Ein Kurosawa-Buch? Nein, mein Kurosawa-Buch, ein Buch geschrieben von mir! Ein Buch, basierend auf den Filmbesprechungen, die ich hier im Japankino-Blog im Verlauf der letzten gut sechs Jahre veröffentlicht habe und meinem alten Kurosawa-Essay. Das ist das Projekt, das ich gerade mit einem jungen, aufstrebenden Sachbuchverlag plane, auf das ich mich sehr freue, und zu dem ich gerne deine Hilfe hätte!
Wie kannst du mir helfen? Ganz einfach, nimm dir 3 Minuten Zeit und fülle diesen Online-Fragebogen aus. 🙂
Damit hilfst du mir sehr bei der Planung und Vorbereitung der Inhalte, beim Setzen inhaltlicher Schwerpunkte und dabei, ein erstes Gefühl für die Nachfrage nach dem Buch zu bekommen.
Vielen Dank!
PS: Den oben erwähnten Kurosawa-Essay kannst du hier als PDF herunterladen.
12 Dez
Original: Zoku Sugata Sanshiro (1945) von Akira Kurosawa
Fünf Jahre sind vergangen, in denen nicht nur Sanshiro (Susumu Fujita) zu einem der bekanntesten Judo-Kämpfer Japans wurde, sondern die auch die Ablösung von Jujitsu durch Judo als führenden Kampfsport gesehen haben. Als Sanshiro einen Rikscha-Jungen vor einem aggressiven, prügelnden amerikanischen Matrosen beschützt, wird er von dem Jungen erkannt und um Aufnahme in die Judo-Schule gebeten. Doch der Vorfall hat auch die Aufmerksamkeit eines Boxers erregt, der nun gegen Sanshiro antreten will. Als Sanshiro, angewidert von der tierischen Aggressivität des westlichen Sports und seines Publikums, dies ablehnt, hält an seiner Stelle ein heruntergekommener Jujitsu-Kämpfer den Kopf hin und wird übel aufgemischt.
So ist es nun an Sanshiro, die Ehre der japanischen Kampfkunst – und damit die Ehre Japans – wiederherzustellen und den Amerikaner in einem weiteren Kampf zu besiegen. Doch eine viel gefährlichere Auseinandersetzung bahnt sich an, weil Sanshiro von seiner Vergangenheit eingeholt wird: Die Brüder seines Opponenten aus dem ersten Film sind auf Rache aus und fordern Sanshiro zum Duell.
Oberflächlich betrachtet knüpft Kurosawa mit der Fortsetzung unmittelbar an seinen überaus erfolgreichen Debutfilm an, es finden sich in Sanshiro Sugata II zahlreiche visuelle Anspielungen und Parallelen zum Vorgänger. Gleich zu Beginn etwa die Szene, in der sich Sanshiro des prügelnden Matrosen entledigt, indem er ihn ins Hafenbecken befördert, fast eine Kopie der ersten Begegnung Sanshiros mit Meister Yano im ersten Teil. Nur dass nun Sanshiro an die Stelle des Meisters getreten ist, ein häufiges Motiv bei Kurosawa. Auch der finale Endkampf erinnert in seiner Inszenierung stark an den im ersten Teil.
Bei den visuellen Parallelen bleibt es dann aber auch, denn Kurosawa hat diesen Film offensichtlich mit wenig Begeisterung und Herzblut gedreht, war er doch eine reine Auftragsarbeit, die auch der Kriegspropaganda des in den letzten Zügen liegenden Militärregimes dienen sollte. Und das fällt gerade in den Szenen wie oben auf, die den Vergleich mit dem Original haushoch verlieren, uninspiriert und wenig dynamisch daherkommen.
Der Film hat jedoch auch einige starke Momente – er ist immerhin ein Kurosawa – zu denen vor allem die Boxszenen gehören. Hier scheint Kurosawa tatsächlich Spaß und Ehrgeiz gehabt zu haben: Dynamik, schnelle Schnitte, unkonventionelle Perspektiven und am Ende, als Sanshiros Gegner besiegt zu Boden stürzt und das Publikum ungläubig erstarrt, sogar einige an Eisenstein gemahnende Standbilder. Hier gelingt es Kurosawa nochmals an die besten Momente aus dem Original anzuknüpfen.
Zugleich sind dies allerdings auch die Szenen, in denen der propagandistische Charakter des Films am stärksten hervortritt. Die Konfrontation des aufrechten, edlen Kämpfers Sanshiro mit dem blutrünstigen, wilden Amerikaner ist von Klischees geprägt, die Figuren werden zu grotesken Karikaturen verzerrt. Beispielhaft dafür kann der japanische Übersetzer stehen, der Sanshiro zu dem Kampf überredet. In seiner westlichen Kleidung und mit seinem eitlen, überdrehten Gehabe wird dieser zur reinen Witzfigur – die ideologische Botschaft an das Publikum könnte kaum platter sein.
Unter dieser propagandistischen Simplifizierung leiden natürlich die Charaktere ganz massiv, eine Entwicklung findet nicht statt. Sanshiro ist in seiner naiven Gutmütigkeit und Loyalität erstarrt, mit der er Messias-ähnlich die bösen amerikanischen Eindringlinge auf ihren Platz verweist und seine japanischen Kontrahenten auf den Pfad der Tugend zurückführt.
Das Fehlen der sonst für Kurosawa so wichtigen konfliktbehafteten, mit sich selbst ringenden Heldenfigur und die für seine Werke höchst untypische, an simplen „gut und böse“-Schemata orientierte Anlage der Charaktere, sind bei all den anderen Schwächen von Sanshiro Sugata II das eindeutigste Zeichen für das mangelnde Interesse Kurosawas an dem Projekt. Was aber auch einen interessanten Einblick in seine Arbeits- und Denkweise zulässt, ist, dass er trotzdem großen Wert auf eine perfekte Inszenierung legte und seine Darsteller für das finale Duell tatsächlich barfuß auf einem eingeschneiten Berg kämpfen ließ, was ihm sein Hauptdarsteller Susumu Fujita bei jeder späteren Begegnung der beiden wieder aufs Brot schmierte.
In seiner Biographie spricht Kurosawa davon, dass er sich zwingen musste, diesen Film überhaupt zu machen, der rein kommerziell durch den großen Erfolg des Vorgängers motiviert war. Nicht verwunderlich, bedenkt man noch die anti-amerikanischen Anforderungen der Kriegspropaganda. Verglichen mit anderen propagandistischen Machwerken jener Zeit ist Sanshiro Sugata II zwar immer noch ein ordentlicher Film, aber angesichts von Kurosawas Fähigkeiten so schlecht, dass es schwer fällt, hier überhaupt von einem richtigen Kurosawa zu sprechen.
7 Dez
Das Jahr neigt sich dem Ende zu, damit beginnt für die Macher beim JFFH so langsam die heiße Phase. Und das spürt man derzeit auch auf der Facebook-Fanpage des Festivals. In schöner Regelmäßigkeit werden dort derzeit tolle Bilder rund ums Festival und die gezeigten Filme in die Fotogalerie gepostet.
Zu meinen Favoriten gehört einmal dieses knallige Poster für das JFFH2007, das kurzfristig eingestampft werden musste, weil der motivgebende Film wegen ungeklärter Musikrechte abgesagt wurde. Und der folgende fantastische Still mit dem ur-coolen Susumu Terajima aus Brother, einem Klassiker von Takeshi Kitano.
Aber nicht nur solche nostalgisch angehauchten Fotos sind zu sehen, es gibt immer wieder auch Einblicke hinter die Kulissen des Filmfests und – da wird es dann richtig spannend! – Poster von den fürs nächste Jahr geplanten Filmen! Sneakpeek sag ich nur! Also Fan werden und die große Portion Vorfreude auf den nächsten Mai mitnehmen 🙂
Original: Dodesuka-den (1970) von Akira Kurosawa
Eine bunt zusammengewürfelte Gruppe von Bewohnern eines Slums am Rande Tokyos kämpft um das Überleben im Alltag, darunter auch Rokku-chan, ein geistig zurückgebliebener Junge, der in der Illusion lebt, Straßenbahnführer zu sein. Jeden Morgen fährt er seine nicht-existente, dafür aber innig geliebte Bahn – sie ist schon ein etwas älteres Modell und die Wartungsmannschaften lassen sie manchmal links liegen – mit weithin hörbarem „dodeskadendodeskadendodeskaden“-Geratter durch die Müllberge.
Auf seiner Runde begegnen ihm die Familie Sawagami, deren Kinder alle von verschiedenen Männern stammen weil die Mutter eine hochnäsige Schlampe ist, was den Vater aber nicht davon abhält, jedes einzelne aus tiefstem Herzen zu lieben. Oder die befreundeten Ehepaare Masuda und Kawaguchi, die sich im Suff schon mal in der Haustür und im Partner für die Nacht irren, was ihrer Freundschaft aber keinen Abbruch tut.
Weitere Charaktere wären der Bettler, der nur seinen Tagträumen von einem bombastischen Haus nachhängt, während sein kleiner Sohn sich um ihr Überleben kümmert und betteln geht. Oder der einsame, zurückgezogen lebende Mann, dessen eisiges Schweigen ein tiefes, schreckliches Geheimnis zu verbergen scheint, das allen Nachbarn Rätsel aufgibt. Oder das Mädchen Katsuko, das bei seiner Tante lebt und für deren Mann nicht nur Tag und Nacht schuften muss, sondern auch noch von ihm missbraucht wird.
So hat jeder der Slumbewohner sein Päckchen zu schultern, und jeder hat seine Art, damit umzugehen. Für manche ist das Mittel der Alkohol, andere denken an Selbstmord oder geben sich Träumereien hin wie der Bettler. Manche Schicksale sind zum Herzzerreißen wie das von Katsuko, die in ihrer Verzweiflung und Einsamkeit alles in sich hineinfrisst und am Ende den einzigen Menschen, der ihr etwas bedeutet, in einer hysterischen Attacke umzubringen versucht.
Andere wie die beiden dauerbetrunkenen Kumpels sind in ihrer drolligen Tolpatschigkeit einfach lustig. Wieder andere, wie der gehbehinderte und von epileptischen Anfällen geplagte kleine Angestellte, der dennoch immer gut gelaunt und stets hilfsbereit ist, lassen den Zuschauer dann die Niederträchtigkeit und das Elend vergessen und wieder an das Gute im Menschen glauben.
So zeigt der Film einen nahezu zeitlosen Ausschnitt dessen, was Menschsein und menschliches Zusammenleben ausmacht, allerdings mit einem Schwerpunkt eher auf den Tiefen als den Höhen. Die Menschen in Dodeskaden sind tagtäglich mit dem Kampf ums Überleben und um die Wahrung ihrer Menschenwürde konfrontiert und gehen mit dieser Herausforderung völlig unterschiedlich um. Doch der Film bleibt dabei immer in einer bitter-süßen, humoristisch-leichten Stimmung verhaftet, die Kurosawa sehr wichtig war: „Hätte ich diesen Film ganz ernst gedreht, wäre er unerträglich depressiv geworden.“
Diese Stimmung wird zu einem guten Teil mit getragen von den manchmal geradezu aggressiven, unglaublich lebendigen Farben in Kurosawas erstem Farbfilm. Anders als seine prominenten Vorgänger Ozu oder Mizoguchi, die in ihren Farbfilm-Debuts eher zurückhaltend-realistisch und wenig innovativ mit der neuen Technik umgegangen waren, lässt Kurosawa es richtig knallen. Seine Wurzeln in der Malerei werden an vielen Stellen deutlich, nicht zuletzt in der finalen Szene in Rokku-chans über und über mit kindlichen Bildern seiner Straßenbahn behängten Hütte.
Diese beeindruckend farbenfrohen und wunderschön anzusehenden Bilder tragen den Film über weite Strecken, denn eine echte Handlung gibt es nicht und die Charaktere der einzelnen Episoden sind durch nichts – abgesehen von ihrer räumlichen Nähe – miteinander verbunden. So fehlt dem Film auch ein für Spannung sorgender Konflikt, geschweige denn ein Held oder eine sonstige Identifikationsfigur.
Das unterscheidet Dodesukaden denn auch von den thematisch ähnlich gelagerten früheren Filmen Kurosawas, wie Ein wunderschöner Sonntag, Nachtasyl oder Rotbart. Besonders die Parallelen zu Nachtasyl sind an vielen Stellen in der Anlage und Konstellation der Charaktere zu erkennen, ohne dass Dodesukaden dadurch aber an die – wenn auch negative – Kraft, Eindringlichkeit und Leidenschaft des Vorläufers anknüpfen könnte. Vielmehr plätschert der Film über weite Strecken einfach so dahin.
Dodesukaden war nicht nur Kurosawas erster Farbfilm, es war zugleich auch der erste und einzige Film, der vom „Club der vier Ritter“ realisiert wurde, einem Studio, das Kurosawa zusammen mit Keisuke Kinoshita, Masaki Kobayashi und Kon Ichikawa gegründet hatte. Nach Dodesukaden war das Studio denn auch sogleich pleite, weil der farbenfrohe Film beim Publikum durchfiel. Man geht allgemein davon aus, dass diese Enttäuschung und die schwierige Suche nach einem Anschlussprojekt einen erheblichen Anteil an Kurosawas Selbstmordversuch im darauf folgenden Jahr hatten.
Für Kurosawa-Enthusiasten ist Dodeskaden – Menschen im Abseits ein absolutes Must-see, nicht zuletzt wegen der Farbexperimente und der wichtigen Rolle als Bindeglied zwischen den zutiefst humanistisch-optimistischen schwarz-weiß Filmen und den späteren berühmten, an der Menschheit verzweifelnden Schlachtengemälden von Kagemusha und Ran. Und auch wer sich gerne mal ein filmgewordenes expressionistisches Experiment ansehen möchte, wird an diesem Film seine Freude haben.
Dieser Frage geht Hiroshi Tasogawas Buch „All the Emperor’s Men“ nach, und beleuchtet damit einen der spannendsten und mysteriösesten Abschnitte in Leben und Werk des großen Akira Kurosawa. Der sollte die japanischen Szenen im von 20th Century Fox produzierten Film über den Angriff auf Pearl Harbor drehen, eine internationale Zusammenarbeit die für großes Aufsehen und entsprechende Erwartungen sorgte. Doch nach einem guten Jahr wurde Kurosawa von Fox gefeuert, Kinji Fukasaku und Toshio Masuda übernahmen stattdessen die Regie. Was zu diesem unrühmlichen Ende der einst so gefeierten Zusammenarbeit führte, war in den letzten Jahrzehnten steter Anlass für Spekulationen, denen jetzt erstmals fundierte Recherche, Fakten und Interviews entgegen gestellt werden.
Autor Tasogawa war selbst an den Dreharbeiten beteiligt als Übersetzer für Kurosawa und arbeitete später als Journalist. Ideale Voraussetzungen für einen tiefen Einblick in die Hintergründe und eine anspruchsvolle, neutrale Auseinandersetzung mit dieser schwierigen Phase für Kurosawa. Ich habe das Buch noch nicht gelesen, kann also kein eigenes Urteil abgeben. Diese Rezension vom sehr geschätzten Vili Maunula verspricht aber ein großes und wichtiges Werk, siehe das Fazit:
All the Emperor€™s Men is an extremely well written book, which is a joy to read and very difficult to put down. It is thoroughly researched and sets out to give out all the available facts, with Tasogawa€™s ability to juggle the minute details and put them into a coherent narrative nothing short of impressive. More impressive still is that the book does not force feed the reader any specific interpretation about what or who actually went wrong. Instead, it shows that a number of factors were at play with Kurosawa€™s failure to complete the Tora! Tora! Tora! project.
Ich werde mir „All the Emperor’s Men“ auf jeden Fall anschaffen und dann meine Meinung zum Besten geben. Wer bis dahin nicht warten mag, kann inzwischen schon mal selbst bei Amazon zugreifen, das Buch in der gebundenen englischen Fassung kostet 24,99 Euro.
6 Nov
Original: Shinkansen daibakuha (1975) von Junya Sato
Als der Hikari-190 Hochgeschwindigkeitszug in Tokyo mit mehr als 1000 Passagieren abfährt, ahnt noch niemand, dass sich an Bord eine Bombe befindet. Und die ersten Reaktionen der Verantwortlichen auf die Bombendrohung sind gelassen: Schon wieder? Gut, wir halten den Zug an und durchsuchen ihn. Doch der clevere Plan der Bombenleger um ihren Anführer Okita (Ken Takakura) hat das einkalkuliert, ihre Bombe explodiert, sobald der Zug die Geschwindigkeit von 80 km/h unterschreitet!
Während die Bahnchefs zusammen mit dem Zugführer Aoki (Sonny Chiba) die Strecke freiräumen und um jede Minute ringen, bricht unter den Passagieren langsam Unruhe aus: Warum fährt der Zug so langsam? Und warum hält er nicht in Nagoya? Parallel macht sich die Polizei auf die Suche nach den Bombenlegern und nimmt Kontakt mit dem Erpresser auf. Als eine erste Übergabe des geforderten Geldes scheitert und dabei einer der Bombenleger getötet wird, beginnen auch die Verantwortlichen bei der Bahn die Nerven zu verlieren. Nur einer bleibt ganz cool und greift auf Plan B zurück: Okita selbst, denn er hat nichts mehr zu verlieren.
Etwas ganz erstaunliches passiert an dieser Stelle mit dem Film: Er wendet sich von der – ganz den Konventionen des Katastrophen-Genres inklusive hysterischer schwangerer Frau entsprechenden – Handlung um den dahinrasenden Shinkansen ab und der Geschichte Okitas zu. In zahlreichen Flashbacks erfahren wir, dass sein Leben durch den Bankrott seiner Firma und die anschließende Scheidung seiner Frau aus der Bahn geworfen und jeglichen Sinns beraubt wurde. Wie er daraufhin mit zwei Freunden, einem gescheiterten linken Möchtegern-Revolutionär und einem arbeitslosen Jugendlichen, den Plan bis ins kleinste Detail ausheckt. Und wie er nun mit ansehen muss, wie die Polizei sich auf ihre Fährte setzt und einen nach dem anderen zur Strecke bringt.
Durch diese Wendung des Films verlagern sich auch die Sympathien immer mehr in Richtung Okita und seinem Team aus Underdogs und Verlierern vom Rand der Gesellschaft. Dazu trägt auch die Darstellung der Polizei bei, die gemachte Zusagen ignoriert, buchstäblich über Leichen geht und sich bei ihrer Jagd nach den Verbrechern auch nicht allzu sehr um das Schicksal der Passagiere an Bord des Hochgeschwindigkeitszuges zu kümmern scheint.
Nicht viel besser kommen die Verantwortlichen bei der Bahn und die eingeschalteten Politiker weg, denen es vor allem darum geht, ihr Gesicht zu wahren. Zwischen raffinierten, spannend inszenierten Geldübergaben, Verfolgungsjagden und Versteckspiel mit der Polizei verschwimmen so nach und nach die Grenzen zwischen gut und böse und verkehren sich in das Gegenteil des erwarteten, allgemein üblichen Schemas. Ein Aspekt, mit dem mich The Bullet Train sehr positive überraschte und der ihn aus der Masse der Katastrophenfilme weit heraushebt.
Wobei der Film in Ken Takakura natürlich auch einen großartigen Hauptdarsteller zu bieten hat. Kaum jemand kann so wie er den grüblerischen, von der Welt und den Menschen enttäuschten und verlassenen einsamen Wolf geben, der langsam aber sicher immer weiter in die Enge getrieben wird. Sonny Chiba, der groß angekündigt wird, spielt dagegen nur eine Nebenrolle.
Die Kamera ist viel in Bewegung und ganz nah an den Akteuren dran, bis hin zu extremen Nahaufnahmen wie man sie besonders aus den Italo-Western kennt. Diese Realitätsnähe scheint zu den Markenzeichen von Regisseur Junya Sato gehört zu haben, der ähnlich wie Kinji Fukasaku mit knallharten und „systemkritischen“ Yakuza-Filmen bekannt wurde, was ich mir angesichts der Ausrichtung von The Bullet Train sehr gut vorstellen kann. In den 70er Jahren gehörte er dann zu den kommerziell erfolgreichsten Filmemachern seines Landes, besonders in der Zusammenarbeit mit seinem Star Takakura.
Auch stilistisch bietet der Film deutlich mehr als nur dröge Action-Alltagskost. Frosch- und Vogelperspektive kommen häufig zum Einsatz und immer wieder auch die verkantete Kamera, was besonders im Zusammenspiel mit den Erinnerungen Okitas an seine zerbrechende Ehe (siehe den Screenshot oben) einen starken Eindruck hinterlässt und die zerbrechende Welt des Charakters schön wiederspiegelt und versinnbildlicht.
Problematisch ist, dass der Film auf zu vielen Hochzeiten gleichzeitig tanzt: Die ausführliche Entwicklung von Okitas persönlicher, auch familiärer Story, die Ermittlungen der Polizei und der Kampf der Menschen an Bord des Zuges sind dann vielleicht doch etwas zu viel des Guten. Das sieht man auch der Laufzeit von ca. 150 Minuten an, hier wäre etwas mehr Fokus wünschenswert gewesen. Ansonsten aber ein sehr guter und erfreulich anderer Action- und Katastrophenfilm der 70er Jahre, mit entsprechend knalligem Soundtrack und trotz der Länge hohem Unterhaltungswert. nicht umsonst dienter er 20 Jahre später als Inspiration für den Blockbuster Speed.
Die Weihnachtszeit steht bevor, und wer sich selbst das eine oder andere Film-Geschenk machen will, sollte besser einen amerikanischen (oder codefree) Bluray-Player zuhause stehen haben, denn es gibt Nachrichten von der anderen Seite des Teichs:
Mit diesen Knallern können die europäischen Labels nicht so ganz mithalten:
Happy Shopping! 🙂
Original: Hoshi o ou kodomo (2011) von Makoto Shinkai
Als die Schülerin Asuna eines Tages von einem merkwürdigen Monster angegriffen und von dem rätselhaften Jungen Shun gerettet wird, beginnt für sie gleich in zweifacher Hinsicht ein großes Abenteuer: Sie verliebt sich in Shun, der kurz darauf jedoch tot aufgefunden wird. Und dann begegnet sie seinem Bruder Shin, der sie und den undurchsichtigen Morisaki, ein Lehrer Asunas, in die sagenumwobene Welt Agartha führt, in deren Zentrum sich das Tor zwischen Leben und Tod befindet.
Darauf hat Morisaki es abgesehen, der den Tod seiner Frau nicht verwinden konnte und sie mit der Kraft dieses Tores wieder zurück zu den Lebenden holen will. Auch Asuna hatte einen Verlust zu verdauen, ihr Vater starb als sie noch ein kleines Kind war. Doch für sie geht es zunächst einmal darum, selbst am Leben zu bleiben, denn sie wird von furchterregenden Schattenwesen entführt, und auch andere Bewohner Agarthas sind über die Eindringlinge alles andere als erfreut. Doch Shin eilt ihr zu Hilfe.
Grandiose, in atemberaubend schönen Bildern erzählte Geschichten von auseinander gerissenen Liebenden, die ihrer großen Liebe nachtrauern und sich vor Sehnsucht verzehren, sind das Markenzeichen Makoto Shinkais. Wie kein anderer vermag er es, mit seinen überwältigenden Landschaftsbildern und Lichtspielen Gefühle und Stimmungen wie Nostalgie, Einsamkeit, Freude, Trauer auf die Leinwand und in die Herzen der Zuschauer zu zaubern.
Auch in Children who chase lost voices wartet der Regisseur mit einer unvergleichlichen Bilderpracht auf, die seine vorherigen Filme nochmals in den Schatten stellt. Allerdings gelingt es ihm diesmal nicht, diese zu einer den Film atmosphärisch prägenden Gesamtheit zu verweben. Die im Vergleich zu seinen vorherigen Filmen sehr auf Abenteuer, Action und Spannung getrimmte Handlung steht dieses Mal einfach zu sehr im Zentrum des Films, was diesem leider nicht gut tut.
Denn in der spektakulären Bilderflut und dem Auf und Ab der von Höhepunkt zu Höhepunkt eilenden Handlung kommt leider das zu kurz, was seine früheren Filme so unvergleichlich machte: Die langsamen, atmosphärischen Momente, in denen wir Zuschauer uns in die Charaktere hineinversetzen und ihre Zerrissenheit, ihre Sehnsucht nachempfinden konnten. Weil dies fehlt, ist speziell Morisakis Motivation für seine fanatische Suche nach dem Tor von Leben und Tod nur schwer nachzuvollziehen. Es gibt nur einen einzigen Flashback, in dem er mit seiner Frau zu sehen ist. Da ist es schwer, Nachzufühlen was in ihm vorgeht.
Doch um diese Schwäche wirklich wahrzunehmen musste ich den Film erst ein zweites Mal sehen, denn beim ersten Mal war ich so hingerissen von den liebevoll und bis ins letzte Detail perfektionistisch gestalteten Bildern. Ein Detail, das mir gleich an mehreren Stellen auffiel, waren im Sonnenlicht tanzende Staubpartikel! Und es gab Momente, in denen ganze Schwärme von Vögeln im Hintergrund wild durcheinander wirbelten, ohne Bezug zur Handlung oder den Charakteren, einfach so, weil sie zu dieser Welt dazu gehören. Diese außerordentliche Liebe zum Detail hebt Shinkai von so gut wie allen anderen Anime-Machern der Gegenwart ab.
Doch so wunderschön die Bilder auch anzusehen sind, eines muss man doch konstatieren: Immer wieder wirkt Children who chase lost voices wie ein Sammelsurium an Ideen und Story-Elementen, die man so oder so ähnlich schon mal wo gesehen hat. Die Handlung selbst nimmt zahllose Anleihen sowohl bei klassischen Sagen und Mythen als auch bei anderen Anime aus dem Abenteuer-Genre, wie etwa Prinzessin Mononoke oder Das Schloss im Himmel. Dazu gehören beispielsweise der Quetzalcoatl, der frappierend wie eine Mischung aus Ohngesicht und dem wild mutierenden Akira wirkt, das fliegende Götterschiff, der blau funkelnde Clavis, das Tor zwischen Leben und Tod in Form einer großen, schwarzen Kugel und vieles mehr.
Der Screenshot oben beispielsweise, der Asuna beim Erledigen von Einkäufen im Dorf zeigt, könnte ohne Weiteres auch aus Mein Nachbar Totoro stammen, während ich mich bei anderen teilweise an Heidi erinnert fühlte. So erschienen mir manche Teile des Films fast wie ein Bewerbungsschreiben beim Studio Ghibli. Diese ständigen Versatzstücke oder Anleihen, die Erinnerungen an andere Filme wecken, lassen den Film bei all seiner Bilderpracht und Detailversessenheit leider nicht besonders innovativ erscheinen.
Man möge mich bitte nicht missverstehen: Children who chase lost voices ist ein unterhaltsamer, berauschend anzusehender Film. Und ich rechne es Makoto Shinkai hoch an, dass er sich einerseits an einem neuen Genre versucht, sich zugleich aber auch treu bleiben möchte. Der Spagat ist ihm allerdings nicht besonders überzeugend gelungen, der Film wird zu sehr vom Plot voran getrieben, weshalb vieles von dem, was seine früheren Filme so herausragend atmosphärisch und gefühlvoll machte, hier fehlt. Wie alles von Shinkai aber dennoch ein absolut sehenswerter Film.