit gefunden hätten, die Chance, ihre Gedanken und ihr Wissen anderen über das Netz zugänglich zu machen. Weniger professionelle Filmkritik muss eben nicht automatisch einen Verlust an Qualität bedeuten.
Nachdem in den letzten Monaten die Mizoguchi-Reihe von Eureka für Kahlschlag im Portemonnaie sorgte, ist jetzt mal wieder Criterion aus den USA dran: Demnächst erscheinen zwei neue DVDs von bekannten Klassikern, die allerdings bereits bei anderen Labeln erhältlich sind.
Über die erste Ausgabe freue ich mich persönlich ganz besonders, Vierundzwanzig Augen war schließlich einer der ersten japanischen Filme (neben Rashomon und ein paar Miyazakis) die ich gesehen habe und er ist bis heute einer meiner Lieblingsfilme geblieben! Bisher gibt es schon eine Ausgabe in der Masters of Cinema-Reihe, die nicht zu verachten ist. Wir können aber getrost davon ausgehen, dass die überarbeitete Criterion Spine # 442 den Film in einer ganz neuen qualitativen Dimension zugänglich machen wird. Merke ich mir schon mal für Weihnachten!
Die zweite DVD komplettiert die „Late Ozu“-Box aus der Eclipse-Reihe mit Ozus letztem Film An Autumn Afternoon. An dieser Ausgabe finde ich besonders spannend, dass sie einen Audio-Kommentar von David Bordwell enthält, der nicht nur einer der renommiertesten Filmwissenschaftler und ausgemachter Ozu-Spezialist ist sondern auch von mir sehr geschätzter Blogger.
4 Aug
Original: Mind Game (2004) von Masaaki Yuasa
Oh Mann, keine Ahnung was die Jungs von Studio 4°C während der Arbeit an diesem Film geraucht haben, aber ich will auch von dem Zeug! Einen so durchgeknallten, vor Kreativität sprühenden, anspruchsvollen und stilistisch Neuland betretenden Film sieht man wirklich nicht alle Tage. Aber worum geht es?
Nishi, Mangazeichner Anfang 20, sitzt nichts ahnend in der U-Bahn, als plötzlich seine große Jugendliebe Myon zur Tür hereinstürtzt. Er hilft ihr, den lädierten Knöchel zu verarzten und bringt sie nach Hause. Kaum sind sie in der kleinen Kneipe angekommen, die Myon und ihre Schwester Yang betreiben, tauchen zwei Yakuza auf, die Myon in der U-Bahn verfolgt hatten. Es kommt zum Streit und Nishi wird erschossen.
Er findet sich in einer Kammer wieder, in der ihm zunächst sein Tod in Zeitlupe und aus allen denkbaren Perspektiven gezeigt wird. Rotz und Wasser heulend begegnet er dann Gott, der permanent die abstrusesten Gestalten annimmt und ihm ziemlich drastisch aufzeigt, was für ein erbärmlicher Versager und Feigling Nishi doch war. Dem dämmert so langsam, dass sein Leben komplett für den Arsch war, weil er nie die Initiative übernommen hat und sich nie etwas zutraute. Als Nishi von Gott zum Verschwinden in der Unendlichkeit geschickt wird, will er sich damit nicht abfinden und rennt dagegen so fanatisch an, dass ER beeindruckt ist und Nishi eine zweite Chance gibt.
Er landet wieder in der Kneipe, Sekunden vor seinem Tod, entreißt dem Yakuza die Pistole, erschießt ihn und flüchtet mit Myon und Yang. Die anschließende Verfolgungsjagd endet abrupt, als die drei samt ihres Autos von einer Brücke stürzen und von einem gigantischen Wal verschluckt werden. Im Bauch des Wals begegnen sie einem alten Mann, der dort schon seit 30 Jahren gefangen ist und sich mit seinem Schicksal abgefunden hat. Doch als sich die Zeichen häufen, dass der Wal im Sterben liegt, können ihn die drei überzeugen, einen Ausbruchsversuch zu unternehmen.
In der Zusammenfassung klingt das jetzt vielleicht nicht so verrückt, wie es beim Sehen des Films wirkt. Denn die oben skizzierte Handlung wird durch verschiedene Flashbacksequenzen und Nishis Träumereien ergänzt und unterbrochen. Eine dieser Flashbacksequenzen ist denn auch der Schlüssel zum ganzen Film, da sie einmal am Anfang läuft und nochmals ganz am Schluss. Aber dazu später mehr.
Außerdem kommen so ziemlich alle denkbaren stilistischen Mittel und Animationstechniken zum Einsatz, mit denen Perspektivenwechsel und charakterdefinierende Momente hervorgehoben werden, was es zugleich aber erschwert, dem Film zu folgen. Der Look von Mind Game ist ohnehin schon sehr gewöhnungsbedürftig, mit den fast an von Kindern gemalte Strichmännchen erinnernden Charakteren und der Melange aus CGI und zweidimensionalen Handzeichnungen. Dieser Stil wurde von Studio 4°C später auch bei Tekkonkinkreet verwendet, aber in einer leichter verdaulichen Version.
Zusätzlich werden in bestimmten Szenen die gezeichneten Figuren mit Fotos realer Personen zu einer expressionistischen Collage verarbeitet, was einerseits die Individualität der Charaktere erhöht, andererseits aber für Brüche im Film sorgt, so dass es noch schwerer wird, der Handlung zu folgen. In der zweiten Hälfte, die im Bauch des Wals spielt, kommen auch noch Einschübe mit psychedelischen Farb- und Formspielen hinzu, etwa als Nishi und Myon dann endlich Sex haben. Auch in einigen musicalhaften Szenen lassen die Macher ihrer Fantasie freien Lauf und toben sich richtig aus.
So ist Mind Game einerseits ein visuell mitreißender, atemberaubender und neue Möglichkeiten austestender und erschließender Film, was ihn aber auch schwer nachvollziehbar macht. Andererseits hat er aber auch eine Botschaft, die gleich in einer der ersten Szenen kommuniziert wird, dann aber durch die vielen verrückten Wendungen und grafischen Spielereien des Films etwas in den Hintergrund gerät, nur um ganz am Schluss durch ein zweites Statement relativiert zu werden: Als Myon durch die Tür der U-Bahn hechtet, ist Nishi gerade dabei, eine SMS zu tippen mit den Worten €žYour life is the result of your own decisions€œ. Zu dieser Botschaft passen dann die Standpauke von Gott, Nishis neu entdeckte Lebensfreude nachdem er die zweite Chance bekam und der Kampf gegen den scheinbar unabwendbaren Tod im Bauch des Wals.
Doch der Film endet, nachdem die vier in einer übermenschlichen Willensanstrengung das Unmögliche möglich gemacht haben, mit einer alternativen, glücklicheren Version der Begegnung in der U-Bahn. Diesmal verletzt sich Myon nicht und die Yakuza verlieren sie aus den Augen. Ist es letztlich doch der Zufall, der unser Leben bestimmt und nicht unser eigener Wille? Ist letztlich alles nur ein Spiel, ein €žMind Game€œ? Wollten die Filmemacher einfach nur ein bisschen mit den Zuschauern und ihren Erwartungen spielen?
Hier gibt nun die oben erwähnte Flashbacksequenz einen wichtigen Hinweis. Sie zeigt Ausschnitte aus dem Leben aller im Film vorkommenden Charaktere und ist in ihrer ersten Version zu Beginn des Films ganz in grau gehalten und mit einem düsteren Synthesizer-Soundtrack unterlegt. Am Ende läuft die Sequenz in fast identischer Form nochmal, nur ist sie diesmal bunt, voller Farben und Lebensfreude und von fröhlichem Gesang begleitet.
Aus meiner Sicht bedeutet das ganze folgendes: Zuerst mal ist der eingangs geschilderte aberwitzige Plot für den Kern des Films völlig bedeutungslos. Er stellt nur den Weg von der ersten Version des Flashbacks zur zweiten dar, und dieser Weg ist nichts anderes als die Arbeit der Charaktere – allen voran Nishi – an der eigenen Einstellung gegenüber dem Leben. Denn letztlich spielt es keine Rolle, ob das Leben durch den Zufall oder durch eigene Entscheidungen vorangetrieben und geprägt wird (die Wahrheit liegt sowieso irgendwo dazwischen), solange man das Leben nur als lebenswert betrachtet und bis zum letzten Tropfen auskosten möchte. Alles ist eine Frage der Perspektive, der persönlichen Einstellung. Alles läuft in unserem Kopf ab, und dort können wir auch festlegen, ob das Leben für uns grau oder doch schrill und bunt ist. Das Leben als Mind Game.
Diese Botschaft sorgt dann auch dafür, dass Mind Game einem nicht nur ordentlich den Gehirnkasten durchbläst, sondern bei all der Verwirrung einfach ein positives, freudiges Gefühl zurücklässt, auch wenn man das alles gar nicht so durchdenken mag.
Und bei all dem kreativen Wirbel, der in diesem Film entfacht wird, bedient er sich doch einer Reihe von Vorbildern und ist gespickt mit Zitaten. Vornweg natürlich American Beauty mit dem Tod des Helden der eigentlich ein Anti-Held ist (sowie der Flugszene ganz am Ende, die in American Beauty am Anfang steht), Lola rennt und die verschiedenen Varianten desselben Lebens (und natürlich das zentrale Motiv des Rennens) oder The Hudsucker Proxy von den Coen-Brüdern mit dem Anhalten der Zeit. Alle diese Filme stellen auch die Frage „Was wäre wenn“, nur Mind Game sagt dann eben „Das ist egal“. Man muss nur im Kopf die richtige Einstellung haben.
Tja, was soll ich noch groß sagen? Der Film ist sicher einer der besten Anime die ich je gesehen habe, auf jeden Fall aber der abgefahrenste. Er hatte nur einen sehr kleinen Release und ist wohl auch relativ unbekannt, völlig zu Unrecht. Ein Film, den man gesehen haben muss und der jedem halbwegs intelligenten und aufgeschlossenen Menschen sehr viel Freude bereiten wird… und einiges Kopfzerbrechen!
Japanische Filme erfreuen sich derzeit großer Beliebtheit auf europäischen Festivals! Nach der kürzlich bekannt gewordenen Japan-Retrospektive in San Sebastian wird auf dem nächste Woche startenden Film Festival Locarno ein Meilenstein der Anime-Geschichte zu sehen sein: Momotaro: Umi no shinpei, der erste abendfüllende, in Japan produzierte Anime aus dem Jahr 1945. Inhaltlich handelt es sich zwar um reine Propaganda, der Film gilt aber als Meisterwerk der frühen Animation und soll auch Osamu Tezuka, den Vater der modernen Manga und Anime, stark beeinflusst haben.
Und in Venedig werden ab Ende des Monats gleich drei aktuelle japanische Filme um den Goldenen Löwen konkurrieren: Zum ersten Mal dabei ist Mamoru Oshii mit Sky Crawlers, dann Takeshi Kitano (der Wettbewerbsieger von 1997) mit seinem aktuellen Film und Hayao Miyazakis gerade in Japan angelaufener Ponyo on the cliff by the sea. Der schien sich übrigens nach den ersten Berichten ganz gut an den Kinokassen zu schlagen, obwohl er mit Indiana Jones und der neuesten Auflage der Pokemon-Reihe gerade in seiner ureigenen Zielgruppe mächtig Konkurrenz hat.
28 Jul
Erst ein paar Wochen im Netz, aber imho schon auf dem besten Weg zu einem Highlight unter den deutschen Asienfilmbloggern: Schneeland. Keine Ahnung, was der Titel wohl sagen soll (Michael, magst du uns mal aufklären?) aber mit dem Willkommensgruß Japanische Filme. Weil sie die besten sind hatte der Blog sowieso gleich mein Herz erobert! Und die bisherigen Inhalte – unter anderem eine sehr schöne Besprechung von Ugetsu monogatari – nach gut zwei Monaten lassen noch großes erhoffen. Aktuell ist gerade eine Yasuzo Masumura Retrospektive in der Mache, vier Reviews sind schon fertig.
Mensch, überall wird über diesen Masumura geschrieben, muss mich wirklich mal dahinter klemmen! Wenn der Tag nur mehr als 24 Stunden hätte…
Ein Blog, bei dem der Titel schon eher Rückschlüsse auf die Themen zulässt wäre Outcast Cinema. Unter der Tagline For the love of disreputable movies gehts hier um Yakuza, Kung Fu, Action, und das bereits seit fast zwei Jahren. Allerdings ist die Posting-Frequenz nicht besonders hoch, mehr als 2 bis 3 Beiträg pro Monat sind eher selten, und die Schrift ist verdammt schwer zu lesen. Dafür wartet er mit großartigen Bildern auf… woher kriegt man bloß diese hohen Auflösungen?
23 Jul
Original: Saikaku ichidai onna, (1952) von Kenji Mizoguchi
Am Ende ihres Lebens blickt Oharu (Kinuyo Tanaka) auf ihre Jugend als Hofdame in Edo zurück, wie sie sich in Katsunosuke (Toshiro Mifune) verliebte, der jedoch einem niederen Stand angehörte, wie sie und ihre Familie wegen dieser Affäre in die Verbannung geschickt wurden und sie daraufhin ein lebenslanges Martyrium aus Ausbeutung, Erniedrigung und Missbrauch durchstehen musste. Als Konkubine eines mächtigen Fürsten sollte sie diesem einen Erben schenken, doch als der geboren ist, wird sie vom Hof vertrieben. Ihr permanent in Selbstmitleid schwelgender Vater verkauft sie in die Prostitution, sie wird als Dienerin eines reichen Händlers von dessen Frau misshandelt und von ihm missbraucht.
Als sie endlich einen Mann findet, der sie aufrichtig liebt und für den ihre Vergangenheit keine Rolle spielt, währt das Glück – wie könnte es anders sein – nicht lange: Er wird wegen ein bisschen Geld ermordert, der Besitz fällt an seine Familie und Oharu zieht sich verzweifelt zu den Nonnen in einen Tempel zurück. Doch ihre Vergangenheit holt sie ein, erneut wird sie ausgestoßen und landet als Bettlerin und Prostituierte auf der Straße.
Mizoguchis Das Leben der Frau Oharu basiert auf dem 1686 von Ihara Saikaku verfassten Roman KÅshoku Ichidai Onna (Das Leben einer amourösen Frau). Saikaku war besonders für komödiantisch-erotische Geschichten aus dem Leben der aufstrebenden Händlerschicht bekannt, und auch dieses Werk ist Mark Le Fanu zufolge eine Aneinanderreihung erotischer Abenteuer der Heldin. Insofern stellt Mizoguchis tragische Herangehensweise an den Stoff eine atemberaubende 180-Grad-Wendung dar: Er stellt den Charakter der Geschichte komplett auf den Kopf, ohne aber am Plot selbst wesentliche Änderungen vorzunehmen. Man kann sich das etwa so vorstellen als würde jemand die Buddenbrooks als Komödie verfilmen.
Wie gelingt Mizoguchi und seinem Drehbuchautor Yoshikata Yoda dieses Kunststück? Indem er den Auslöser für Oharus langsamen aber unaufhaltbaren Niedergang in eine aufrichtige, tiefe Liebesgeschichte verwandelt und die Heldin, deren Liebe gegen gesellschaftliche Konventionen verstößt, mit Würde, Stolz und der ganzen Sympathie des Zuschauers ausstattet. Ihre thematische Verknüpfung mit wahrer Liebe wird noch verstärkt, als sie dem Fürsten einen Thronfolger gebärt und nun ihre Mutterliebe zu ihrer stärksten Triebfeder wird.
Die Liebe zu dem ihr entrissenen Sohn – die Mizoguchi in zwei kurzen, verzweifelten Begegnungen verdeutlicht, in denen Oharu den Thronfolger nur aus der Distanz sehen darf, siehe Screenshot unten – und die Erinnerung an die große, wahre Liebe ihres Lebens lassen sie dann all das Leiden, die Enttäuschungen und das allein auf ihren Körper begrenzte Begehren der Männer sowie die daraus folgenden Erniedrigungen ertragen. Grandios gespielt natürlich von Kinuyo Tanaka, einer der vielseitigsten und überzeugendsten Schauspielerinnen ihrer Generation.
Doch nicht nur die Männer bekommen ihr Fett weg, Mizoguchi prangert eine ganze Gesellschaftsordnung an, die voller Scheinheiligkeit Werte propagiert und deren Einhaltung fordert, dann aber eine aufrichtige und aufrechte Frau wie Oharu ausbeutet, verstößt und erniedrigt. Seien es der Vater, der seine Tochter für ihre Liebe zu einem einfachen Mann verprügelt, sie dann aber zunächst zur Konkubine und schließlich zur Prostituierten macht. Oder der Händler, der aus Geiz und Stolz nie in ein Bordell gehen würde, es dann aber schamlos ausnutzt, als er Oharu umsonst haben kann. Und nicht zu vergessen die Nonne, die Frau des Händlers und natürlich all die Höflinge, denen die Familie und ihr Fortbestand so viel Wert ist, dann aber in Oharu nur eine Gebärmaschine sehen, obwohl sie es ist, die den Fortbestand des Familienclans sichert.
Bemerkenswert bei all dem Leid und der Tragik ist, dass es Mizoguchi dennoch gelungen ist, einige komische Szenen zu bewahren. Zu nennen wäre etwa die Erinnerung gleich zu Beginn, als Oharu in einer Buddhastatue das Gesicht ihres geliebten Katsunosuke erkennt, das Casting zur Suche nach der Super-Konkubine oder wie Oharu sich an der Frau des Händlers rächt, indem sie eine dressierte Katze ihr die Perücke vom Kopf reißen lässt und sie so der Lächerlichkeit preisgibt.
Komplett aus dem Film verschwunden ist aber der amouröse Charakterzug Oharus, auch wenn Le Fanu dies anders sieht. Es ist mir völlig unbegreiflich, wie Le Fanu in der Szene, in welcher der Händler Oharu im Kloster aufsucht weil diese ihm noch Tücher schuldet und Oharu sich die in einen Kimono genähten Tücher vom Leib reisst, ein sexuelles Begehren ihrerseits erkennen will. Natürlich ist ihr klar, dass sie die Tücher mit Sex bezahlen muss, aber daraus abzuleiten, dass sie mit ihm schlafen wolle, widerspricht der gesamten Charakterisierung der Heldin. Vielmehr entledigt sie sich aus Abscheu und Empörung der vom Händler stammenden Kleider.
Oharu ist für mich die Kristallisation der tragischen, sexuell und materiell ausgebeuteten und von einem gesellschaftlichen Regime unterdrückten Frau in Mizoguchis Werk schlechthin, gewissermaßen die Essenz seines Schaffens. Auch was die Realisation des Filmes angeht ist Das Leben der Frau Oharu Mizoguchi vom Feinsten: Endlos lange Takes, die Vermeidung von Schnitten mittels Kamerabewegung und Arrangement der Charakter und absolute Detailversessenheit, obwohl der Meister für diesen Film nur minimale finanzielle Mittel zur Verfügung hatte. Der Film ist schwer verdauliche Kost, keine Frage, aber wenn man sich darauf einlässt ein wahrhaft erhebendes Erlebnis!