10 Mrz
Aus Anlass des Todes von Kon Ichikawa habe ich diesen neulich als den letzten großen Regisseur aus der goldenen Nachkriegsära des japanischen Films bezeichnet. Für die allererste Garde ist das sicher zutreffend, aber es gibt da noch einen nicht ganz so bekannten Regisseur, der noch immer am Leben und sogar noch älter ist: Kaneto Shindo.
Geboren am 28. April 1912 kam Shindo Mitte der 1930er zum Film, zu einer Zeit also, als in Japan noch überwiegend Stummfilme gedreht wurden! Zunächst war er als Drehbuchautor tätig (in seiner langen Karriere kann er auf etwa 200 Drehbücher zurückblicken), und arbeitete als solcher mehrfach mit Kenji Mizoguchi zusammen, der zu seinem großen Vorbild wurde. Aus dieser Zusammenarbeit gingen in den Nachkriegsjahren mit My Love has been burning und The Victory of Women zwei Filme mit hohem sozialkritischem Anspruch hervor. Überhaupt wird Shindo als dem sozialistisch-kommunistischen Lager zugehörig beschrieben, nicht zuletzt von Donald Richie.
1951 gab er dann mit Story of a beloved wife sein Debut als Regisseur, mit seiner Ehefrau Nobuko Otowa in der Hauptrolle, die auch bei seinen weiteren Filmen mitwirkte. Größere Bekanntheit als Regisseur erlangte er dann 1952 mit Die Kinder von Hiroshima und vor allem ab 1960 mit Filmen wie Die nackte Insel, der den Großen Preis des Moskauer Filmfestes gewann, und seinem wohl bekanntesten Werk überhaupt, Onibaba. Letzterer läutete eine thematische Wende hin zu Themen der Sexualität ein.
Mizoguchis Einfluss auf Shindos Filme ist kaum zu übersehen: Lange Einstellungen, viele ausladende Kamerafahrten, sehr harmonische Bildkomposition und viel Liebe und Zuwendung zum Detail. Zudem stehen auch bei Shindo meist Frauen und ihr hartes Schicksal im Zentrum der Filme. So ist es auch nicht verwunderlich, dass Shindo 1975 eine zweieinhalbstündige Dokumentation über Leben und Werk seines großen Vorbilds drehte.
Sein neuester Film Hanawa Chiredomo ist übrigens für ein Release in diesem Jahr vorgesehen, was ihn mit bald 96 Jahren zum ältesten zweitältesten aktiven Regisseur der Welt macht. Wahrlich ein lebendes Stück Filmgeschichte!
Wichtige Filme Kaneto Shindos:
1951 – Story of a beloved wife
1952 – Children of Hiroshima
1955 – Okami
1960 – Die nackte Insel
1963 – Mother
1964 – Onibaba
1968 – Kuroneko
1975 – Kenji Mizoguchi: The Life of a Film Director
1981 – Hokusai manga
1992 – The Strange story of Oyuki
2003 – Fukurō
Nicht im Sinne der Produktionskosten, sondern in der Anschaffung für den Filmfan! Und zwar in der günstigsten Variante, die auf dem Markt erhältlich ist. Irgendwer ne Idee? Naja, da ich hier darüber schreibe, könnt ihr euch schon denken, dass ich nicht an Star Wars (33,99 $) oder Lord of the Rings (24,99 $, jeweils bei Amazon) sondern natürlich eine japanische Filmtrilogie denke.
Beim Zusammenstellen einer Liste der besten japanischen Filme (kommt demnächst) bin ich nämlich auf Masaki Kobayashis dreiteiligen Kriegsepos Ningen no joken (The Human Condition) gestoßen, die offenbar out of print ist und für die man – jedenfalls außerhalb Japans – richtig viel Geld in die Hand nehmen muss, nämlich schlappe 600 Dollar!
Teil 1 – 205,83 US-$
Teil 2 – 189,95 US-$
Teil 3 – 189,95 US-$
Ich drück dann mal dem Eurowechselkurs weiter kräftig die Daumen 😉
7 Mrz
Original: Gembaku no ko (1952), von Kaneto Shindo
Jahre sind vergangen seit die Kindergärtnerin Takako (Nobuko Otowa) das letzte Mal in ihrer Heimatstadt Hiroshima war. Nun kehrt sie für ein paar Tage zurück, um alte Freunde und die Kinder zu besuchen, die sie vor dem Abwurf der Atombombe betreut hatte. Bei der Ankunft in der Stadt und dem Besuch des durch die Bombe zerstörten Hauses ihrer Familie, leben zunächst ihre eigenen Erinnerungen an diesen schrecklichen Tag wieder auf, bevor sie nach und nach mit jeder Person der sie begegnet mit den Folgen für die Überlebenden konfrontiert wird.
Da ist ihre Freundin und frühere Kollegin, die gerade mit ihrem Mann ein Kind adoptieren will, weil sie selbst steril wurde. Ein Mädchen, das plötzlich an den Spätfolgen der Strahlung stirbt. Eine Frau, die unter ihrem eigenen, einstürzenden Haus begraben und zum Krüppel wurde. Und natürlich die Kinder, von denen viele zu Waisen wurden, die nun in Heimen aufwachsen.
Shindo verlagert dann den Schwerpunkt des Films langsam von der Auseinandersetzung mit dem Leid der Vergangenheit und der Gegenwart aber auf den Kampf um die Zukunft. Symbolisiert wird diese durch den Enkel eines ehemaligen Angestellten von Takakos Familie, der durch den Blitz der Bombe erblindete, nun als Bettler dahinvegetiert und das Kind daher in ein Heim geben musste. Takako bietet ihm an, sich um den Jungen zu kümmern und ihn zu ihrer Verwandtschaft mitzunehmen, wo er in sicheren Verhältnissen aufwachsen würde und ihm die Zukunft offenstünde.
Für den alten Mann ist sein Enkel jedoch der einzige Halt in diesem von der Bombe zerstörten Leben. Er lehnt das Angebot zuerst ab, gerät dadurch aber in einen schweren Gewissenskonflikt, den er schließlich nur durch Selbstmord zu lösen im Stande ist. So kann Takako am Ende doch den kleinen Jungen aufnehmen und ihm den Weg in eine hoffnungsvolle Zukunft öffnen, angedeutet in der letzten Szene des Films: Hand in Hand machen sich die beiden an Bord eines Schiffes auf zu neuen Ufern, Hiroshima und die Vergangenheit hinter sich lassend.
Dass die Wunden des Erlebten nicht ganz so einfach heilen, macht Shindo vorher aber noch sehr nachdrücklich deutlich: Als Takako sich am Hafen von ihrer Freundin verabschiedet, ist das Motorengeräusch eines einzelnen Flugzeugs in der Ferne zu hören. Unwillkürlich blicken beide besorgt und verängstigt gen Himmel und werden erst durch den Jungen, der ganz unbedarft – fast begeistert – auf das Flugzeug reagiert, in die Gegenwart zurückgeholt.
Die Kinder von Hiroshima war meines Wissens der erste Film, der sich mit dem Atombombenabwurf beschäftigte. Die Ereignisse des 6. August 1945 selbst spielen dabei eine sehr untergeordnete Rolle und werden nur kurz mittels einiger Flashbacks aus Takakos Sicht beleuchtet.
Regisseur Kaneto Shindo nahm nur ganz wenige, kurz aufblitzende schockierende Bilder zu Hilfe, was auch dem fast dokumentarischen Charakter des Films entspricht. Dieser ist zum einen geprägt von der Trauer um die Toten und Takakos Mitgefühl für das Leiden der Überlebenden, ohne dabei aber allzu sehr auf die Tränendrüse zu drücken. Zum anderen geht es um die Überwindung des Traumas und um einen Neuanfang für die nachkommenden Generationen, was dem Film am Ende einen fast hoffnungsvollen Touch verleiht.
Somit geht es dem Film weniger darum, die Grausamkeit der Bombe (und damit die Amerikaner) anzuklagen, als vielmehr, das Leid der Betroffenen zu beklagen, aber dieses letztlich auch zu überwinden. Mit diesem Ansatz enttäuschte Shindo zwar nicht das Publikum, aber wohl seinen Auftraggeber, die Lehrergewerkschaft.
Diese wollte sich des Films als Mittel im Streit um die politisch-historische Wertung des Bombenabwurfs bedienen und die japanische Opferrolle untermauern (die Verharmlosung japanischer Kriegsverbrechen setzt sich nahtlos bis in die Gegenwart fort). Vermutlich hatte man sich von Shindo, der aus dem sozialistischen Lager kam, eine anti-amerikanische Haltung versprochen, wurde darin aber enttäuscht. Er nutzte die Gelegenheit statt dessen, um einen durch und durch unpolitischen und humanistischen, zeitlosen Film zu machen, der dadurch bis heute sehenswert und in seinem reifen Umgang mit der schwierigen Materie beeindruckend ist.
Many people have suggested that I write an autobiography, but I have never before felt favorably disposed toward the idea. This is partly because I believe that what pertains only to myself is not interesting enough to record and leave behind me. More important is my conviction that if I were to write anything at all, it would turn out to be nothing but talk about movies. In other words, take „myself“, subtract „movies“ and the result is „zero“.
Glücklicherweise hat sich Akira Kurosawa irgendwann um 1980 dann doch noch aufgerafft, seine Autobiographie zu schreiben. Und man merkt schon den ersten Sätzen, in denen er seine frühesten Kindheitserinnerungen beschreibt, an, was für ein großartiger Erzähler er war. Kein Vergleich mit den verschiedenen Politiker-Autobiographien, die ich bisher gelesen habe! Hier werden die Erinnerungen wirklich lebendig, entstehen dramatische oder nostalgisch-verklärende Bilder vor unseren Augen.
Von einem wahrhaft bewegten Leben kann Kurosawa berichten, der ja noch in der Meiji-Ära 1910 geboren wurde, als Japan sich mitten im Umbruch von einer feudalistischen, zurückgebliebenen Nation zu einer modernen Industriegesellschaft befand. Die ersten Kapitel berichten von seiner nicht einfachen Schulzeit, Hobbies, dem Alltag und wichtigen Vorbildern wie seinem älteren Bruder oder einem Kunstlehrer. Dramatische Erlebnisse bringen dann die 1920er, beginnend mit dem Kanto-Erdbeben, über sein Engagement in linksradikalen Künstlerkreisen bis hin zum Selbstmord seines Bruders.
Richtig spannend wird es dann mit seinem Eintritt in das Filmstudio PCL 1935 und den Schilderungen über seine erste Arbeit als Assistent von Kajiro Yamamoto, den Kurosawa als den besten Lehrmeister verehrt. Mit den ersten eigenen Filmen während der Kriegs- und Besatzungszeit und den damit verbundenen Erinnerungen erfahren wir dann noch einiges mehr über Kurosawas politische Ansichten und auch seine (durchaus kritische) Einstellung zu seiner japanischen Herkunft und der ihn prägenden Kultur und Lebensweise.
Besonders interessant sind natürlich seine Erinnerungen an die Produktion und die Zusammenarbeit mit seinen langjährigen Mitarbeitern und Weggefährten. Eine meiner Lieblingsstellen ist seine Schilderung, wie er auf Hinweis von Takamine Hideko den sich gerade in einem Vorsprechen abmühenden Toshiro Mifune entdeckte. Bevor wir uns versehen, lesen wir von den Dreharbeiten zu Rashomon und Kurosawas Überraschung, als der Film den Goldenen Löwen in Venedig gewann, und sind damit auch schon am Ende des Buches.
Vielleicht hat Kurosawa an dieser Stelle plötzlich die Lust verloren, oder er wandte sich wieder Filmprojekten zu, oder er dachte im Sinne des Eingangsstatements, dass seine restliche Lebensgeschichte nun nur noch im Zeichen seiner Filme stehen würde. Oder die Autobiographie sollte von Anfang an bei Rashomon enden, diesem Film, der wie kein anderer die Verfälschung der Realität durch subjektive Wahrnehmung thematisiert.
Auch wenn letztere Variante dem Ende des Buches einen selbstironischen Dreh geben mag, ist es doch jammerschade, dass wir nicht aus AKs Perspektive einen Blick auf die Arbeiten an seinen weiteren Meisterwerken werfen dürfen, dass wir nichts über die tiefe Krise erfahren, die er um 1970 durchlebte, oder den Bruch mit Mifune. Eine kleine Entschädigung sind die abschließenden Leitsätze zu Filmen und der Arbeit an ihnen. Einer dieser Leitsätze lautet:
There is something that might be called cinematic beauty. It can only be expressed in a film, and it must be present in a film for that film to be a moving work. When it is very well expressed, one experiences a particularly deep emotion while watching that film. I believe it is this quality that draws people to come and see a film, and that it is the hope of attaining this quality that inspires the filmmaker to make his film in the first place. In other words, I believe that the essence of the cinema lies in cinematic beauty.
Auch wenn Kurosawa in seiner Autobiographie nur die erste Hälfte seines Lebens und lediglich den Auftakt seiner außergewöhnlichen Karriere behandelt, bietet uns dieses knapp 200 Seiten (in der US-Paperback-Version) starke Büchlein viele Einblicke in den Menschen und den Künstler Kurosawa. Für den Fan und den Filmtheoretiker gleichermaßen ein Muss, zumal es sich um eine wirklich hervorragend geschriebene Autobiographie handelt.
28 Feb
Original: Batoru rowaiaru (2000), von Kinji Fukasaku
Zum Ende seiner Karriere setzte der 2003 (während der Dreharbeiten zum Sequel) verstorbene Kinji Fukasaku, der in den 1970ern mit der Battles without Honor and Humanity-Reihe bekannt geworden war, nochmal ein kräftiges Ausrufezeichen: Battle Royale.
In einer nicht allzu fernen Zukunft steht die japanische Gesellschaft vor dem Abgrund: ein Heer an Arbeitslosen, Perspektivlosigkeit, die Jugend lebt ihren Frust in Gewalt aus und gerät außer Kontrolle. Eine Schulklasse wird ausgelost und statt auf die Abschlussfahrt auf eine einsame Insel verfrachtet, wo die Jugendlichen sich unter Aufsicht des Militärs und ihres ehemaligen Lehrers Kitano (Takeshi Kitano) gegenseitig umbringen müssen. Nur der letzte Überlebende darf die Insel verlassen.
Battle Royale ist aber keiner der üblichen Splatter-Filme, auch wenn natürlich reichlich Blut fließt und junge hübsche Mädchen im Dutzend niedergemetzelt werden. Es gibt nämlich keinen äußeren Feind, der die Gruppe nach und nach dezimiert (auch wenn Takeshi Kitano als sadistischer Lehrer einen herrlichen Schurken abgibt). Vielmehr sind es die Schüler selbst, die gegeneinander aufgehetzt ihre eigenen Klassenkameraden bis aufs Blut bekämpfen.
So wird der Film zu einer bitteren, ins groteske übersteigerten Auseinandersetzung mit den gesellschaftlichen Verhältnissen Japans um die Jahrtausendwende. Über allem wird der extreme Konkurrenzdruck, dem Schüler bereits von Kindheit an ausgesetzt sind und der sich nahtlos in der späteren Arbeitswelt fortsetzt, thematisiert. Dieser Druck führt dazu, dass Klassenkameraden, die sich eigentlich gegenseitig helfen und Vertrauen ineinander haben sollten, sich gegenseitig verraten, vergiften und hinterrücks erschießen.
Natürlich kristallisieren sich schnell bestimmte Typen unter den Schülern heraus: Die berechnende Egoistin, die auch Sex als Waffe nutzt, der Psycho, der aus purer Freude tötet, die mit Gift spielende Eifersüchtige, eine kleine Gruppe von Nerds, die in bester A-Team-Manier Sprengstoff selbst mischen und die Technik des Militärs unterwandern und natürlich das aufrechte Liebespaar, das sich dem Töten verweigert. Was sie alle verbindet (und Anlass zu wunderbaren Diskussionen über Spieltheorie bietet) ist der Mangel an Vertrauen den anderen gegenüber, und nur dadurch kann das „Spiel“ funktionieren.
Aber auch andere Aspekte des Alltags bekommen ihr Fett weg, allen voran die Medien: Der Film eröffnet mit einer Sequenz, in der die Vorjahres-„Siegerin“, ein blutbespritztes, wirr lächelndes Mädchen, von einem Pulk abgehetzter Journalisten empfangen wird. Und die Regeln des Spiels werden den Schülern mittels eines Videoclips vermittelt, in der eine dralle, hyperaktive Moderatorin in Hot Pants und Patronengürtel in bester Dschungelcamp-Manier die Jugendlichen auffordert, beim gegenseitigen Gemetzel ihr Bestes zu geben.
In Form des Lehrers Kitano, der zunächst als rechtschaffenes Opfer der gewalttätigen Schüler eingeführt wird, nimmt Regisseur Fukasaku auch das Establishment aufs Korn. Nicht nur dass er mittels einiger kurzer Telefonate zwischen Kitano und dessen Familie auch dessen verpfuschtes Privatleben beleuchtet, das ihm keinerlei Halt mehr gibt und ihn als leer und vereinsamt porträtiert.
Mehr noch wird Kitano als gewissenloser Sadist präsentiert, der nur auf Rache an den Schülern aus ist, die ihm das Leben zur Hölle gemacht haben. Einzig eine von ihm verehrte Schülerin, Noriko (Aki Maeda), gibt ihm noch so etwas wie Hoffnung, alle anderen würde er am liebsten eigenhändig umbringen, wie am Ende ein von ihm gemaltes Bild zeigt. Rache- und Mordphantasien sind eben nicht nur auf computerspielende Kids beschränkt, sondern kommen sehr wohl auch bei Familienvätern und Respektspersonen (Lehrer haben in Japan noch einen deutlich höheren Stellenwert als in Deutschland) vor.
Als Film begeistert mich Battle Royale nicht wirklich. Er ist gut und routiniert gemacht, mit vielen, die Stimmung mitprägenden, in kalten Blau- und Grautönen gehaltenen Einstellungen. Die Hemmungslosigkeit, mit der sich die Teenager gegenseitig umbringen, verliert jedoch bald den Reiz des Schockierenden. Echte Spannung kommt kaum auf, weil für eine Identifikation viel zu viele Schüler über die Klinge springen müssen und weil bereits relativ bald absehbar ist, wer am Ende überleben wird.
Als bittere, desillusionierte Anklage einer auf bedingungslosen Wettbewerb ausgerichteten Gesellschaft, in der Gewalt als ein legitimes Problemlösungskonzept dargestellt und propagiert wird und in der elementare menschliche Werte dem individuellen Erfolg nur im Wege stehen, trifft Battle Royale allerdings einen Nerv unserer Zeit. Und stellt uns allen die Frage: Wie konnte es so weit kommen?
Yasujiro Ozu wurde nicht zuletzt wegen seines außergewöhnlichen, unverkennbaren Stils zu einer Ikone der japanischen Filmgeschichte. Gerne genannt werden etwa die niedrig positionierte Kamera, die Beschäftigung mit der (japanischen) Familie oder die besondere Nutzung des Raums welche im Widerspruch mit Hollywood-Konventionen steht. Zu diesen Markenzeichen gehören jedoch auch ganz simple, wiederkehrende Motive, und eines davon möchte ich heute vorstellen.
So gut wie jeder Film Ozus enthält eine Ansicht von zum Trocknen aufgehängter Wäsche. Bereits in seinen frühen Filmen der 30er Jahre, wie etwa in A Story of floating Weeds aus dem Jahr 1934, taucht die trocknende Wäsche auf, hier noch eingebunden in den Kontext der Handlung (die Schauspieltruppe hat Waschtag und plaudert nebenbei über Glück und Unglück):
Auch in Record of a tenement gentleman von 1947 besteht noch ein Bezug des im Wind trocknenden Futons zur Handlung, in der ein bettnässender Junge von einer älteren Frau aufgenommen wird.
In den späteren Filmen dienen die Ansichten der trocknenden Wäsche dann ausschließlich als überleitende, Kontext etablierende sowie Stimmung und Atmosphäre vermittelnde Einschübe. Beispiele wären…
Tokyo Story (1953):
Early Spring (1956):
An Autumn Afternoon (1962):
Wie diese Abfolge an Screenshots zeigt, nutzt Ozu dieses wiederkehrende Element seiner Filme, um auf den Wandel Japans hinzuweisen und die Veränderungen im Leben der Menschen anzudeuten bzw. zu unterstreichen. In den frühen Filmen, vor dem japanischen Wirtschaftswunder, werden fast immer auf hölzernen Gerüsten hängende, einfache weiße Unterwäsche oder Yukatas in diesen Ansichten gezeigt. Diese werden zum Ausdruck der einfachen Lebensweise der Charaktere und der Zuschauer gleichermaßen.
In seinen späteren Filmen dagegen greift er den gewachsenen Wohlstand auf (beispielsweise auch, indem seine Charaktere plötzlich Golf spielen). Entsprechend verlagert Ozu in An Autumn Afternoon, dem letzten Film vor seinem Tod, die Wäsche auf Hochhausbalkone. Sie hängt jetzt auch nicht mehr auf Holzgerüsten sondern auf Plastikstangen und bildet ein buntes Durcheinander aus allerlei Tüchern, Hemden, Unterwäsche.
Es handelt sich also nicht nur um eine witzige Marotte (wie etwa die kurzen Auftritte Hitchcocks in seinen eigenen Filmen), die keinen tieferen Zweck verfolgt, sondern um ein Motiv, das sich im Lauf der Zeit mit den Filmen verändert und damit auch die Entwicklung der Gesellschaft und ganz Japans aufgreift und transportiert.
Weitere Markenzeichen Ozus:
Teil I – Sackleinen
Teil III – Zugfahrten
23 Feb
In den letzten Tagen haben sich einige interessante Artikel in meinem Feed-Reader angesammelt, die ich gerne an euch weiterreichen möchte.
Das wars für heute, schönes Wochenende noch!
21 Feb
Ad Blankestijn studierte Japanologie und war jahrelang an der niederländischen Botschaft in Tokyo tätig. Heute bietet er Touren durch Kyoto an und bloggt über Japan als Japan Navigator. Im Vordergrund steht dabei logischerweise das faszinierende Kyoto mit seinen hunderten von Tempeln. Ad schreibt dazwischen aber auch immer mal wieder über seine Lieblingsfilme oder über die japanische Besessenheit mit Essen. Außerdem ist er ein akribischer Sammler von Links, ein Blick in seine Blogroll lohnt sich wirklich!
Meine zweite Empfehlung ist mal wieder ein Blog eines Autors aus dem Midnight Eye-Team, nämlich von Nicholas Rucka. Im Maboroshii Productions-Blog schreibt er in locker-flockigem, sehr unterhaltsamen Stil über Filme, Musik, kulturell-künstlerisches ganz allgemein, Technikthemen und allerhand skurriles. Besonders ans Herz legen möchte ich euch sein Review zu Toki wo kakeru shōjo (besser bekannt als Das Mädchen, das durch die Zeit sprang), ein ganz vorzüglicher Anime, den ich mir auch noch ausführlicher vornehmen muss.