Etwas ruhig war es in meinen Lieblingsblogs in den letzten Wochen, kein Wunder bei all den Feiertagen! Aber das heißt nicht, dass es nicht spannende Beiträge zu lesen gegeben hätte. Ganz im Gegenteil, siehe:
Viel Spaß beim Lesen!
31 Jan
Original: Hakuchi (1951) von Akira Kurosawa
Traumatisiert von Erlebnissen während des Krieges kehrt Kameda (Masayuki Mori) von einem Sanatoriumsaufenthalt in seine Heimat auf Hokkaido zurück. Unterwegs lernt er Akama (Toshiro Mifune) kennen, und berichtet ihm von seinen Erlebnissen und seiner „Krankheit“, zu der epileptische Anfälle, Amnesie und generell eine kindliche Offenheit und Ehrlichkeit gehören. Akama ist fasziniert von der ungewöhnlichen Persönlichkeit Kamedas und berichtet ihm von seiner abgöttischen Liebe zu Taeko (Setsuko Hara), die als Kurtisane ihr Dasein fristet. Als Kameda ihr das erste Mal begegnet, erkennt er in ihr sofort eine verzweifelte, malträtierte Seele und ist magisch von ihr angezogen.
Doch Taeko kann sich Akamas Einfluss und ihrer Vergangenheit nicht entziehen und hält Kameda zu dessen eigenem Schutz auf Distanz, der inzwischen eine Romanze mit der launischen Ayako (Yoshiko Kuga) beginnt. Zugleich wird Akama aber mehr und mehr bewusst, dass Taeko ihn nie vorbehaltlos lieben wird, und er beginnt sich mit Mordfantasien für seinen Freund zu tragen.
Der Idiot ist die erste Adaption eines großen literarischen Vorbilds, und dass Kurosawa sich ausgerechnet an diesem Monument der Weltliteratur versuchte, dürfte zum einen natürlich mit seiner Verehrung für Dostojewski zu tun haben. Eine nicht unwesentliche Rolle dürfte aber auch die im Roman schon stark ausgeprägte Gesellschaftskritik sein, die sich wunderbar in die Agenda seiner frühen Nachkriegswerke und zahlreicher späterer Filme einfügt.
Dass Dostojewksi zu Kurosawas Lieblingsautoren zählte, war zugleich jedoch ein Grund für die großen Probleme bei der Umsetzung der Vorlage: In seinem Bestreben, das große Werk möglichst getreue zu adaptieren, schrieb er das Drehbuch fast im Alleingang und übernahm dabei Charaktere und Handlung zwar komprimiert, aber doch fast komplett. Nur Zeit und Ort wurden in das winterliche Hokkaido der Gegenwart verlegt, das aber mit seinen Schneelandschaften, eingeschneiten Häusern, Eiszapfen und Schneestürmen für die eher subtropisches Klima gewöhnten Japaner ähnlich exotisch wirken dürfte wie ein russischer Winter. Die große Nähe zum Original des Romans ließ den Film in seiner ursprünglichen Fassung auf eine Länge von viereinhalb Stunden anwachsen, für damalige Zeiten eine Monstrosität.
Schockiert angesichts der Länge des Films verlangte das Produktionsstudio Shochiku eine Kürzung und das Drama nahm seinen Lauf: Kurosawa ging nur widerwillig auf das Drängen des Studios ein, schnitt den Film aber dennoch auf etwas über drei Stunden. Diese Fassung wurde jedoch nur einmal gezeigt, nämlich bei der Premiere des Films im Mai 1951. Anschließend ließ Shochiku ohne Kurosawas Mitwirken nochmals eine halbe Stunde schneiden und fügte zahlreiche Zwischentitel und sogar einen Off-Sprecher ein, um dem Publikum die wichtigsten Hintergründe und Handlungsstränge zu vermitteln. Kurosawa war entsetzt, protestierte und schrieb an seinen Mentor Kajiro Yamamoto, dass das Studio den Film genauso gut der Länge nach hätte durchschneiden können.
Zum großen Leidwesen aller Cineasten müssen Kurosawas Ursprungsfassung und auch die von ihm selbst gekürzte Premierenversion als endgültig verloren gelten, was es schwer macht, den Film wirklich zu bewerten. Denn die massiven Schnitte scheinen hauptsächlich in der ersten Hälfte des Films vorgenommen worden zu sein. Dadurch wird die erste Stunde extrem verwirrend, es ist kaum möglich, der Handlung zu folgen und die Beziehungen der Charaktere zu einander zu verstehen. Nicht nur Lücken in der Handlung, auch Brüche in der Kontinuität und seltsame Übergänge zwischen Szenen sorgen ständig für Verwirrung. Erst in der zweiten Hälfte, als sich die Konstellation aus den doppelten, sich überlagernden Dreiecksbeziehungen etabliert hat und sich die Konflikte zuzuspitzen beginnen, macht der Film langsam Sinn und es kommt Spannung auf.
Jeder der Hauptcharaktere steht für bestimmte menschliche Eigenschaften, wobei sich die positiven fast ausschließlich auf Kameda konzentrieren und Eifersucht bei praktisch allen vertreten ist: Ayako symbolisiert Sturheit und Launigkeit, Akama steht für Zorn und Egoismus, Taeko für Arroganz und Selbstzerstörung, Kayama (ein Nebencharakter, der sich für eine fürstliche Bezahlung als Bräutigam für die Kurtisane Taeko anbietet) für Prinzipienlosigkeit und Gier. Darüber hinaus gibt es noch mehrere Nebenfiguren, wie etwa Ayakos intrigante, neidische Schwester oder einen verlogenen Anwalt, die den Reigen der menschlichen Schwächen und Charakterlosigkeiten noch komplettieren.
Ihnen gegenüber steht Kameda, der „Idiot“, der mit seiner kindlichen Offenheit, seinem naiven Vertrauen, seiner Ehrlichkeit und Aufrichtigkeit, seiner Fürsorge und Selbstlosigkeit, Dankbarkeit und Einfühlungsvermögen einen so strahlenden Kontrast bildet, dass die anderen Charaktere regelrecht geblendet sind. Akama, Taeko und Ayako fasziniert dieser besondere Mensch, die meisten anderen, ganz in ihren Intrigen und ihrem alltäglichen Kleinklein gefangenen Nebencharaktere begegnen ihm schlicht mit Unverständnis, Ablehnung und Hochmut.
Dass Kurosawa uns seine Botschaft mit diesem krassen Gegensatz „Kameda vs. den Rest der Gesellschaft“ einhämmert, und in der finalen Szene von der tränenüberströmten Ayako nochmals explizit auf den Punkt bringen lässt, ist eine der zahlreichen Schwächen dieses Films. Besonders wenn man Dostojewskis Romanvorlage vergleicht, deren vielschichtige, ausgewogene und realistische Charaktergestaltung bis heute als herausragend gilt. Durch diese extreme Zeichnung seiner Charaktere macht Kurosawa es uns Zuschauern nahezu unmöglich, uns mit irgendeinem der Charaktere zu identifizieren, was den ganzen Film sehr oberlehrerhaft macht.
Da zudem die Handlung wegen der vielen Lücken schwer verständlich und obendrein auch noch ausschweifend ist, macht das Fehlen einer echten Identifikationsfigur es noch schwieriger, sich auf den Film einzulassen und ihm zu folgen. Und auch nachdem man die weitgehend unverständliche erste Stunde mit ihren Brüchen und Lücken überstanden hat, dauert es wegen der vielen langen Dialogszenen lange, bis sich die ersten Anzeichen für die Kurosawa sonst eigene Dynamik einstellen.
Bei all den Schwächen und aller Kritik muss zur Ehrenrettung aber auch gesagt werden, dass Der Idiot einige grandiose Szenen und Einstellungen aufzuweisen hat und – jedenfalls in der zweiten Hälfte – eine phasenweise elektrisierende Atmosphäre aufbaut. Die Rivalitäten zwischen Akama und Kameda um Taeko einerseits und zwischen Ayako und Taeko um Kameda andererseits sind immer wieder fantastisch in Szene gesetzt. Brillant ist besonders der Showdown, in dem Ayako und Taeko sich zum ersten Mal begegnen und in dem die Spannung zwischen allen Beteiligten, vor allem aber zwischen den beiden Frauen regelrecht knistert.
Begeistert hat mich in dieser Szene der Moment, in dem die beiden Frauen sich wortlos nebeneinander setzen und man förmlich sehen kann, wie sich in ihnen und zwischen ihnen die Spannung immer weiter steigert. Und genau wenn man als Zuschauer denkt, jetzt müssen sie gleich wie Vulkane explodieren, schneidet Kurosawa auf einen in der Ecke stehenden gusseisernen Ofen, in den gerade der Wind hineinfährt und die Flammen aus allen Ritzen schießen lässt. Ein echter Gänsehaut-Moment!
Ebenfalls großartig ist die Verfolgungs-Sequenz, in der Kameda von – wahren oder eingebildeten – Erscheinungen Akamas durch die verschneiten Straßen getrieben wird, bis er letztlich einen epileptischen Anfall erleidet. Oder natürlich die Szenen beim Eislauf-Karneval, die zunächst heiter beginnen und dann, musikalisch genial untermalt von Mussorgskis „Eine Nacht auf dem kahlen Berge“, immer dramatischer werden und die Konfrontation zwischen Akama und Kameda andeuten. Hier lässt sich erahnen, welches Potenzial in diesem Film steckte, wäre er nicht so gnadenlos zusammen geschnitten worden.
Diese Szenen leben nicht zuletzt auch von den Darstellern, von denen vor allem Setsuko Hara mit ihrem schwarzen Cape und Toshiro Mifune ihre Charaktere so emotional überzeichnet und voller Manierismen geben, dass sie schon fast wie Karikaturen wirken, was etwa Donald Richie stark kritisiert. Angesichts der charakterlichen Zuschnitte der Personen würde ich aber vermuten, dass dieser Effekt von Kurosawa so absolut beabsichtigt war.
Masayuki Mori hat seine stärksten Szenen ironischerweise ausgerechnet in der verstümmelten ersten Hälfte, in der zweiten wirkt er angesichts der von den anderen drei Protagonisten entfesselten Kräfte oft wie ein hilflos im Sturm hin und her gerissenes Blatt Papier. Am meisten überzeugt hat mich Yoshiko Kugas launische, verzogene Tochter aus gutem Hause, die gerne nach außen Stärke und Erwachsensein demonstriert, angesichts ihrer Jugend aber oft einfach noch unsicher ist. Ayako wirkt am wenigsten übertrieben, ohne dabei aber angesichts von Akama und Taeko so blass zu sein wie phasenweise Kameda.
Wie weiter oben erwähnt fällt es mir sehr schwer, diesen Film zu beurteilen. Kurosawa wagte sich hier an die Verfilmung eines Buches, das er schon fast religiös verehrte und für das er eine große filmische Vision hatte. Leider ist von dieser Vision wegen der massiven Schnitte und Kürzungen wenig erhalten geblieben, so dass Kurosawa bei diesem Projekt ein ähnliches Schicksal erfuhr wie seinem Hauptcharakter und Der Idiot somit eine in doppelter Hinsicht tragische Geschichte erzählt.
Das Programm der Berlinale wird zwar erst am Montag offiziell bekannt gegeben. Aber wie allgemein bekannt geht die Sonne in Japan etwas früher auf. Wahrscheinlich deshalb ist dem Blog zu Yoji Yamadas neuem Film Tokyo kazoku bereits jetzt zu entnehmen, dass das Werk seine internationale Premiere in Berlin im Rahmen der Sektion „Berlinale Special“ haben wird. Aber nicht nur das. Denn nicht nur Yamada-sans neuer Film – dessen internationaler Titel Tokyo Family lautet – kommt nach Berlin, sondern auch gleich noch sein großes Vorbild: Yasujiro Ozus vor 60 Jahren entstandenen Meisterwerk Tokyo Story, und zwar in einer digital restaurierten Fassung!
Ein guter Grund, mit besonderer Neugier auf die Bekanntgabe des Spielplans am Montag hinzufiebern! Das findet auch der Direktor der Berlinale, Dieter Kosslick, der sich im Tokyo Family-Blog sehr erfreut über den Besuch aus Japan zeigte:
Die „Familie“ Tokyo inspirierende Arbeit, die eine Hommage an „Tokyo Story“, jeder war mit der Auswahl der Mitglieder Arbeit beeindruckt. Berlin Film Festival hat ein warmes Gefühl und seine sehr große Regisseur Yamada, denke ich sind sehr erfreut, in der Lage sein, die Arbeit von Yamada erneut gesiebt überwachen.
Leider ist mein Japanisch nicht so gut wie das von Herrn Kosslick, daher musste ich zu Google Translate greifen 😉
Vor ein paar Wochen habe ich erstmals von meinen Plänen berichtet, ein eigenes Buch über Akira Kurosawa und seine Filme zu schreiben, und euch mittels einer kleinen Umfrage um eure Meinung dazu gebeten. Knapp 60 vollständige Antworten habe ich seitdem erhalten und ich möchte euch natürlich auch gerne wissen lassen, was dabei herauskam. Die Umfrage selbst ist nach wie vor offen und kann noch ausgefüllt werden.
Kurz vorab zum besseren Überblick: Jünger als 35 Jahre waren 54% der Teilnehmer, dementsprechend waren 46% älter als 35, darunter allerdings nur ein einziger Teilnehmer/Teilnehmerin mit einem Alter von über 60 Jahren. Knapp zwei Drittel der Teilnehmer hatten schon ein paar Filme von Kurosawa gesehen, ein Drittel sogar ziemlich viele (oder alle), und nur 2 Teilnehmer kannten gar keine von Kurosawas Filmen.
Nun zu den Fragen bezüglich des Buchprojekts. Ganz klar fiel die Antwort auf die Frage aus, in welchem Format ihr euch ein solches Buch wünscht: Fast 80% hätten trotz immer größerer Verbreitung von Tablets und eReadern gerne ein gedrucktes Buch. Das Interesse an Ebooks ist aber eindeutig altersabhängig, von den unter 25-jährigen wünschten sich nämlich knapp 30% ein Ebook, bei den 25-35-jährigen waren es noch ca. 15% und bei den Teilnehmern über 35 Jahre wollte praktisch niemand mehr ein Ebook.
Erfreulicherweise ist aber auch die Bereitschaft, für ein gedrucktes Buch deutlich mehr Geld auszugeben als für ein Ebook, sehr stark vorhanden.
Was die gewünschten Inhalte angeht hat sich ein Dreigestirn herausgebildet (hier waren mehrfache Antworten möglich, daher sind die Prozentzahlen so hoch):
Eher wenige von euch interessieren sich für die Inhalte der Filme, was wohl auch damit zusammenhängt, dass die meisten von euch schon ziemlich viele der Filme kennen und selbst veritable Experten sind 🙂
Und noch eine spannende Erkenntnis nehme ich mit, denn die Frage, was euch an einem solchen Buch besonders wichtig wäre, ergab ebenfalls einen klaren Gewinner: 45% von euch wünschen sich Exkurse in die japanische Kultur und Geschichte, um die Zusammenhänge der Filme besser verstehen zu können. Ich werde mich bemühen, diesem Wunsch gerecht zu werden!
Vielen Dank an alle, die bisher an der Umfrage teilgenommen haben, eure Antworten haben mir sehr geholfen! Ich halte euch auf dem Laufenden, wie es bei dem Projekt weitergeht.
15 Jan
In den letzten Jahren gab es leider immer wieder den Tod eines großen Vertreters des japanischen Films zu betrauern. Doch wenn ein solcher Todesfall es auf die Startseite von Spiegel Online schafft, dann muss es sich um eine besondere Persönlichkeit gehandelt haben. Bei Nagisa Oshima war dies der Fall: Geboren am 31. März 1932, verstarb er heute im Alter von 80 Jahren in Tokyo an einer Lungeninfektion.
Dass sein Tod derzeit in vielen großen Medien gemeldet wird, hat er vor allem einem Film zu verdanken, mit dem er große Wellen der Empörung schlug, nämlich Im Reich der Sinne. Die Geschichte eines Liebespaares, das seine sexuellen Fantasien rücksichtslos bin in den Tod auslebte, sorgte in den späten 1970er Jahren für einen Skandal. Der Film wurde bei der Aufführung auf der Berlinale beschlagnahmt, in vielen Ländern verboten. Entsprechend widmen sich die meisten der Nachrufe vor allem diesem und seinen wenigen nachfolgenden Werken, wie etwa Merry Christmas Mr. Lawrence mit David Bowie und Takeshi Kitano oder Max, mon amour.
Dabei sind es vor allem seine frühen Filme aus den 1960er Jahren, die mit ihrer Experimentierfreude, ihrer offenen Ablehnung filmischer Konventionen und ihren kontroversen, oft gezielt provozierenden politischen Themen seinen Ruf als wichtigster Vertreter der japanischen New Wave begründeten. Messerscharf sezierte er in diesen Filmen etwa die Scheinheiligkeit der Studentenrevolten gegen den amerikanisch-japanischen Sicherheitspakt, befasste sich mit Fragen von Identität und Vorurteilen gegenüber Minderheiten, mit der Verantwortung des Individuums angesichts des verantwortungslos handelnden Staates, sowie in seinem Meisterwerk Die Zeremonie mit den in der Familie verankerten feudalen Elementen der japanischen Gesellschaft. Diese Filme sind – jedenfalls meiner Meinung nach – interessanter als seine späteren Werke, bei denen das Verhältnis von Sexualität und Macht in den Vordergrund rückt. Welche sich aber offensichtlich sehr viel wirksamer und nachhaltiger auf seinen Ruf auswirkten.
Wer Nagisa Oshima bisher vor allem auf Grund diese Spätwerke kannte, mag seinen Tod vielleicht zum Anlass nehmen, einen Blick auf seine früheren Werke zu werfen – einige der besten sind in der Reihe „Japanische Meisterregisseure“ von polyvideo erschienen. Hier ein kleiner Auszug aus seiner Filmographie:
Das neue Jahr beginnt zwar nicht ganz so dramatisch wie das alte endete, jedenfalls was DVD- und BD-Releases angeht, aber sehen lassen können sich die Pläne meiner Lieblings-Labels dennoch. Was mich persönlich besonders freut, sie scheinen sich dabei auf die 50er Jahre konzentriert zu haben:
Ich freu mich 🙂
Update:
3 Jan
Original: Ikimono no kiroku (1955) von Akira Kurosawa
Der Zahnarzt Harada (Takashi Shimura) ist nebenbei im örtlichen Gericht als Berater in Familienstreitfällen tätig. Eines Tages wird er zu einer höchst ungewöhnlichen Anhörung gerufen: Die Familie des Unternehmers Nakajima (Toshiro Mifune) möchte diesen für unzurechnungsfähig erklären lassen, weil dieser, getrieben von Angst vor der atomaren Verstrahlung, allerlei aberwitzige Pläne verfolgt. So hat er bereits begonnen, einen unterirdischen Schutzbunker bauen zu lassen und will nun die gesamte Familie nach Brasilien emigrieren, wo er bereits eine Plantage gefunden hat.
Während Harada beeindruckt von der Sorge und dem Durchsetzungswillen des alten Patriarchen seine eigene Haltung zu einem möglichen Atomkrieg hinterfragt, bricht in der Familie Nakajima ein übles Hauen und Stechen aus. Denn der Alte bleibt nicht nur stocksteif bei seinem Plan vom Auswandern nach Brasilien. Er will neben seinen ehelichen Kindern und deren Familien gleich auch noch mehrere Geliebte und deren uneheliche Kinder mitnehmen, was die Streitigkeiten um die Zukunft und den Besitz der Familie mit allerlei Eifersüchteleien kräftig befeuert.
Bilanz eines Lebens gehört zu den größten finanziellen Flops in Kurosawas Karriere, obwohl er ein damals hochbrisantes Thema aufgriff: Bei amerikanischen Wasserstoffbombentests auf dem Bikini Atoll im Februar 1954 war der japanische Fischkutter Daigo Fukuryu Maru von radioaktivem Niederschlag kontaminiert worden, ein Seemann kam später ums Leben, zahlreiche andere erkrankten an Krebs. Dieser Vorfall löste nicht nur diplomatische Spannungen mit den USA aus, sondern auch ein gewaltiges Medienecho in Japan. Kurosawa war nicht der einzige Filmemacher, der sich des Themas annahm, sein Kollege und ehemaliger Regie-Assistent Ishiro Honda beispielsweise schuf auf Basis dieser Vorfälle Godzilla.
In der Tat weist der Film einige für Kurosawa ungewöhnliche Eigenheiten auf, so fehlt ihm beispielsweise eine starke, zentrale Heldenfigur, deren Entwicklung den Film trägt. Zwar ist Nakajima die Hauptfigur, wir Zuschauer folgen dem Geschehen aber aus Sicht des neutralen, um Nakajima und dessen Schicksal besorgten Harada. Denn Nakajima, der knallharte Familienpatriarch mit paranoiden Anwandlungen, ist als Identifikationsfigur denkbar ungeeignet.
Seine Rolle ist es vielmehr, Harada – und damit auch uns Zuschauer – zum Zweifeln zu bringen und vor die Frage zu stellen, was eigentlich verrückter ist: Angesichts einer möglichen atomaren Apokalypse vor Angst um die geliebten Angehörigen fast den Verstand zu verlieren und verzweifelt selbst nach den abstrusesten Fluchtmöglichkeiten zu suchen, oder sein Leben einfach unbehelligt weiterzuleben.
Leider fehlt es Bilanz eines Lebens auch an der sonst für Kurosawa so typischen Dynamik, die er immer virtuos in Szene zu setzen wusste. Statt Verfolgungsjagden zu Pferde oder in engen Tokyoter Gassen, statt windumtosten Duellen mit dem Schwert oder dramatischen Appellen vor Gericht bestehen die meisten Szenen aus auf Tatami herumsitzenden und sich gegenseitig Vorwürfe machenden Familienmitgliedern. Spannung will da nicht wirklich aufkommen, zumal beim westlichen Zuschauer, der diese ganzen gegenseitigen Abhängigkeiten, Loyalitätsbeziehungen und Erwartungen einer konservativen Familie im Japan der 1950er Jahre überhaupt nicht nachvollziehen kann.
Entsprechend des häuslichen, an die Familienheimstätte gebundenen Kontextes der meisten Szenen gibt es – ebenfalls untypisch für Kurosawa – auch wenig einprägsame Bilder, die im Gedächtnis bleiben. Die Kompositionen sind meist darauf ausgerichtet, ein unstetes, einengendes und bedrückendes Gefühl zu erzeugen, und arbeiten dabei mit sehr verschiedenen, teilweise sehr raffinierten Mitteln.
In den häuslichen Familienszenen laufen oft Personen im Vordergrund vorbei oder der Blick auf die Szenerie wird durch etwas anderes wie etwa Möbelstücke versperrt. Die ständig in Bewegung befindlichen Fächer unterstützen dieses Gefühl ebenfalls, und in einer Szene, in der Nakajima eine Geliebte und ihre Familie zum Auswandern zu überreden versucht, wedeln ständig die vom Luftzug bewegten Blätter eines Buches hin- und her.
Zudem taucht immer wieder das ästhetische Motiv des Gefangenseins auf, das manchmal dann auch deutlich weniger subtil unterstrichen wird, wie etwa als eine der Töchter Nakajimas an einem vergitterten Fenster rüttelt (siehe den Screenshot ganz oben), oder als Nakajima schlafend unter einem Moskitonetz gezeigt wird. Eine deutlich interessantere Variation dieses Themas ist dagegen die Verlesung des Antrags auf Unzurechnungsfähigkeit am Gericht, bei dem der Text über die Bilder gelegt wird, wobei durch die Schriftzeichen und Linien des Papiers ebenfalls eine Assoziation an Gitter, Zäune und Gefängnisse entsteht.
Typisch für Kurosawa ist hingegen der Einsatz von Wetterphänomenen und deren prägende Rolle für die Atmosphäre des Films. Ähnlich wie in Ein streunender Hund liegt die ganze Zeit eine dräuende, alles erstickende Sommerhitze über den Szenen und Charakteren, die ständig mit schweißnassen Hemden herumlaufen, sich permanent Luft zufächeln und den Schweiß aus dem Nacken wischen. Regen wie aus Kübeln und kräftige Gewitter dürfen natürlich nicht fehlen und besonders letztere tragen dazu bei, dass Nakajimas Paranoia immer verzehrender wird.
Ein Meilenstein in Kurosawas Werk ist Bilanz eines Lebens in der Hinsicht, dass es sein erster Film war, in dem konsequent mit mehreren Kameras parallel gedreht wurde. Diese aufwändige und für die Schauspieler gewöhnungsbedürftige Drehtechnik hatte der Regisseur im Jahr zuvor für die finale Regenschlacht in Die Sieben Samurai erstmals verwendet, nun kam sie permanent zum Einsatz.
Keine Anpassungsschwierigkeiten hatte dabei offenbar Toshiro Mifune, der eine grandiose Leistung als von Paranoia zerfressenen, aus Angst um seine Familie an deren Widerstand zerbrechenden Patriarchen abliefert. Wer ihn als jungen, aufgedrehten Haudrauf in Die Sieben Samurai gesehen hat, der ja nur ein Jahr zuvor gedreht wurde, wird ihn kaum wieder erkennen!
In Bilanz eines Lebens nahm sich Kurosawa eines hochbrisanten Themas an, und das auf eine für ihn ungewöhnliche Art und mit unüblichen, aber teilweise sehr raffinierten Mitteln. Allein aus diesen Gründen ist der Film interessant, doch leider kommt wegen der bedrückenden Thematik und Stimmung des Films sowie des Mangels an Dynamik sowohl der Handlung als auch der Charakterentwicklung der Unterhaltungsaspekt, der Kurosawa sonst immer so wichtig war, hier zu kurz. Ich würde zwar nicht so weit gehen wie manche Kritiker, die den Film als gescheitert betrachten, aber er gehört meiner Ansicht nach zu den schwächeren Werken des großen Regisseurs.
31 Dez
Wünsche euch allen eine tolle Silvesterparty, einen guten Rutsch und viele großartige Filme in 2013! Lasst es krachen! 🙂