Original: Tora no o wo fumo otokotachi (1945), von Akira Kurosawa
Nach einer Niederlage in der Schlacht ist der Fürst Yoshitsune gezwungen, mit einer Handvoll treuer Anhänger vor den siegreichen Truppen zu fliehen. Unter Führung des berühmten Kriegers Benkei (Denjirō Ôkochi) gibt sich der kleine Trupp als Mönche auf Wanderschaft aus und der Fürst wird als Gepäckträger verkleidet. Zusammen mit einem echten Träger (Kenichi Enomoto) geraten sie schließlich an einem Kontrollposten unter Verdacht.
Benkei versucht mit allen Mitteln, den Offizier Togashi (Susumu Fujita) von der Harmlosigkeit der Flüchtigen zu überzeugen. Ein spannendes Argumentations- und Rededuell zwischen den beiden entspannt sich, während dem das Schicksal der Truppe am seidenen Faden hängt und der Träger, der zwischenzeitlich das Versteckspiel der „Mönche“ durchschaut hatte, tausend Tode stirbt.
In den letzten Kriegsmonaten 1945 gedreht, sieht man dem Film deutlich an, dass Kurosawa bei der Umsetzung nur einfachste Mittel zur Verfügung standen. Abgesehen von einigen kurzen Szenen, in denen die Wanderung durch die Wälder gezeigt wird, beschränkt sich die Handlung auf zwei, drei bühnenartige Sets, was dem Film dann fast den Charakter eines Bühnenstücks verleiht. Auch die Laufzeit von nur 60 Minuten deutet auf die schwierigen Bedingungen in der Endphase des Krieges hin. Weil im Zentrum des Films traditionelle feudalistische Rollenverhältnisse und historische Ereignisse stehen, wurde Die dem Tiger auf den Schwanz treten von den amerikanischen Zensoren denn auch zunächst verboten.
Trotz dieser problematischen Rahmenbedingungen ist Kurosawas Genie unverkennbar, sei es in der Eingangssequenz (die stark an die späteren Waldszenen in Rashomon erinnern, mit denen er weltberühmt werden sollte), in der Inszenierung des Showdowns zwischen Benkei und Togashi oder den komischen Auftritten von Kenichi „Enoken“ Enomoto, einem der bekanntesten Komiker der Stummfilmzeit, in dessen Perspektive uns der Film versetzt.
Unbestrittener Höhepunkt des Films ist jedoch der Moment, als die Identität des fliehenden Fürsten aufgedeckt zu werden droht. Geistesgegenwärtig greift Benkei zum Äußerstes und prügelt auf seinen als Träger verkleideten Fürsten ein, angesichts des feudalistischen Ehrenkodex ein ungeheuerlicher Vorgang! Spannenderweise ist es in dieser Szene eben der Träger Enoken, der dies nicht mitansehen kann, dem Fürsten zu Hilfe eilt und Benkei von weiteren Schlägen abhält, während alle anderen wie versteinert sind.
Kurosawa klärt denn auch nicht endgültig, ob Togashi die Truppe schließlich passieren lässt, weil er durch Benkeis Handeln davon überzeugt war, dass es sich tatsächlich nicht um Yoshitsune handeln konnte, oder weil er so großen Respekt vor Benkeis Mut und Unkonventionalität hat. Es gibt aber einige Hinweise, dass die letzte Variante die zutreffende ist, einfach weil sie viel besser in den Gesamtkontext des Films passt, der sich sehr stark mit Rollenverhältnissen beschäftigt.
Zunächst natürlich in Form der Samurai, die in die Rolle von Mönchen schlüpfen, um ihren Feinden zu entkommen. Dann die mit den verschiedenen Gesellschaftsschichten verbundenen Gegensätze zwischen den Samurai und dem Träger. Letztlich die Hochachtung Togashis gegenüber Benkei, der das Dilemma, seinen Herrn nur retten zu können, indem er gegen alle Regeln verstößt und ihn erniedrigt, überwindet, indem er aus seiner Rolle ausbricht und das Undenkbare tut. Der Verstoß gegen den Ehrenkodex wird somit zum Beweis seiner grenzenlosen Loyalität.
Zu faszinieren weiß auch der Träger, der mit seinen Grimassen, seinem ständigen Gequatsche und seinem quirligen Wesen einen krassen Gegensatz zu den ganz in sich und ihre Mission versunkenen Samurai darstellt. In der Verkörperung durch Enoken wird dessen Herkunft aus dem Stummfilm deutlich, seine Darstellung wirkt für uns heute schon fast grotesk überzogen, was sich aber wunderbar in den erwähnten Gegensatz zu den Samurai einfügt. Ein wirkliches Kleinod aus der ganz frühen Schaffensphase Kurosawas!
Heute morgen kam sie hereingeflattert, die Mail mit den ersten Filmankündigungen für die diesjährige NipponConnection, die vom 2. bis 6. April wieder tausende Fans und Filmschaffende gleichermaßen nach Frankfurt locken wird.
Und ein paar Leckerlis sind definitiv dabei, beispielsweise Makoto Shinkais (genau, das ist der von The Place Promised) neueste emotionale Achterbahnfahrt 5 centimeters per second. Oder der Besuch von Nobuhiro Yamashita, der in der Mail ganz bescheiden als „rising star“ betitelt wird (ok, Linda Linda Linda ist großartig, aber ob das reicht?) und seinen neuen Film A Gentle Breeze in the Village im Gepäck hat. Auch der zweite Appleseed ist eingeplant, wobei mich der erste schon ziemlich enttäuscht hat, das haut mich also nicht um.
Und dann sind noch einige weniger bekannte, aber von der Kritik sehr gelobte Filme im Aufgebot, etwa Asyl von Izuru Kumasaka, der gerade dieser Tage auf der Berlinale als bester Erstlingsfilm ausgezeichnet wurde und der so neu und unbekannt ist, dass es noch nicht mal einen IMDb-Eintrag gibt, den ich verlinken könnte. Der Preisträger des Free Spirit-Awards des Warschauer Internationalen Filmfestivals, Daihachi Yoshidas Funuke, show some love you losers ist auch mit von der Partie, ebenso wie United Red Army, ein Film des New-Wave-Veterans Koji Wakamatsu (Go Go, Second Time Virgin).
Ziemlich verwundert war ich über die Ankündigung von The Mourning Forest, der ja eigentlich schon letztes Jahr auf mehreren Festivals lief und etwas verbraucht ist… was aber niemanden davon abhalten soll, sich diesen wunderbaren Film anzusehen!
Die kompletten, in der Ankündigung genannten Filme:
Und ich kann wieder nicht hin 🙁
Gestern wurden zum 31. Mal von der Nippon Academy-sho Association die Japan Academy Awards vergeben. Großer Gewinner mit fünf Preisen war Tokyo Tower. Die Adaption der Autobiographie des Künstlers Lily Franky mit Joe Odagiri in der Hauptrolle wurde als bester Film sowie für Regie, Drehbuch, Hauptdarstellerin und Nebendarsteller ausgezeichnet.
Drei weitere Preise gingen an Bizan sowie I just didn’t do it, eine halbdokumentarische, kritische Auseinandersetzung mit dem japanischen Justizsystem. Als bester Anime wurde Tekkonkinkreet ausgezeichnet und als bester ausländischer Film Clint Eastwoords Letters from Iwo Jima.
Hier sind die Gewinner:
Und für Japanisch-Versteher der Link zu allen Nominierten.
13 Feb
Heute, am 13. Februar 2008, starb mit Kon Ichikawa der letzte große Regisseur aus der goldenen Phase des japanischen Nachkriegskinos im stolzen Alter von 92 Jahren. 60 Jahre lang war er als Regisseur tätig gewesen: 1946 drehte er seinen ersten eigenen Film, Musume dojoji, nachdem er zunächst als Trickfilmzeichner zum Film gekommen war und dann als Regieassistent Erfahrungen sammelte.
Nach einer Reihe von Komödien (darunter ein Remake des 20er-Jahre Klassikers The Woman who touched the leg) erlebte er seinen Durchbruch mit The Burmese Harp. Innerhalb kurzer Zeit etablierte er sich mit weiteren großen Werken wie Conflagration, Bonchi, Odd Obsession und wurde 1964 mit der Dokumentation der Olympischen Spiele in Tokyo beauftragt. Diese Phase seiner Karriere war geprägt von der Zusammenarbeit mit der Drehbuchautorin Natto Wada, die er auch heiratete, und dem Kameramann Kazuo Miyagawa, unbestritten der herausragendste seines Fachs in der japanischen Kinogeschichte.
In dieser Zeit genoss Ichikawa weitgehende künstlerische Freiheit und konnte seine Projekte nach Belieben umsetzen. Die Studios erlaubten ihm sogar Extravaganzen wie die finale Einstellung von The Broken Commandments, für die er zwei Wochen lang mit seinem Team auf Schneefall wartete. Diese Filme beschäftigen sich meist mit sozialen Missständen und gesellschaftlichen Problemen, den Seiten der Realität, die gern ausgeblendet werden.
Nachdem Wada Mitte der 1960er Jahre die Arbeit an Drehbüchern aufgab, gelang es ihm nicht mehr, an diese brillante Phase seines Schaffens anzuknüpfen. Gemeinsam mit Akira Kurosawa und Kinoshita Keisuke gründete er ein eigenes Produktionsstudio, das sich jedoch nach nur einem Projekt (Kurosawas Dodeskaden) wieder auflöste. Ichikawa drehte weiter, unter anderem 1985 ein Remake von The Burmese Harp. Seinen letzten Film drehte der 1915 Geborene genau 60 Jahre nach seinem Debut im Jahr 2006, als er bereits jenseits der 90 war.
Wichtige Filme Kon Ichikawas:
1946 – Musume dojoji
1956 – The Burmese Harp
1956 – Nihonbashi
1958 – Conflagration
1959 – Odd Obsession
1959 – Fires on a Plain
1960 – Bonchi
1962 – The Broken Commandments
1963 – An Actor’s Revenge
1964 – Tokyo Olympiad
1966 – Genji monogatari
1976 – The Inugami Family
1983 – Sasame yuki
2000 – Doraheita
2006 – The Inugamis
Wieder einmal bietet Criterion mit seiner Eclipse Series einen Überblick über eine bestimmte Schaffensphase eines japanischen Regisseurs: Nach Postwar Kurosawa und Late Ozu folgt demnächst, am 22. April, eine neue Ausgabe mit Stummfilmen Yasujiro Ozus: Silent Ozu, bestehend aus drei Werken, mit denen Ozu wesentlich zur Ausformung und Etablierung des Shomingeki-Genres beitrug.
Die Edition enthält Tokyo Chorus (1931), I was born but… (1932) und Passing Fancy (1933), für die jeweils komplett neue musikalische Begleitung von Donald Sosin komponiert wurde. Es handelt sich dabei um einige der bekanntesten Filme aus Ozus früher Schaffensphase, in der er zwischen Komödie, Romanze und Familiendrama schwankte und in der sich langsam sein filmischer Ansatz herauskristallisierte, der dann mit A Story of Floating Weeds erstmals konkrete Gestalt annahm.
Ein wahres Juwel also, das einen wichtigen Einblick in die Entwicklung des Regisseurs geben sollte. Für 33,69 US-Dollar kann das Set bei Amazon jetzt schon vorbestellen, was sogar günstiger als im Criterion Shop selbst ist (da Criterion nur in Nordamerika ausliefert, fällt diese Option für unsereiner aber sowieso weg). Für den Ozu-Aficionado ein absolutes Muss!
Normalerweise empfehle ich hier ja nur Bücher, die ich selbst gelesen habe. Aber Vilis Review von Bert Cardullos Akira Kurosawa Interviews spricht alle wichtigen Punkte an, fasst den Inhalt kurz zusammen, nennt Highlights (einen 30-seitigen Bericht einer Journalistin über einen Besuch Kurosawas in New York) und Schwächen (keine japanischen Interviews wurden einbezogen) und die Zielgruppe, für die das Buch am interessantesten ist:
In fact, in my mind the optimal audience for Akira Kurosawa: Interviews is neither the newcomer nor the casual fan, but rather one who is serious about Kurosawa, and perhaps doing research on him for one reason or another. And indeed, as a research tool Interviews is an excellent book. Not only does it provide the actual primary sources for information that has been reprinted elsewhere, but it also comes with a truly excellent index. If you need to look up anything, you will come to appreciate this.
Daher will es bei diesem Hinweis belassen. Sollte ich das Buch demnächst in die Hände bekommen (was angesichts von Einstiegspreisen knapp über 10 Euro ziemlich wahrscheinlich ist), reiche ich natürlich noch meine eigene Meinung und eine etwas ausführlichere Übersicht des Inhalts nach.
4 Feb
Original: Tokyo monogatari (1953), von Yasujiro Ozu
Tomi (Chieko Hagashiyama) und Shukishi (Chishu Ryu), ein älteres Ehepaar, reisen aus der Provinz nach Tokyo, um ihre Kinder und Enkelkinder zu besuchen. Nach der anfänglichen Freude und Begeisterung anlässlich des Wiedersehens müssen die beiden bald erfahren, dass ihre Kinder angesichts der Arbeit und ihrer eigenen Familien kaum Zeit und Geduld haben, sich mit den beiden Alten abzugeben. Nur ihre verwitwete Schwiegertochter Noriko (Setsuko Hara) ist sehr bemüht und kümmert sich rührend um die Besucher.
Nach dem Besuch eines Seebads, wo Tomi einen Schwächeanfall erleidet, machen sich die beiden wieder auf die Heimreise, die sie jedoch in Osaka bei ihrem jüngsten Sohn wegen eines erneuten Anfalls unterbrechen müssen. Kaum sind sie zuhause angelangt, fällt Tomi ins Koma und stirbt wenig später. Die Familie kommt erneut zusammen, um von der Mutter Abschied zu nehmen.
Für einen Film mit 135 Minuten Lauflänge ist das eine, na sagen wir, nicht gerade dicht gedrängte Handlung. Doch die Handlung ist für Yasujiro Ozu nicht das zentrale Organisationsprinzip seiner Filme, was Tokyo Story idealtypisch aufzeigt. In fast allen seiner Filme geschehen oberflächlich gesehen völlig alltägliche und normale Dinge, die bei genauer Betrachtung aber an tiefe Gefühle rühren. So auch hier: Ein Familientreffen; kleinere Streitigkeiten unter Verwandten; Kinder, die sich von ihren Eltern entfremden; Eltern, die genau darüber enttäuscht sind; Trauer und Umgang mit dem Verlust eines geliebten Menschen. Der Lauf des Lebens eben.
Doch schon so mancher Regisseur ist daran gescheitert, den Lauf des Lebens in 135 Minuten zusammenzufassen. Und Ozu zeigt diesen nicht nur aus der Perspektive der beiden Alten. Er setzt sich auch mit der Gefühlswelt der trauernden Noriko, der nahegelegt wird, wieder zu heiraten, den Nöten der Kinder und der Enttäuschung der noch bei den Eltern lebenden jüngsten Tochter Kyoko (Kyoko Kagawa) angesichts ihrer nach dem Tod der Mutter rasch in den Alltag zurückkehrenden älteren Geschwister auseinander.
Dabei wahrt Ozu immer die Distanz, wird nie wertend oder schwingt lehrerhaft den Zeigefinger. Jede Generation hat ihre eigenen Bedürfnisse, Nöte und Herausforderungen und muss ihren eigenen Weg finden und gehen. Daran ist nichts Gutes oder Schlechtes, es ist einfach der Lauf des Lebens, und sich darüber zu grämen oder zu jammern ist sinnlos und verursacht nur Magengeschwüre. Für diese Einsicht stehen besonders Shukishi und Noriko.
Am Anfang des Films sehen wir ihn mit seiner Frau Tomi beim Packen, eine Nachbarin schaut vorbei und wünscht eine gute Reise. Dieses Bild Shukichis, vor einem Fenster sitzend, wird später im Film wiederholt auftauchen. Zunächst wieder zusammen mit Tomi, doch dann er allein, während sie draußen mit ihrem Enkel spielt und dabei über ihren Tod sinniert. Damit deutet Ozu vorsichtig bereits die letzten Szenen des Films an, als Shukichi wieder zuhause vor dem Fenster sitzt, nach Tomis Tod, für immer allein. Wieder schaut die Nachbarin vorbei, diesmal, um ihr Beileid auszudrücken.
So verlassen wir Shukichi in fast exakt derselben Szene, in der wir ihm zuerst begegnet sind, nur dass er nun dem Rest seines Lebens allein entgegen sehen muss. Doch er trägt dieses Schicksal mit Fassung, fast stoisch, und nutzt die Gelegenheit der Trauerfeier, um der angereisten Noriko noch einmal nahezulegen, wieder zu heiraten und den Kreis des Lebens erneut in Gang zu setzen.
Noch deutlicher bringt Noriko es auf den Punkt. Auf Kyokos Enttäuschung über die älteren Geschwister, die sich nach der Trauerfeier rasch auf den Rückweg nach Tokyo machten, erwidert sie dieser, dass diese nunmal ihr eigenes Leben hätten und es nur logisch wäre, dass für sie daher die Eltern nicht mehr im Zentrum stünden. Auf Kyokos verärgerten Ausruf „Ist das Leben nicht enttäuschend!?“ antwortet Noriko lächelnd: „Ja, das ist es.“ Dieser Ausdruck der Erkenntnis und fast freudiger Akzeptanz des Schicksals ist nicht zuletzt dank Setsuko Hara der Höhepunkt des Films, und eine der eindringlichsten Szenen in einem Ozu-Film überhaupt.
Wie nebenbei erreichte Ozu mit Tokyo Story auch noch den Höhepunkt (Achtung, ich kenne noch lange nicht alle seine Filme, aber die bekannteren) seines im Weltkino wohl einzigartigen, in sich geschlossenen und stringenten Stils, der sich keineswegs in ästhetischen Aspekten erschöpft, auch wenn diese eine wichtige Rolle spielen, siehe seine Kameraführung, sondern konzeptionell sehr viel breiter aufgestellt ist. Dazu gehören insbesondere sein außergewöhnlicher Umgang mit Raum und Zeit.
Dass er auf Kontinuität der dargestellten Handlung nicht allzuviel Wert legt, wird in Tokyo Story gleich mehrfach deutlich: Die Reise nach Tokyo selbst, inklusive eines Zwischenstops in Osaka sowie die Erkrankung Tomis auf der Rückreise werden komplett ausgeklammert. Die Bedeutung der Narration als ordnendes Element eines Films schwächt er weiter ab durch fehlende zeitliche Bezüge: Außer bei der Organisation der Trauerfeier gibt es für uns Zuschauer kaum eine Möglichkeit, einzuschätzen, wieviel Zeit verstreicht.
Als ob dies nicht verwirrend genug wäre, spielt Ozu permanent mit räumlichen Verhältnissen. Ein Mittel sind die überleitenden Stilleben, die er zum einen nutzt, um Orte der Handlung zu etablieren, aber auch, um mit geweckten Erwartungen zu spielen. Bestes Beispiel dafür ist die beschriebene Eingangsszene, in der Tomi und Shukichi sich über den Verlauf ihrer Reise unterhalten und den Zwischenstop in Osaka erwähnen. Nach dem Gespräch sehen wir verschiedene Szenen einer Großstadt und ihrer Vororte und erwarten logischerweise, dass Osaka nun der Handlungsort ist. Stattdessen sind wir schon in Tokyo, die Reise wurde übersprungen und die doppeldeutigen Stillleben verstärken unsere Überraschung noch zusätzlich.
Die auffälligste Art der Raumbehandlung bei Ozu ist jedoch seine Verwendung eines 360-Grad Raums statt des sonst üblichen 180-Grad Raums. Er bewegt die Kamera ohne die sonst üblichen Kontinuitäts-Einschränkungen (die dafür sorgen sollen, dass der Zuschauer sich leicht orientieren und problemlos der Handlung folgen kann) frei im Raum. Die untere Zusammenstellung von neun direkt aufeinanderfolgenden Einstellungen bzw. Schnitten innerhalb einer Szene macht dies deutlich (Ablauf in Zeilen wie beim Lesen).
Wir sehen Noriko und die sie besuchenden Schwiegereltern, Blick auf Noriko. Der normale Ablauf wäre nun, immer einen oder zwei über die uns zugewendete Schulter der jeweils anderen Person zu zeigen, damit die Sitzpositionen, Blickrichtungen und der Hintergrund derselbe bleiben und der Zuschauer nicht verwirrt wird. Doch Ozu springt unvermittelt auf die gegenüberliegende Seite des Raums, wir sehen nun Noriko von hinten und Tomi und Shukichi „tauschen“ die Plätze und der Hintergrund ist komplett ausgetauscht. Im Verlauf des Gesprächs sehen wir die Darsteller jeweils frontal, und am Ende springen wir noch zweimal auf die andere Seite des Raums. Jedes der neun Einzelbilder könnte für sich genommen einer komplett anderen Szene zugehören, es gibt für den unbedarften Betrachter kaum eine Möglichkeit, diese zueinander in Bezug zu setzen.
Neben der sensiblen Auseinandersetzung mit dem Verfall familiärer Beziehungen, dem Umgang mit dem Alter, Tod und Verlust bietet Tokyo Story also auch noch ein filmisches Selbstverständnis, das regelrecht als alternativer Ansatz zu den gängigen Konventionen verstanden werden kann. Nicht umsonst wird Tokyo Story seit Jahrzehnten von Filmkritikern und -theoretikern mit schöner Regelmäßigkeit zu den besten Filmen in der Geschichte des Kinos gerechnet.
2 Feb
Eigentlich wollte ich euch heute ein Posting von Kristin Thompson auf David Bordwell’s Blog vorstellen, in dem sie sich mit der Bedeutung der neuen Kino-Technologien Ton und Farbe beschäftigt. Leider ist das Posting mit dem Titel All singing! All dancing! All teaching! aber nicht mehr live, ich hab es nur noch in meinem RSS-Reader. 🙁 Da ich davon ausgehe, dass es einen guten Grund (versehentlich live gestellt? Rechte?) für das Verschwinden gibt, lediglich technische Probleme waren (siehe Kristins Kommentar) und ich nun schonmal angefangen hab zu schreiben, möchte ich euch nun statt dessen zusätzlich auf ein Interview verweisen. Das ursprünglich geplante Posting kommt in den nächsten Tagen.
Das Wort zum Sonntag spricht somit Hiroki Ryuichi, der vor 5 Jahren mit Vibrator einem größeren Publikum bekannt wurde und davor vor allem im Bereich der Pink-Filme tätig war und das Genre durch Einsatz von Videokameras in den 80ern stark beeinflusste. Er berichtet darin unter anderem von Problemen bei der Realisierung von Projekten:
Für mich ist es schwierig eine Idee zu verwirklichen, denn die Produktionsfirmen stimmen meinen Projekten oft nicht zu. Das ist schade. Damit muss man sich aber zu Recht finden. Ein Arbeitstag, sofern ich drehe, denn wenn ich nicht drehe hab ich keine Arbeit, beginnt so um fünf Uhr Früh. Dann hab ich meistens 12 Stunden Schichten.
Seine Antwort auf die Frage, ob man Filmemachen lernen könne, sollte jeden der sich mit dem Gedanken trägt, einen Film zu drehen, ermutigen, denn seiner Meinung nach hängt alles von der Idee ab. Man müsse es nur schaffen, das Interessante vom Uninteressanten zu trennen und sich dann auf ersteres zu konzentrieren. So einfach ist das also! 😉
Das ganze Interview lest ihr bei Stefan.