Seit über 80 Jahren benennt das renommierte Filmmagazin Kinema Junpo jährlich die 10 besten japanischen Filme. Ohne große Worte zu verlieren, das sind die ausgezeichneten des vergangenen Jahres:

  1. I just didn’t do it (Masayuki Suo)
  2. A gentle breeze in the village (Nobuhiro Yamashita)
  3. Talk, Talk, Talk (Hideyuki Hirayama)
  4. Sad Vacation (Shinji Aoyama)
  5. Summer Days with Coo (Keiichi Hara)
  6. Dog in a Sidecar (Kichitaro Negishi)
  7. Matsugane Pot Shot Affair (Yobuhiro Yamashita)
  8. Tamamoe (Junji Sakamoto)
  9. Yunagi City, Sakura Country (Kiyoshi Sasabe)
  10. Funuke show some love, you losers (Daihachi Yoshida)

Bin mal gespannt, welche davon auf den anstehenden Festivals hierzulande gezeigt werden.

Via Jason Gray

Jedesmal wenn wir ihn ansehen, führt er anderes Wasser.

Eine sehr interessante Frage hat Girish Shambu auf seinem Blog aufgeworfen: Wie verändert sich unsere Wertschätzung eines Films bei mehrfachem Ansehen desselben über eine längere Zeit? Ändern wir unsere Wahrnehmung eines Films, wenn wir ihn zu einem späteren Zeitpunkt noch einmal sehen? Wenn wir mehr über den Film und seine Hintergründe wissen, etwa durch Kritiken, Zusatzmaterial auf DVDs oder einfach weil wir älter geworden sind und mehr Lebenserfahrung haben? Er stellt dabei sehr auf den analytischen, diskursiven Wert ab:

I find that the €˜value€™ of a film (and by this I mean not some €˜objective value€™ but a subjective determination of the value to a particular viewer) is a complex, mutating entity. Let€™s say that on a given day, I watch a film, think about it, and arrive at a determination of its €˜value€™. As time passes, my thoughts of this film don€™t stay fixed but are instead joined with all the discourse (watching, talking, writing), both about this film and cinema in general, that I encounter from then on.

Im Gegensatz zu Girishs Ansatz (der natürlich auch sehr spannend ist, keine Frage!) sehe ich für mich aber mehr den rein persönlichen Zugang, die individuelle Rezeption losgelöst von wohl überlegtem und analysierten Wert im Vordergrund. Also wie sich etwa meine persönliche Lebenssituation geändert hat oder dass ich den Film in einer komplett anderen Stimmung ansehe und dadurch ein anderes Seherlebnis habe.

Das erste Mal, dass man einen Film sieht, ist immer etwas ganz Besonderes und wann immer man ihn sich noch einmal ansieht, es wird nie wieder so sein wie beim ersten Mal. Bei manchen Filmen kommt Enttäuschung auf, weil man inzwischen erfahren hat, dass er stark auf früheren Werken anderer Künstler aufbaut. Oder weil die Faszination der Geschichte, das Entgegenfiebern der Auflösung wegfällt.

Genausogut kann es sein, dass man es erst bei einem späteren Wieder-sehen richtig funkt. Mir ging das beispielsweise mit Once Upon a Time in the West so. Als ich den das erste Mal gesehen habe, bin ich irgendwann als mal wieder nichts passierte eingeschlafen. Ein paar Jahre später, beim zweiten Ansehen, war ich komplett von den Socken.

Für mich persönlich ist dabei auch die Stimmung sehr wichtig, und zwar nicht nur meine eigene sondern auch die erweiterte Stimmung einer Situation. Was ich damit meine? Wenn du dir einen Film mit deiner Freundin/deinem Freund zusammen anschaust, mag er wunderbar zu eurem Verliebtsein, eurer Zweisamkeit passen und dir bzw. euch etwas ganz besonderes geben. Wenn du ihn dir aber später allein ansiehst, ist er einfach nur stinklangweilig. Oder im schlimmsten Fall, wenn ihr euch inzwischen getrennt habt, weckt er Erinnerungen an die Umstände des ersten Sehens und ruft Schmerz oder Ablehnung hervor, die mit dem Film selbst überhaupt nichts zu tun haben.

Bei mir ist es inzwischen auch so, dass manche Filme die mir sehr gefallen und die ich schon oft gesehen habe eine gewisse Aura entwickeln, weil ich mit ihnen bestimmte Ereignisse, Erinnerungen oder Stimmungen verbinde. Und so schaue ich mir diese Filme nicht nur wegen des Films an sich nochmal an, sondern auch, um in diese ganz eigene Aura einzutauchen.

Wie geht dir das?

Viele Kritiker und Cineasten schätzen Yasujiro Ozu als außergewöhnlichsten und herausragendsten japanischen Regisseur überhaupt. Eine wichtige Rolle spielt dabei sein unverkennbarer, nicht nur an ästhetischen Merkmalen orientierter sondern auch konzeptionell und thematisch einzigartiger Stil. Gerne genannt werden etwa die niedrig positionierte Kamera, die Beschäftigung mit der (japanischen) Familie, die besondere Nutzung des Raums welche im Widerspruch mit Hollywood-Konventionen steht und vieles mehr. David Bordwell bezeichnet Ozus Filme gar als einen kompletten Gegenentwurf zum „klassischen“ Hollywood-Kino.

So ist es vielleicht verständlich, dass ich einen Heidenrespekt vor seinen Filmen hatte und diese bisher nicht gebloggt habe, auch wenn Tokyo Story neben Rashomon und den Miyazaki-Filmen das Feuer meiner Faszination für japanische Filme ursprünglich mit angefacht hat. Als Einstieg in das Thema Ozu und um an einem ganz simplen Beispiel einen ersten Eindruck zu vermitteln, was seine Filme so einzigartig macht, möchte ich heute die Titelsequenzen heranziehen.

Titel Story of floating weeds

Der Screenshot zeigt den Titel des 1934 entstandenen Films A Story of Floating Weeds, im Original Ukigusa monogatari. Die gesamten Credits der Beteiligten werden genau wie der Titel vor dem Hintergrund eines simplen Stückes Sackleinenstoff gezeigt. In seinen zuvor gedrehten Filmen wie Passing Fancy oder I was born, but… dienten jedoch comic-hafte Zeichnungen als Hintergründe für die Titel. Ozu schafft hier also einen starken Gegensatz und hebt den Film von Anfang an allein durch die Titelsequenz schon von seinen früheren Filmen ab.

Da A Story of Floating Weeds in einer ländlichen Kleinstadt spielt, unterstreicht er durch diesen Gegensatz zunächst wunderbar die Atmosphäre des Films. Insofern könnte man das Sackleinentuch einfach als konsequentes Mittel zur Abrundung und Ergänzung des Erscheinungsbilds dieses speziellen Films abtun. Aber Ozu machte diesen Auftakt zu einem festen Bestandteil für seine nachfolgenden Filme und somit zu einem Markenzeichen für sein Werk ganz generell!

Record of a tenement Gentleman (1947):

Titel Record of a tenement gentleman

Tokyo Story (1953):

Titel Tokyo Story

Early Spring (1956):

Titel Early Spring

Floating Weeds (1959):

Titel Floating Weeds

Die Umstellung auf Farbfilme brachte nur eine kleine Veränderung, nämlich dass manche Schriftzeichen in Rot gefasst wurden. Am schlichten Erscheinungsbild und Auftakt der Filme änderte sich sonst nichts. Bis zu seinen letzten Filmen kurz vor seinem Tod im Jahr 1963, behielt Ozu das Motiv des Sackleinenstoffes bei, und das, obwohl zu dieser Zeit seine Filme schon lange nicht mehr die einfache Atmosphäre des Landlebens wiedergaben, sondern meist im mittelständischen Milieu von Großstädten spielten.

Daher wird der mit A Story of Floating Weeds vollzogene Wechsel zum Sackleinen heute oft als ein Signal Ozus interpretiert, dass er mit diesem Film „sein“ Kino gefunden hatte, dem er dann bis zum Schluss treu blieb. So findet sich auch in seinem vorletzten Film The End of Summer (1961) das wohlbekannte Titelbild:

Titel End of summer

Das nenne ich Konsequenz!

Weitere Markenzeichen Ozus:
Teil II – Trocknende Wäsche
Teil III – Zugfahrten

Hayao Miyazaki feiert heute seinen 67. Geburtstag, der richtige Zeitpunkt, um Julia Nieders Buch Die Filme von Hayao Miyazaki zu empfehlen. Der Einleitung zufolge handelt es sich dabei um ihre Abschlussarbeit an der Universität Mainz, entsprechend ist das Werk sehr klar und fast etwas rigide strukturiert und auch Wortwahl und Sprachstil orientieren sich an akademischen Gepflogenheiten – dennoch ist es gut lesbar.

Nach einem einleitenden Kapitel zu den Besonderheiten und der Geschichte der Anime sowie einem kurzen biografischen Überblick zu Miyazaki selbst, setzt sich Nieder in chronologischer Reihenfolge mit allen seinen Filmen von Das Schloss des Cagliostro bis zu Das wandelnde Schloss auseinander.

Jedem Film sind dabei ziemlich genau 10 Seiten gewidmet, auf denen alles wichtige zur Handlung, den Charakteren, Ästhetik, Stilelementen und auch zu den Produktionshintergründen abgedeckt wird. In jedem Kapitel verweist Nieder auf Besonderheiten, die in dem gerade analysierten Film hervorstechen, sich aber oft auch in den anderen Werken Miyazakis wiederfinden; etwa die häufige Verwendung weiblicher Protagonisten als Mittel der Verfremdung, welche sie exemplarisch an Nausicaä aus dem Tal der Winde bespricht.

In ihrem abschließenden Schlusswort fasst Nieder die wichtigsten Merkmale der Filme Hayao Miyazakis zusammen. Erwähnung finden unter anderem:

  • Die große Bedeutung, welche dem psychologischen Realismus der Charaktere und der Welt, in der sie leben, beigemessen werden. Mögen in den Filmen fantastische Elemente auch eine wichtige Rolle spielen, so sind diese doch immer schlüssig und logisch in den Gesamtkontext eingebettet und die Motive und Entwicklung der Charaktere glaubwürdig und nachvollziehbar.
  • Die Vermeidung der in den klassisch-amerikanischen Zeichentrickfilmen allgegenwärtigen stereotypen Gegensätze von Gut und Böse, welche mit dem psychologischen Realismus zusammenhängt. In Miyazakis Filmen gibt es meistens keinen klassischen Bösewicht (Ausnahmen wären die frühen Filme wie Das Schloss des Cagliostro oder Das Schloss im Himmel) und auch die Helden weisen ihre dunklen Seiten auf, mit denen sie sich auseinander setzen müssen.
  • Die Vermischung von Elementen sowohl japanischer wie europäisch-amerikanischer Kultur, Geschichte und Legenden.
  • Eine große Skepsis gegenüber Figuren und Institutionen, welche Macht besitzen, zur Machtausübung verwendet werden oder für Macht stehen. Dies zeigt sich vor allem in der immer wieder kehrenden Thematisierung und negativen Konnotation von Gewalt und Krieg.

Sehr schade finde ich, dass die Anfänge Miyazakis, insbesondere seine Mitarbeit an verschiedenen Zeichentrickserien und dass er sich immer wieder auf diese bezieht, nur nebenbei erwähnt werden. Zudem werden die vielen Screenshots in meinen Augen zu wenig für eine systematische Analyse verwendet, etwa um übergreifende Gemeinsamkeiten der Filme herauszustreichen oder Metaphern und Symbole zu diskutieren. Um dies in der angemessenen Ausführlichkeit machen zu können, hätte Die Filme von Hayao Miyazaki aber deutlich umfangreicher als „nur“ 120 Seiten ausfallen müssen, was dann zugegebenermaßen wohl das Konzept gesprengt hätte.

So ist das Buch auf Grund der konzentrierten und klar voneinander abgegrenzten Auseinandersetzung mit den einzelnen Filmen vor allem als eine Art Nachschlagewerk sehr zu empfehlen: Um sich nach – oder zur Not auch vor – dem Sehen eines der Filme mit wichtigen Hintergründen und Interpretationen vertraut zu machen, ist es genau richtig. Angesichts des Preises von nur etwa 15 Euro und da es das bisher einzige deutschsprachige Buch zu Miyazaki ist, kann ich es als Einstiegslektüre wärmstens empfehlen.

Original: Kōkaku kidōtai (1995), von Mamoru Oshii

Die Zukunft. Synthetische Cyborg-Implantate, Computergehirne und ganze Cyborg-Körper, in die nur noch das menschliche Bewusstsein („Ghost“) implantiert wird, ermöglichen den Menschen unvorstellbare Fähigkeiten. Motoko Kusanagi, Major einer Spezialeinheit, besitzt einen solchen Cyborg-Körper und so sehr sie die damit verbundenen Annehmlichkeiten auch schätzt (etwa die beneidenswerte Fähigkeit, Alkohol in Sekundenschnelle abzubauen), hinterfragt sie doch ihre Identität und ihr „Menschsein“.

Screenshot Ghost in the Shell4

Ghost in the Shell besteht aus zwei Akten, deren erster die Charaktere, allen voran Kusanagi sowie ihren freundschaftlich verbundenen Kollegen Batou, einführt und uns mit der Identitätskrise Kusanagis vertraut macht sowie die Rahmenhandlung vorgibt. Diese besteht aus der Jagd auf einen übermächtigen Hacker, den Puppetmaster, der Ghosts manipuliert indem er Erinnerungen löscht und neue, virtuelle Erinnerungen in seinen Opfern abspeichert.

Im zweiten Akt nimmt der Puppetmaster selbst menschliche Gestalt an: Sein „Ghost“ wird von Kusanagis Einheit in einem auf mysteriöse Weise produzierten Cyborg-Körper entdeckt. Bei der Übergabe an das Außenministerium, das für die Jagd auf den Hacker verantwortlich ist, erwacht dieser Körper plötzlich zum Leben und der Puppetmaster gibt sich als von Menschen geschaffenes Computerprogramm zu erkennen, das sich seiner selbst bewusst wurde und nun als intelligente, eigenständige Lebensform anerkannt werden will. Doch Unbekannte überfallen das Labor und entführen den Puppetmaster. Kusanagi nimmt die Verfolgung auf und hat nur ein Ziel: Sie will diesen rätselhaften „Ghost“ kontaktieren und herausfinden, was es mit ihm auf sich hat.

Als es ihr mit der Hilfe von Batou schließlich gelingt, eine direkte Verbindung mit dem Puppetmaster herzustellen, erlebt sie eine Überraschung: Dieser ist genau wie sie auf der Suche nach Antworten auf seine drängenden Identitäts- und Existenzfragen. Er hat in Kusanagi eine „Seelenverwandte“ entdeckt und nahm nur ihretwegen einen Körper an. Er möchte mit Kusanagis „Ghost“ verschmelzen, um endlich die Eigenschaften, die ihm in seinen Augen zu einer echten Lebensform noch fehlen, annehmen zu können: Variation durch den mit der Fortpflanzung verbundenen Remix von Informationen (Genen) sowie Sterblichkeit.

Screenshot Ghost in the Shell2

OK, soviel in aller Kürze zur Handlung, die noch eine Vielzahl von politischen Ränkespielen, philosophierender Monologe und (für 1995) absolut bahnbrechender Actionsequenzen enthält, eine Fülle von Handlungselementen, die beim ersten Sehen fast unmöglich zu begreifen sind. Dies ist in meinen Augen auch der einzige Schwachpunkt des Films. Bevor ich gleich zu Analyse und Interpretation komme, noch einige Worte zur Ästhetik.

Die Animation ist großartig, die Bewegungen und die Hintergründe sind fast beängstigend real. Absolut beeindruckend. Wirklich grandios ist aber, wie Regisseur Mamoru Oshii es schafft, trotz der dicht gedrängten Handlung dem Film phasenweise einen fast meditativen Charakter zu verleihen, der exzellent zu den universellen Fragestellungen passt. Oshii geht aber noch weiter und nutzt diese Stimmungsgemälde gezielt, um den Erzählfluss zu steuern und dem Zuschauer Pausen zum Nachdenken und Innehalten zu bieten, in denen zugleich die in ihrer Schlichtheit umso mitreißendere Musik Kenji Kawais ihre ganze Wirkung entfalten kann.

Die Stimmung der Stadt, der Panoramen ist sehr düster und klaustrophobisch. Das große Vorbild war unverkennbar Blade Runner, was Oshii bestätigte: Er verehrt den Klassiker selbst als unerreichbaren Meilenstein der Science Fiction. Mittels der besonderen Abstraktionsmöglichkeiten der Anime sowie ungewöhnlicher Perspektiven, Zeitlupeneffekte und der seltsamen Fremdartigkeit der Stadt (Hongkong soll als Vorbild gedient haben) erreicht Ghost in the Shell einen ausgeprägten, ganz eigenen Surrealismus, wie er in einem Realfilm niemals möglich wäre. Kein Wunder, dass sich die Wachowski-Brothers für Matrix hier nicht nur die Titelsequenz mit den grünen Symbolreihen abgeguckt haben.

Screenshot Ghost in the Shell3

Wie bereits erwähnt besteht der Film aus zwei Akten. Diese weisen zahlreiche Parallelen auf: Einmal stehen die existenziellen Fragen Kusanagis im Zentrum, dann die des Puppetmasters. Beide Akte beginnen zunächst mit der Konstruktion eines Konflikts und führen dann über eine Verfolgungsjagd zu einem finalen Kampf, in dem jeweils Kusanagi allein einem Gegner gegenübersteht, bevor es zu einer Auseinandersetzung mit philosophischen Fragen nach dem Sinn des Lebens und der Definition von Identität kommt. Schließlich enden beide mit Bibelzitaten aus dem 1. Korintherbrief (die allerdings in der englischen Fassung stark abgewandelt und als solche nicht erkennbar sind, ich weiss nicht, wie das in der deutschen Synchro gehandhabt wurde).

Die erste Passage, der Vers 12, wird von einer Stimme zitiert, nachdem Kusanagi in einem eindringlichen Monolog Batou ihre Identitätskrise offenbarte: „Wir sehen jetzt durch einen Spiegel ein dunkles Bild; dann aber von Angesicht zu Angesicht.“ Eine häufig zitierte Stelle, die in ihrer englischen Übersetzung „Through a glass, darkly“ Eingang in zahlreiche künstlerische Werke fand. Gemeint ist damit die problembehaftete, schwierige Selbstwahrnehmung, womit dieses Zitat den zuvor geführten Monolog Kusanagis nochmals zusammenfasst und bereits eine Lösung für die Zukunft andeutet.

Am Ende des zweiten Aktes wird dann der vorangehende Vers 11 zitiert, diesmal von Kusanagi selbst, allerdings nach ihrer Verschmelzung mit dem Puppetmaster. Der Satz lautet: „Als ich ein Kind war, da redete ich wie ein Kind und dachte wie ein Kind und war klug wie ein Kind; als ich aber ein Mann wurde, tat ich ab, was kindlich war.“ Im Kern beider Verse steht also – wie im ganzen Korintherbrief, der Fragen nach dem Selbstverständnis der noch jungen christlichen Kirche beantworten sollte – dieselbe Thematik, mit der sich auch der Film befasst.

Das erste Zitat unterstreicht und betont nochmals die vorgebrachten Fragen Kusanagis nach ihrer Identität und ihrer Menschlichkeit. Denn einen menschlichen, organischen Körper hat sie schon lange nicht mehr. Körper sind ersetzbar und austauschbar geworden und taugen daher nicht mehr als Ansatzpunkt für die Selbstdefinition eines Individuums. Das dunkle Bild, das sie im Spiegel sieht, hat also nichts mit ihrer äußeren Gestalt zu tun, sondern allein mit ihrem „Ghost“, ihrer Intelligenz, ihren Erinnerungen, Erfahrungen, Weltanschauungen und Gedanken.

Screenshot Ghost in the Shell5

Doch auch diese sind verletzlich, was die Hackerangriffe des Puppetmasters beweisen. Daher muss es im ureigensten, vom Selbsterhaltungstrieb eines jeden menschlichen Wesens gespeisten Interesse sein, nicht nur die Informationen über seinen Körper – also die Gene – sondern auch sein Bewusstsein durch die Verschmelzung mit anderen weiterzugeben, um nach dem Tod ein Stück weit in anderen Menschen weiter zu existieren.

Und genau das ist es, was Kusanagi und der Puppetmaster am Ende von Ghost in the Shell durchführen: Eine Form der geistigen Fortpflanzung mittels Verschmelzung ihrer „Ghosts“. Die Loslösung von einer körperlichen Existenz, welche am Anfang des Films in dieser grandiosen Erschaffungssequenz von Kusanagis Cyborg-Körper eingeleitet wird, findet hier ihre letzte Konsequenz.

Dass es sich bei einem der beiden Beteiligten um eine künstliche Intelligenz handelt, muss im Kontext des zweiten Zitats gesehen werden und verleiht der Diskussion noch eine ganz neue Dimension: Die Elemente künstlicher Intelligenz ermöglichen es Kusanagi, einen objektiveren, weniger durch Gefühle, Ängste, Eitelkeit und Zweifel beeinträchtigen Blick auf die eigene Existenz zu werfen. Das zuvor dunkle Spiegelbild wird nun ergänzt durch die unmittelbare Wahrnehmung durch eine neutrale Instanz, und das von Angesicht zu Angesicht.

Die Ergänzung und Optimierung des menschlichen Körpers mittels Technologie findet somit ihre logische Konsequenz in der Einbeziehung von künstlicher Intelligenz in das Bewusstein. Dass dies als regelrecht notwendiger evolutionärer Schritt präsentiert und durch Bibelzitate untermauert wird eröffnet eine ganz neue Dimension der Diskussion, die ich an dieser Stelle erstmal nicht weiter fortführen möchte. Sonst nimmt das hier gar kein Ende mehr!

Screenshot Ghost in the Shell6

Was mich neben dieser faszinierenden Idee und den vielen Fragen nach unserem Selbstverständnis als menschliche Wesen angesichts einer zunehmenden Entmenschlichung mittels Technisierung (und natürlich der großartigen Animation sowie des genialen Soundtracks) an Ghost in the Shell am meisten begeistert, sind die vielen Details und Anspielungen: Die klaustrophobische Stadt mit ihrem asiatisch-kulturellen Crossover; dass Kusanagi fast nie blinzelt; der Stammbaum der Menschheit, welcher von dem Kampfpanzer zerschossen wird; dass Kusanagi zu Beginn des Films ihre Tage hat und dass sie am Ende einem dunklen Spiegelbild von sich gegenübersitzt, genau wie im Korinther-Zitat angesprochen. Brillant, wie Oshii hier die beiden Teile des Films nahtlos zusammenführt, bevor dann das zweite Zitat folgt.

Für mich einer der absolut besten Anime, die ich kenne. Und je mehr ich über Ghost in the Shell nachdenke, umso besser wird er.

Hiermit verabschiede ich mich in den Weihnachtsurlaub! Natürlich nicht, ohne euch für die langen, dunklen Feiertage ein paar Filmtips mit auf den Weg zu geben. In Kurosawas Werk finden sich einige Filme, die exzellent in die weihnachtliche Stimmung passen, etwa Ein wunderschöner Sonntag, Rotbart oder Madadayo. Auch Kinoshitas Vierundzwanzig Augen könnte ich empfehlen, hier wird aber schon recht heftig auf die Tränendrüse gedrückt.

Von den zeitgenössischen Filmen kämen Takeshi Kitanos Dolls ebenso wie Kikujiros Sommer in Frage, oder auch Hirokazu Koreedas Hana yori mo naho. Und natürlich Love Letter von Shunji Iwai! Wer es eher mit den Anime hält, könnte mal wieder zu Kikis kleiner Lieferservice greifen, oder The Place promised in our early Days, oder vielleicht Isao Takahatas Only Yesterday. Und natürlich Tokyo Godfathers von Satoshi Kon!

So, dann wünsche ich euch jetzt noch ein frohes Weihnachtsfest und einen guten Start ins neue Jahr! Wir lesen uns dann 2008 wieder!

Auf verworrenen Wegen kam dieses Interview zustande, in dem Produzent Blankemeyer und Regisseurin Miyayama von der Arbeit an ihrem deutsch-japanischen Projekt Der rote Punkt berichten, einem Film über die Suche einer jungen Japanerin nach sich selbst, welche sie nach Deutschland führt.

Martin Blankemeyer studierte an der Filmakademie Baden-Württemberg in Ludwigsburg und an der Ecole nationale supérieure des métiers de l’image et du son €žLa fémis€œ in Paris mit Schwerpunkt auf internationale Koproduktion. Seit dem Ende seines Studiums produzierte er eine Reihe von Kurzfilmen, die kürzlich auf DVD erschienen sind.

Herr Blankemeyer, wie kam es zu Ihrer Beteiligung an €žDer rote Punkt€œ? Haben Sie auch abgesehen von der Arbeit an diesem Projekt einen Bezug zu Japan?

Ich hatte bereits seit einiger Zeit nach einem geeigneten Stoff Ausschau gehalten, um damit mein Debüt als Spielfilmproduzent zu geben. Nun liegen gute Drehbücher leider nicht auf der Straße und so war ich im Winter 2005/06 schon recht verzweifelt, bis dann plötzlich das Telefon klingelte und Marie Miyayama mich fragte, ob ich ihr Buch einmal lesen wolle. Ich war ihr von einem Professor der Münchner Filmhochschule empfohlen worden, obwohl ich zu Japan zu diesem Zeitpunkt nicht den geringsten Bezug hatte.

Wie war Ihre Reaktion, als Ihnen eine deutsch-japanische Koproduktion angeboten wurde?

Ich habe geschmunzelt €“ ich meine, da studiere ich in Frankreich, spreche die Sprache fast fließend, bin exzellent ausgebildet für europäische und insbesondere deutsch-französische Koproduktion und statt ein interessantes deutsch-französisches Projekt zu finden, landet dann völlig überraschend so ein toller deutsch-japanischer Stoff auf meinem Tisch! Sicherlich hätte es prädestiniertere Produzenten gegeben, und die Herausforderungen hatten eine ganz andere Dimension (in Japan bin ich nicht nur überhaupt nicht mit allen Gepflogenheiten vertraut, sondern ein kompletter Analphabet) €“ aber dann habe ich mir gedacht: Sei€™s drum, man wächst an seinen Aufgaben€¦

Welche Herausforderungen waren das? Was lässt sich aus der internationalen Zusammenarbeit mit Japanern lernen?

Ich musste loslassen lernen. Das klingt banal, aber am Sprichwort €žAndere Länder, andere Sitten€œ ist echt was dran. Ich habe anfangs versucht, unseren japanischen Partnern minutiös vorzuschreiben, wie welcher Handgriff zu tun sei. Das hat aber nur zu Reibungen geführt. Richtig wäre es gewesen, von Anfang an Spielraum einzuplanen €“ eine Low-budget-Produktion €žSpitz auf Knopf€œ wie ich das aus Deutschland kenne ist bei der Zusammenarbeit solch unterschiedlicher Kulturkreise sowieso kaum möglich. Auffallend war auch, welche Unterschiede in der Wahrnehmung es gibt. Dinge, die ich im Nebensatz angedeutet hatte, waren für unsere japanischen Partner essentieller Vertragsbestandteil, andere, für mich zentrale Fragen, spielten eine völlig untergeordnete Rolle. Es galt zu lernen, klar und präzise zu sein €“ gerade wenn man über eine Drittsprache kommuniziert.

€žDer rote Punkt€œ wird von mehreren bekannten japanischen Firmen gesponsert. Herrscht in Japan eine andere Einstellung zum Kultursponsoring bzw. Filmsponsoring?

Die von mir akquirierten Firmen wie Japan Airlines, Toyota und Asahi Beer sind ja deutsche Niederlassungen japanischer Firmen. Dort war die Offenheit sehr groß, da wir mit unserem Film genau zwischen den beiden Welten wandern, mit denen man sich dort auch täglich auseinander setzt. Es gab allerdings auch weitere angefragte japanische Firmen insbesondere aus dem Elektronikbereich, die nicht so aufgeschlossen waren. Gerne hätten wir den Film auch auf japanischem Filmmaterial gedreht, aber der japanische Hersteller war von unserem Projekt wenig beeindruckt. Die Erfahrungen meiner japanischen Kollegin bei der Sponsorensuche auf ihrer Seite waren nicht so gut €“ das scheint dort eine recht ungewöhnliche Ausnahme zu sein, Filme nicht ausschließlich ihres kommerziellen Potentials wegen zu machen. Insgesamt scheint mir, dass kleine, unabhängige Projekte in Deutschland weit mehr Unterstützung erfahren, sowohl von privater wie von öffentlicher Seite.

Welche sind Ihre japanischen und welche Ihre deutschen Lieblingsfilme?

Ich kenne zugegebenermaßen kaum japanische Filme! Zufällig bin ich einmal in €žKikujiros Sommer€œ von Takeshi Kitano geraten, weil der als Eröffnungsfilm beim exground.filmfest in Wiesbaden lief. Den fand ich sehr schön, vor allem die Musik ist mir in Erinnerung geblieben. Meine deutschen Lieblingsfilme sind alle schon etwas älter: Mir gefallen z.B. „Das Boot€œ von Wolfgang Petersen, €žAbwärts€œ von Carl Schenkel oder auch €ž23€œ von Hans-Christian Schmid. Aktuell habe ich mich gerade in €žFür den unbekannten Hund€œ verguckt €“ ein gewaltiges Stück Kino.

Marie Miyayama kam 1995 nach Deutschland und studierte in München zunächst Theaterwissenschaften an der LMU und dann Filmregie an der Hochschule für Fernsehen und Film. Bereits in Japan drehte sie mehrere Super 8-Filme und seitdem weitere Kurzfilme, die sich meist mit interkulturellen Themen befassen.

Frau Miyayama, die Dreharbeiten wurden inzwischen abgeschlossen. Sind Sie zufrieden? Konnten Sie Ihr Konzept, Ihre Vorstellungen umsetzen?

Ja, ich bin sehr zufrieden, dass ich das Projekt endlich realisieren konnte. Beim Dreh passierte immer wieder etwas, das man nicht erwartet hatte, aber so etwas bereichert auch die ursprünglichen Vorstellungen. Beispielsweise zerrte sich einer der Hauptdarsteller am Höhepunkt der Geschichte, einer Verfolgungsszene im Wald, einen Schenkelmuskel und konnte nicht mehr laufen. Ich wurde gezwungen, auf die Schnelle diese zentrale Szene umzuschreiben. Die dabei spontan entstandene Szene gefällt mir jedoch besser als die ursprünglich geplante! Außerdem hat das wechselhafte Wetter zwar unseren Drehplan durcheinander gebracht, uns aber auch mit unerwarteten Lichtwechseln beglückt, die den Bildern neue Bedeutungen gegeben haben.

Das Schweigen soll den roten Faden im Film abgeben, bei dessen Darstellung Sie auf Vorbilder Ihrer Heimat zurückgreifen wollen. Welche Vorbilder wären dies?

Ich hatte keine bestimmten Vorbilder im Kopf, aber als Japaner hat man es im Blut: Wie man miteinander umgeht, was man ausspricht und was man lieber für sich behält. Für mich war es sehr wichtig, alltägliche Dinge genau zu beobachten und dabei meiner Wahrnehmung treu zu bleiben. Aber natürlich liebe ich manche japanische Filme und japanische Kunstformen, bei denen das Schweigen eine große Rolle spielt. Das No-Theater finde ich zum Beispiel sehr inspirierend.

Wie sehr fließen Ihre eigenen Erfahrungen mit interkultureller, deutsch-japanischer Kommunikation in den Film ein?

Als ich 1993 zum ersten Mal nach Europa gereist bin, wurde ich von jedem kleinen Detail überrascht. Auf diesen frischen Blick versuchte ich in diesem Film nochmals zurückzugreifen. Vor allem sah ich bei elementaren Handlungen wie Begrüßung und Esskultur große Unterschiede zwischen den beiden Ländern. Diese sollten im Film ausdrücklich dargestellt werden.

Wenn Sie Ihre in Japan entstandenen Experimentalfilme von vor dem Studium mit Ihren jüngeren Arbeiten vergleichen, was hat sich am stärksten verändert?

Damals in Japan wusste ich noch nicht richtig, was das Leben ist. Ich versuchte es mir vorzustellen und machte daraus etliche Filme, mir fehlte jedoch definitiv Lebenserfahrung. Seit ich Japan verlassen habe, wurde mein Blickfeld wesentlich erweitert und es wurde mir klarer, was ich durch meine Filme erzählen will.

Mit dieser Erfahrung, was wäre Ihr Rat an junge Filmschaffende sowohl in Japan als auch aus Deutschland: Unbedingt mal im Ausland arbeiten?

Ich glaube, jeder hat einen anderen Weg, um sich selbst zu finden, ich möchte deshalb nicht verallgemeinern, dass beim Filmemachen Auslandserfahrung unbedingt notwendig wäre. Für mich ist das Filmemachen gleichbedeutend damit, die Welt kennen zu lernen. Dabei ist es wichtig, das Blickfeld ständig zu erweitern.

Die Hauptfigur des Films, Aki, pendelt zwischen zwei Welten. Wie weit fließen in die Figur Ihre eigenen Erfahrungen mit verschiedenen Lebenswelten ein?

Mich interessieren immer Personen, die zwischen zwei Welten oder Wertesystemen leben und diese relativieren können. Als Figur finde ich ein Mädchen, das ein bisschen jungenhaft wirkt, interessanter als ein typisch weiblich wirkendes. Ich persönlich glaube, dass sich die Wahrheit immer in der Bewegung zwischen zwei Polen befindet.

Akira Kurosawa sagte zu den häufig vorgebrachten Vorwürfen, seine Filme seien zu westlich, einmal sinngemäß: €žWenn ich als japanischer Künstler keine Filme für Japaner mache, habe ich versagt.€œ Machen Sie Filme für Japaner?

Filme sind für mich etwas, das Menschen aus ganz verschiedenen Kulturen verbinden kann. Wenn man es schafft, sehr tief in sich hinein zu schauen, erreicht man oft eine universelle Ebene, die jeder in sich findet. So gesehen hoffe ich doch, dass meine Filme nicht nur Japaner, sondern auch Leute aus anderen Ländern ansprechen können.

Welche sind Ihre japanischen und welche Ihre deutschen Lieblingsfilme?

€žA Scene at the Sea (Ano natsu ichiban shizuka na umi)€œ von Takeshi Kitano und €žAlice in den Städten€œ von Wim Wenders.

Original: Chugoku no chojin (1998), von Takashi Miike

Nachdem Takashi Miike zuvor vor allem durch seine blutigen Gangster-Filme, allen voran die Triad Society-Trilogie, auf sich aufmerksam gemacht hatte, wandte er sich mit The Bird People in China einem völlig anderen Thema und Stil zu und gab damit eine beeindruckende Kostprobe seiner erstaunlichen Vielseitigkeit. Dieser Film brachte ihm schlagartig auch die Anerkennung von internationalen Kritikerkreisen.

Bird People Screenshot 1

Der Angestellte Wada (Masahiro Motoki) wird von seiner Firma auf die Suche nach einer Jade-Mine tief im ländlichen China geschickt. Kaum angekommen, gerät er an den Yakuza Ujie (Renji Ishibashi), der für seinen Clan, dem Wadas Firma Geld schuldet, Anteile an der Mine sichern soll. Unter Führung des Chinesen Shen (Mako) machen sich der stets übellaunige Ujie und der völlig verunsicherte Wada auf ihre beschwerliche Reise. Diese führt sie von schlaglochübersäten Staubpisten über eine Floßfahrt schließlich steile Gebirgspfade hinauf, bis sie trotz des zwischenzeitlichen Gedächtnisverlustes ihres Führers das Dorf erreichen, in dem sich die Jade-Mine befindet.

Dort werden die beiden Großstadtmenschen nicht nur von der atemberaubenden Natur überwältigt, sondern auch von der einfachen Schönheit des Lebens der Menschen. Besonders Wada ist fasziniert von Si-Chang (Li Li Wang), einer Einwohnerin des Dorfes, die ein Lied singt, dessen Melodie und Text ihm seltsam bekannt vorkommen und die zudem die Kinder des Dorfes im Fliegen unterrichtet. Als Shen sein Gedächtnis zurückgewinnt und somit die Heimreise bevorsteht, kommt es zum Konflikt mit Ujie, der das Dorf, die Menschen und ihre traditionelle Kultur vor der mit der Ausbeutung der Mine verbundenen Ankunft der Zivilisation bewahren will.

Bird People Screenshot 3

Was zunächst wie eine Mischung aus Buddy-Komödie und Abenteuerfilm beginnt, entwickelt sich völlig überraschend in eine tiefschürfende Auseinandersetzung mit Gefühlen, Schuld, Träumen und Fragen nach dem Sinn oder Unsinn unserer modernen, technikversierten Zivilisation. Die grandiosen Naturszenarien der südchinesischen Berge kontrastiert Miike mit dem nur in ganz wenigen Szenen gezeigten Japan, das ausschließlich aus hektischen Menschenmassen, Betonlandschaften und überfüllten Pendlerzügen zu bestehen scheint.

Der Film schweift aber nie in eine unkritische Lobhudelei für Naturschutz oder in einseitige Zivilisationskritik ab. Im Gegenteil zeigt er an Einzelschicksalen deutlich, welche Nachteile das scheinbar so idyllische Landleben der Bauern hat, wo ein einfaches Fieber lebenslange Taubheit nach sich ziehen kann und weist auch darauf hin, dass nur mittels moderner Technologie das Besuchen solcher Idylle möglich ist. Freude und Glück ebenso wie Leid finden sich letztlich in beiden Welten.

Sehr spannend ist jedenfalls auch die Entwicklung der beiden Hauptcharaktere zu verfolgen: Der scheinbar so gewissenlose Ujie wird allnächtlich von Alpträumen und Schuldgefühlen geplagt und überdeckt dies lediglich durch seine Rüpelhaftigkeit, die angesichts der ursprünglichen Natur und Lebensweise der Menschen in einen ausgewachsenen Hass auf all das, was er hinter sich gelassen hat und was er mit Zivilisation verbindet, ausartet. Wada dagegen wächst an den Erlebnissen und an der Auseinandersetzung mit Ujie, wird vom unterwürfigen Angestellten zu einem selbstbewussten Menschen, der für sich (mit Hilfe von Si-Chang) schließlich den Sinn des Lebens findet.

Bird People Screenshot 2

Das Fliegen als ewiger Traum der Menschheit ist das dominante Motiv des Films, der mit den Worten „Ich habe 10.000 Mal geschlafen, aber nie davon geträumt, fliegen zu können wie ein Vogel“ beginnt. Für mich wird dieses Motiv im Film zu einem Symbol für ein erfülltes, glückliches Leben, das sich alle wünschen, wonach alle streben, das aber nicht durch noch so große Anstrengungen sondern nur durch eine bestimmte Lebenseinstellung erreicht werden kann.

Ein großer Teil der Interpretation des Films hängt jedoch von seinem Ende und besonders der faszinierenden Schlussszene ab, die ich hier aber nicht verraten will. Ich werde daher an dieser Stelle der Auseinandersetzung mit dem Film nicht mehr weiter ins Detail gehen – was mir aber zugegebermaßen sehr schwer fällt, er schreit einfach nach einer ausführlichen Interpretation – vielleicht in den Kommentaren?

Zwar ist The Bird People in China wie auch die anderen Miike-Filme, die ich bisher gesehen habe, voller Symbole und Anspielungen, er bleibt dabei aber recht gut zugänglich (kein Vergleich etwa zu Big Bang Love). Der Film ist ein großartiges Werk und in meinen Augen ein absolutes Muss, auch für Cineasten, die von Miikes bluttriefenden Filmen eher abgeschreckt wurden.